Ärzte sehen sich im Laufe ihrer Karriere mit zahlreichen schwierigen Entscheidungen konfrontiert. Manchmal geht es darum, ob das Leben eines Patienten verlängert oder beendet werden sollte; ein andermal kommt es zu überhitzten Debatten zwischen Medizinern mit unterschiedlichen Wertvorstellungen. In dieser Umfrage äußerten sich 285 deutsche Ärzte zu den kontroversesten Themen der Medizin.

Nur ein Drittel der deutschen Ärzte würde die Risiken eines Verfahrens weniger offensiv beschreiben, um einen Patienten zur Einwilligung zu veranlassen, Allgemeinmediziner etwas häufiger als Fachärzte. Mit dem Konzept des mündigen Patienten ist auch diese Art der Beeinflussung nur schwer vereinbar.

Deutsche Ärzte neigen eher dazu, eine Behandlung auch gegen den Wunsch der Familie fortzusetzen, wenn sie eine Chance zur Genesung des Patienten sehen. Allerdings macht es ein Drittel von den Umständen abhängig. Ältere Ärzte würden eher so verfahren als ihre jüngeren Kollegen. Offenbar sehen sich die Ärzte mehr als Anwalt des Patienten und fühlen sich nicht so sehr der Familie verpflichtet.

Nur einer von fünf deutschen Ärzten wäre bereit, einem Patienten auf Wunsch der Familie Informationen vorzuenthalten, wobei es auch hier eine große Gruppe von der Situation abhängig machen würde. Auch das zeigt, wie sehr sich deutsche Ärzte dem Patienten und weniger den Angehörigen verpflichtet fühlen. Die Zeiten, als man den Kranken schonen wollte und die Wahrheit nur der Familie erzählte, scheint für die Mehrheit der Ärzte vorbei zu sein.

Einer von drei deutschen Ärzten kann sich Situationen vorstellen, in denen es vertretbar wäre, einen Fehler nicht einzugestehen, so lange der Patient nicht zu Schaden gekommen ist - Fachärzte häufiger als Allgemeinmediziner. Inwieweit es gerechtfertigt ist, einen Fehler zu vertuschen, auch wenn niemand zu Schaden gekommen ist, ist eine sehr schwierige Fragestellung. Denn es geht einerseits um das Prinzip der Wahrhaftigkeit, aber andererseits auch darum, Patienten nicht unnötig zu verunsichern, wenn ihnen ein Fehler gestanden wird, der keine Folgen hatte.

Besonders männliche Ärzte und solche über 40 sind der Überzeugung, dass es nicht immer notwendig ist, einen Fehler einzugestehen, wenn der Patient nicht zu Schaden gekommen ist. Das könnte ein Relikt aus der Zeit sein, als die Medizin noch paternalistisch war und der Arzt grundsätzlich zu wissen glaubte, was für den Patienten gut ist.

Wenn durch einen Fehler ein Patient zu Schaden gekommen ist, halten es nur 12% der deutschen Ärzte für vertretbar, ihn nicht einzugestehen. Das ist ein eindeutiger moralischer Standpunkt. Fehler, die Patienten schädigen, sollten nicht verborgen werden. Selbst für ein „kommt auf die Situation an”, entscheidet sich nur ein geringer Teil der Befragten.

Es ist klar, dass auch ein Placeboeffekt Heilungsprozesse günstig beeinflussen kann. Beharrt ein Patient auf ein Medikament, das aus wissenschaftlicher Sicht unwirksam ist, dürfte er zumindest eine innere Erwartungshaltung haben, die einen solchen Placeboeffekt begünstigt. Trotzdem wäre nur ein Drittel der deutschen Ärzte bereit, das Mittel in einem solchen Fall zu rezeptieren.

Die Behandlungskosten und ihre Eindämmung sind ein Dauerthema in den Gesundheitsdebatten. Krankenversicherungen nehmen niedergelassene Ärzte und zunehmend auch Kliniken in die Pflicht, um Kosten zu sparen. Von diesem Druck lässt sich nur ein Fünftel der Befragten beeinflussen, während 44 % sogar eine Bestrafung für Budgetüberschreitungen in Kauf nehmen würden. Auch in der Kostendebatte sehen sich viele Ärzte offenbar stärker ihren Patienten verpflichtet und nicht den Kostenträgern.

Ein klassisches moralisches Dilemma: Was wiegt schwerer, das Vertrauen des Patienten oder die Gefährdung anderer? Etwas mehr als die Hälfte aller deutschen Ärzte hält es für vertretbar, das Vertrauen eines Patienten zu brechen, wenn sich dadurch Schaden von anderen abwenden lässt. Das ist eine deutlich höhere Zahl als in Frankreich.

Bei dieser schwierigen Entscheidung zeigen sich außerdem deutliche Unterschiede nach Geschlecht und Alter: Es sind vor allem männliche Ärzte und diejenigen über 40, die in Betracht ziehen, das Vertrauen des Patienten zu brechen, wenn andere zu Schaden kommen könnten.

Nur einer von fünf deutschen Ärzten meint, dass lebensverlängernde Maßnahmen zu schnell eingestellt werden. In Frankreich sind es deutlich mehr. Bei solchen Ländervergleichen dürfte auch eine Rolle spielen, dass –als Konsequenz aus den Euthanasieverbrechen der Nationalsozialisten – in Deutschland die Bundesärztekammer bei allen Fragen zur Beendigung von Leben eine eindeutige Position eingenommen hat: Deutsche Ärzte sollen grundsätzlich kein Leben beenden.

Nur einer von fünf deutschen Ärzten würde eine lebenserhaltende Therapie durchführen, wenn sie von der Aussichtslosigkeit überzeugt wären. Allerdings neigen Frauen eher dazu als ihre männlichen Kollegen und fast die Hälfte der Befragten machen es von der Situation abhängig.

Fast die Hälfte der deutschen Ärzte findet, dass ein ärztlich assistierter Suizid in manchen Situationen erlaubt sein sollte. Dabei sind es deutlich mehr Fachärzte als Allgemeinmediziner, die diese Ansicht vertreten. Diese hohe Zahl ist besonders interessant, da die Deutsche Ärztekammer aufgrund der unrühmlichen Rolle deutscher Ärzte im Zusammenhang mit den Euthanasieverbrechen im Nationalsozialismus einen ärztlich assistierten Suizid kategorisch ablehnt. Offensichtlich sehen das die Ärzte selbst anders.

Ein Drittel der deutschen Ärzte würde auch in einem solchen Fall das Neugeborene intensiv behandeln. Verglichen mit Frankreich vertreten mehr als doppelt so viele Ärzte in Deutschland diese Auffassung. Auch dieser Unterschied ist sehr wahrscheinlich auf die deutsche Geschichte zurückzuführen. Anders als in der Zeit der Nationalsozialisten möchte die Mehrheit der deutschen Ärzte sich heute nicht mehr zum Herrn über Leben und Tod aufschwingen. In Frankreich gewichtet dagegen mehr als die Hälfte der Befragten das Leid des Neugeborenen stärker.

Insgesamt neigen deutsche Ärzte nicht dazu, jüngere Patienten gegenüber älteren bei knappen oder teuren Behandlungen zu bevorzugen. Ältere Ärzte sind mit ihrem „Nein” deutlich kategorischer als ihre jüngeren Kollegen. Vielleicht können sie sich eher in die älteren Patienten einfühlen.

Ob deutsche Ärzte einem Patienten über dessen nahen Tod informieren würden, hängt deutlich vom eigenen Alter ab: Während junge Ärzte dies mit Zweidrittelmehrheit ablehnen, würden die Hälfte ihrer älteren Kollegen es mit der Wahrheit weniger genau nehmen, wenn sie dafür Hoffnung geben können. Über die Gründe für diesen Unterschied kann nur spekuliert werden. Die größere Erfahrung als Arzt oder die stärkere Empathie mit den Betroffene könnten mögliche Ursachen sein, warum ältere Ärzte bei der Wahrheit eher Zugeständnisse machen, wenn sie dadurch mehr Hoffnung geben können.

Deutsche Ärzte zeigen unterschiedliche Haltungen bei der Frage nach einer Abtreibung, auch wenn diese gegen ihren Glauben verstößt. Deutlich mehr weibliche Ärzte würden in bestimmten Situationen trotzdem einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen. Insgesamt spielt der Glaube nur für knapp 40% der Befragten hier eine entscheidende Rolle.

Selbst wenn es gegen den eigenen Glauben verstößt, würden mindestens die Hälfte der jüngeren deutschen Ärzte (unter 40 Jahre) einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen. Das sind deutlich mehr als bei den älteren Kollegen. Offensichtlich spielt für die älteren Ärzte der Glaube hier eine wichtigere Rolle als für ihre jüngeren Kollegen.

Die Mehrheit deutscher Ärzte findet, dass es von den Umständen abhängt, ob ein später Schwangerschaftsabbruch erlaubt sein sollte. Allerdings lehnt das ein Drittel klar ab. Insgesamt befürwortet knapp jeder Fünfte eine Legalisierung der Spätabtreibung, unter den Frauen sogar nur jede Zehnte.

Ärzte aus den USA und aus Europa, sowohl Mitglieder als auch Nichtmitglieder von Medscape, wurden eingeladen, an einer 15-minütigen Online-Umfrage teilzunehmen. Teilnahmevoraussetzung war die Approbation. Insgesamt beteiligten sich 21.531 Ärzte aus mehr als 25 Fachgebieten, darunter 285 aus Deutschland und 3.984 aus Europa. Die Irrtumswahrscheinlichkeit betrug +/- 0,72% für die US-Teilnehmer und +/- 1,55% für die europäischen Teilnehmer.

Die Innere Medizin ist nur auf den ersten Blick unterrepräsentiert, denn sie ist zusätzlich in 7 Unterspezifikationen vertreten. Insgesamt stellen die Internisten so rund ein Drittel der Teilnehmer. Auch die operativen Fächer sind einzeln aufgeführt. Sie kommen alle zusammen auf 20%.

Während die Altersverteilung mit einem Peak um das 50. Lebensjahr ansonsten recht ausgeglichen und repräsentativ ist, fällt das Übergewicht der Männer auf. Rund drei Viertel der Teilnehmer sind männlich. Dies ist nicht mehr repräsentativ, denn im bundesdeutschen Alltag stellen Frauen 45% der Ärzte – mit steigender Tendenz. (BÄK 2013)

Laut BÄK arbeitet etwa je die Hälfte der Ärzte in Kliniken und in einer Praxis. Somit dürften diese Ergebnisse einem typischen Querschnitt unter deutschen Ärzten entsprechen.
Der Anteil der teilzeittätigen Ärzte (und v.a. Ärztinnen) steigt kontinuierlich, er lag bei der letzten Erhebung der BÄK bei einem Siebtel. Hier ist er niedriger, was möglicherweise auch mit der geringeren Beteiligung von Frauen zu tun hat.

Mitarbeiterinformationen
Autor
Dr. Franz Jürgen Schell
Freiberuflicher Autor
Schell FJ: Finanzielle Zuwendungen als Berater für Novo Nordisk und als Sprecher bzw. Gremienmitglied für Asklepios Klinik; Aktienanteile von Novo Nordisk
Grafik
Jonathan Gomez
Front-End Developer, Medscape
Redakteur
Shari Langemak
Editorial Director, Medscape Deutschland
Langemak S: Es liegen keine Interessenskonflikte vor.
