
Report über ethische Herausforderungen: Was Ärzte über Sex, Alkohol, Behandlungsfehler, Impfpflicht, Sterbehilfe und COVID-19 denken
Die Corona-Krise hat viele neue ethische Grundsatzfragen aufgeworfen. Sie hat die Beschäftigten im Gesundheitsbetrieb gezwungen, Position zu beziehen. Traditionelle Vorstellungen von Best Practice waren plötzlich nicht mehr anwendbar. Sowohl die Ärzteschaft als Kollektiv als auch jeder Einzelne war im Joballtag gefordert, seine Wertvorstellungen zu überprüfen oder vielleicht sogar neu zu definieren.
Im neuen Medscape Ethik-Report 2020 kommen Ärzte* und Ärztinnen zu Wort und äußern ihre Ansichten, die Kollegen und Politik zum Nachdenken anregen. Neben den Fragen zum Umgang mit dem neuen Coronavirus wollten wir wissen, wie Ärzte zum Beispiel mit Impfgegnern umgehen, was sie von Sex mit Patienten halten oder wie sie mit Social Media Daten oder etwa Todkranken umgehen. Auch die Einstellung der Ärzte zu brisanten politischen Themen, wie Masernimpfung und Widerspruchslösung bei der Organspende hat uns interessiert. Jeder 3. Arzt hat etwa schon einmal in der klinischen Praxis einen Fehler vertuscht. Aber kann er sich auch für einen Fehler entschuldigen?
Interessant ist, dass spezialisierte Fachärzte und Ärzte in der hausärztlichen Versorgung häufig anders mit kritischen Situationen umgehen. Ebenso spielt natürlich das Alter oder das Geschlecht eine Rolle – zumindest in machen Fragen. Weil Medscape regelmäßig diese Ethik-Reports durchführt, können wir auch dokumentieren, wie sich die Meinung der Mediziner über die Jahre ändert.
Erhoben wurden die Daten von Januar bis März durch einen Online-Fragebogen mit über 1.000 Teilnehmern. Die Fragen zur Corona-Krise wurden nachträglich im April in 2 Kurzumfragen gestellt. Weitere Informationen zur Methodik der Umfrage – siehe Slide 29.
Lesen Sie nun hier die Antworten und Kommentare Ihrer Kollegen zu Fragen in der Medizin, über die man in der Öffentlichkeit nicht gerne spricht …
* Maskuline Formen schließen feminine Formen in diesem Report stets mit ein. Mit Ärzten sind also auch gleichzeitig Ärztinnen gemeint.
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Über Fehler reden Menschen nicht so gern – und Ärzte schon gleich gar nicht, würde man erwarten. Umso erstaunlicher, dass 68% der Ärzte in unserer Umfrage von sich behaupten können, dass sie noch nie einen Fehler, der ihnen in der klinischen Praxis passiert ist, vertuscht haben. Jeder 3. dagegen gesteht Vertuschungsmanöver ein.
Noch überraschender ist, wie Ärzte mit einem Fehler gegenüber den Patienten umgehen. Eindrucksvolle 87% handeln, wie es sich eigentlich gehört: Sie entschuldigen sich bei ihrem Patienten. Nur jeder 10. hat nicht den Mut dazu.
Eine Pädiaterin aus Berlin erzählt: „Ich kann nicht mit mir leben, wenn ich Fehler nicht zugebe. Glücklicherweise ist mir aber bisher kein fataler Fehler unterlaufen. Einige meiner Fehler haben schon zu Verzögerungen oder Wiederholung von Untersuchungen geführt. Dies habe ich sofort, nicht nur den Eltern, Patienten, sondern auch all meinen Vorgesetzten erzählt. Die Fehler waren durch Übermüdung passiert.”
Ein niedergelassener Pathologe aus Baden-Württemberg gibt zu Bedenken: „Bei schweren Fehlern sollte man sich in Deutschland tatsächlich aus versicherungstechnischen Gründen in Haftungsfällen nicht einfach entschuldigen. Für Lappalien habe ich mich selbstverständlich schon entschuldigt.”
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Klar, romantische Gefühle im Sprechzimmer, das kann passieren. Aber wenn sich ein Arzt oder eine Ärztin in seine Patientin oder ihren Patienten verliebt – inklusive aller denkbaren Gendervariationen – sollte man sich darauf einlassen und auch zusammen ins Bett gehen? Oder schadet dies dem Arzt/Patienten-Verhältnis?
Etwas überraschend: Ein klares „Nein” formulieren nur 44% der Kollegen auf diese brisante Frage zu Sex und Liebesleben mit Patienten. Aber: Zu einem eindeutigen „Ja” zur Liebe im Praxisalltag kann sich auch nur jeder 10. Arzt. bekennen.
Anscheinend bestimmen die Umstände und Zwischentöne den Umgang mit dieser moralisch heiklen Konstellation: 25% könnten sich eine Liebe und/oder Sex generell schon vorstellen – je nach Umständen eben. Weitere 21% würden eine Wartezeit von 6 Monaten akzeptabel finden, bevor sie sich auf eine Beziehung oder Affäre mit Ex-Patienten einlassen.
Eine erfahrene Gynäkologin erklärt ihr moralisches Verständnis so: „Man sollte in einem solchen Fall Patienten nicht mehr behandeln, sondern einen Kollegen hinzuziehen. Und man sollte sich nicht für eine popelige Affäre in diesen Konflikt begeben. Aber es ist doch nichts dagegen einzuwenden, wenn man seinen künftigen Partner im Arbeitsumfeld, und auch als Patient kennen lernt. Es ist ja auch nicht wirklich schlimm, wenn der Referendar 3 Jahre nach dem Abitur die Abiturientin heiratet.“
Fazit: Die große Mehrheit ist offen dafür, wenn man jene dazu zählt, die ihr Verhalten von bestimmen Umständen abhängig machen würden. Ein junger Assistenzarzt in der Chirurgie sagt: „Das kann passieren. Man sollte es vermeiden, aber dies ist bei emotionalen Dingen gelegentlich schwierig.“ Mehrere Kollegen gaben an, dass sie eine Patientin geheiratet hätten.
In unserem Ethik-Report 2017 zeigten Ärzte noch mehr Zurückhaltung: Damals erteilte 54% der Liebe mit Patienten eine klare Absage. Und nur jeder 20. Arzt fand die Vorstellung völlig in Ordnung.
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In den vergangenen Jahren – vor der Corona-Krise und vor der Aufforderung, dass sich Menschen sowieso besser aus dem Weg gehen sollten – war der Umgang der Geschlechter am Arbeitsplatz das große Thema. Aber haben die Diskussionen in den Medien oder der Kantine und die daraus resultierende Achtsamkeit für sexuell übergriffiges Verhalten gegenüber Kollegen „gefühlt” auch Verbesserungen gebracht?
Magere 15% der Kollegen kommen zu dem Schluss, dass sich durch die „MeToo“-Debatte die Einstellung zu sexueller Belästigung in ihrem Arbeitsumfeld zum Besseren verändert hat. Fast die Hälfte ist der Ansicht, dass sie keinen Effekt hatte. Positiv ist vielleicht, dass ein Drittel der Ärzte gar keine sexuelle Belästigung in ihrem Arbeitsumfeld vorfinden.
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Wie gehen Ärzte mit den Kollegen um, die andere drangsalieren, mobben oder sexuell belästigen? Offiziell beim Chef oder den entsprechenden Stellen melden oder lieber wegschauen?
Nur jeder 10. Arzt schaut weg, wenn Mobber oder Belästiger ihr Unwesen treiben. Eine knappe Mehrheit (53%) würde solches Fehlverhalten melden. 37% sind sich nicht ganz sicher und würden je nach Situation entscheiden.
Interessant ist, dass Fachärzte sich stärker für eine Aufklärung solcher Fälle aussprechen. Womöglich weil sie in größeren Praxen oder in einer Klinik arbeiten, in denen Anlaufstellen für solche Beschwerden etabliert sind.
Die Ergebnisse des Medscape-Reports zur sexuellen Belästigung in Praxen und Kliniken zeigte im vergangenen Jahr, dass 15% der Ärzte und Ärztinnen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz bereits beobachtet hatten, weitere 7% hatten solche Übergriffe selbst erlebt.
Die meisten Kommentare zu unserer Umfrage empfehlen, zuerst das Gespräch mit den Beteiligten zu suchen – den Opfern und den Tätern. Eine junge Chirurgin aus einer Klinik in Rheinland-Pfalz wird konkreter: „Mobbing im Krankenhaus ist so häufig geworden, dass eine Meldung dafür meist nicht erfolgt. Man kann nur versuchen, den Betroffenen zu helfen. Übergeordnete Stellen interessieren sich dafür in der Regel nicht. Sexuelle Belästigung muss aus meiner Sicht unbedingt gemeldet werden. Ich selbst habe dies einmal getan, als ich davon erfuhr. Interesse daran gab es nicht.“
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Viele Ärzte kommunizieren aus Datenschutzgründen nicht einmal via Email mit Ihren Patienten. Aber wie gehen Sie mit Twitter, Facebook, WhatsApp oder anderen sozialen Medien um? Brechen die Dämme und teilt man auch über diese Kanäle Patientendaten und tauscht sich mit Patienten oder Kollegen aus?
81% haben dies noch nie getan, so der Durchschnittswert. Aber die Antwort auf diese Frage ist sehr vom Alter abhängig. Jüngere Kollegen unter 45 haben deutlich seltener Bedenken, Patientendaten über Social Media zu teilen. 41% haben dies bereits getan.
Nachdem die Digitalisierungswelle durch Corona auch den Medizinbetrieb erreicht hat und Video-Konferenzen mit Patienten salonfähig geworden sind, könnte sich das ehemalige Tabu noch weiter lockern. Die Daten zu dieser Frage wurden noch vor der Krise erhoben.
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Ärzte haben es in Zeiten von Corona besonders schwer, weil sie nur unbefriedigende Mittel haben, um Patienten zu helfen. Manche müssen sogar ihr Leben riskieren, wenn sie an vorderster Front arbeiten. Aber: Gleichzeitig sind Beschäftigte im Gesundheitswesen selten mit so viel Applaus und Respekt bedacht worden.
Auch unsere Umfrage zeigt, dass die Krise jeden 2. Arzt besonders motiviert. Weil er gebraucht wird.
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Wie groß ist die Angst der Ärzte vor einer Corona-Infektion und wie gehen sie damit um? Mitte April antwortete jeder 10. Arzt in unserer Ergänzungsumfrage für diesen Report zu ethischen Fragen in der Coronakrise, dass er Angst hatte, sich im Job anzustecken und deshalb zu Hause blieb. 34% machen sich zwar Sorgen, würden aber nicht zu Hause bleiben. 13% wären gern zuhause geblieben, konnten aber nicht.
43% dagegen hatten keine Angst vor einer Ansteckung, unter anderem auch, weil sie nicht zu einer Risikogruppe gehörten.
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Wie hoch darf der Preis für den Schutz der Gesundheit sein? An dieser Frage erhitzen sich die Gemüter mehr denn je – auch nach den ersten Lockerungen. Als wir dies Mitte April fragten, setzten 55% der Teilnehmer unserer Umfrage klare Prioritäten: Gesundheit geht vor. 16% sahen dies zu diesem Zeitpunkt nicht so.
Jeder 3. Arzt hätte sich gewünscht, dass man sich mit den Schutzmaßnahmen lieber auf die Risikogruppen fokussiert, sodass etwa nur Menschen, die in Seniorenheimen leben, Ausgangsbeschränkungen auferlegt bekommen. Möglichweise wird dieses Szenario wieder diskutiert, wenn eine 2. Welle anrollt oder in manchen Regionen Deutschlands wieder neue Ausbrüche erkennbar werden.
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Viele Ärzte haben sich in YouTube- und Twitter-Videos dazu geäußert, wie schwierig und schlimm es für sie war, mitanzusehen, wie COVID-19 Patienten allein im Krankenhaus sterben mussten, weil die Angehörigen die Infektionsstationen nicht betreten durften.
So ist auch nicht überraschend, dass nur jeder 10. Arzt es für akzeptabel hält, dass in einer Ausnahmesituation wie der Corona-Krise man dieses ethische Dilemma hinnehmen muss.
Die Mehrzahl der Ärzte würde dafür kämpfen, dass man irgendwie einen Weg findet, damit die Angehörigen Abschied nehmen können.
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Mit einem Blick in die Zukunft wollten wir wissen, wie groß die Risikobereitschaft für mögliche Auswege aus der Krise ist. Die Antwort war eindeutig: 3 Viertel (77%) der Umfrageteilnehmer befürworten, dass Impfstoffe und Medikamente gegen das SARS-CoV-2-Virus durch verkürzte Zulassungen oder mit geringeren Sicherheitsstandards schneller am Patienten zum Einsatz kommen.
Dass dieses Szenario sehr wahrscheinlich ist, zeigen die ersten Berichte (Medscape berichtete) über die schnellen Fortschritte der Impfstudien. Fragt sich nur, wie ein erster Impfstoff von den Patienten angenommen wird.
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Impfungen sind nicht nur als Schutzmaßnahme gegen das neue Coronavirus ein heikles Thema. Bei der Frage „Würden Sie eine Familie behandeln, die empfohlene Impfungen für sich oder ihre Kinder ablehnt?“ hätte man erwarten können, dass viele Ärzte von den Debatten um Impfgegner so genervt sind, dass sie zumindest in dieser anonymen Umfrage für den Rauswurf aus der Sprechstunde stimmen.
Aber das Gegenteil ist der Fall: 65% der Ärzte würden auch Familien behandeln, die sich gegen die Impfung Ihrer Kinder aussprechen. In unserer Medscape-Umfrage zu ethischen Fragen in der Medizin im Jahr 2017 waren Ärzte bei dieser Frage sogar noch toleranter (74%).
Eine Allgemeinmedizinerin aus München sagt: „Ich würde versuchen, die Familie von den Vorteilen der Impfungen zu überzeugen, aber ich würde auch ihre Meinung respektieren, wenn ich sie nicht überzeugen kann.“
Schaut man sich die Auswertung genauer an, zeigt sich, dass immerhin 15% der Niedergelassenen sich die Impfgegner vom Hals wünschen. Ein Allgemeinmediziner, der den Rausschmiss favorisiert, kommentiert: „Die wollen auch sonst nur Voodoo!“ Jeder 4. würde zumindest in manchen Fällen überlegen, diese vor die Tür zu setzen (25%).
Krankenhausärzte können sich dagegen deutlicher weniger vorstellen, Patienten wieder nach Hause zu schicken (11%), nur weil sie Impfungen ablehnen. Verständlich, weil sie darüber wohl eher selten diskutieren müssen.
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Seit 1. März 2020 haben deutsche Gesundheitsbehörden eine Impfpflicht gegen Masern eingeführt. Diese gilt zum Beispiel für Kinder und Personal in Kitas und Schulen, sowie für Beschäftigte in medizinischen Einrichtungen. Im Vorfeld und auch nach Verabschiedung hat das Gesetz für zahlreiche Diskussionen gesorgt (Medscape berichtete). Viele Arbeitgeber kämpfen noch mit der Umsetzung, etwa wenn sich Angestellte in Praxen oder Kindergärten einer Impfung verweigern, oder wenn deren Immunstatus nicht geklärt ist.
Befürworten Sie das neue Gesetz, wollten wir von unseren Lesern wissen. Die große Mehrheit (85%) findet in unserer Umfrage die Vorschrift gut. Nur jeder 10. Arzt ist dagegen. Allerdings fällt auf, dass in der Gruppe der Hausärzte doppelt so viele (22%) sich gegen die Einmischung des Gesetzgebers aussprechen.
Ein Befürworter, ein junger Assistenzarzt, sagt in den Kommentaren: „Das Gesetz ist eine schon längst überfällige Maßnahme um eine wissenschaftlich begründete Intervention erfolgreich durchzuführen. In einer Gesellschaft bestehen nicht nur Rechte, sondern durchaus auch Pflichten. Dass im Rahmen von objektiven Diskussionen emotionalen Argumenten der gleiche Stellenwert wie wissenschaftlichen eingeräumt wird, hat mich schon immer schockiert.“
Ein Gegner, ein Anästhesist in einem Krankenhaus in Baden-Württemberg, äußert sich so: „Es gibt keinen Vorteil durch die Verpflichtung, Sanktionen sind sinnlos. Impfen sollte einfach in den Kindergärten und Schulen durchgeführt werden. Wer das nicht möchte, sollte das aktiv der Schule mitteilen. Dadurch erreicht man das nötige Quorum von >95% für einen sicheren Bevölkerungsschutz.“
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Wenn es um die eigene Haut geht, sind Ärzte in der Diskussion um Pflichtimpfungen durchaus ambivalenter, scheint es. Selbst wenn sie häufigen Patientenkontakt haben, befürworten erstaunlicherweise nur 41% der Ärzte eine jährliche Pflichtimpfung gegen Grippe. Der Großteil (47%) ist sogar dagegen.
Immerhin: Im Vergleich zur Medscape-Umfrage 2017 sind heutzutage die Ärzte deutlich offener gegenüber einer Influenza-Impfpflicht für die eigene Zunft. Damals waren sogar 62% der Ärzte dagegen.
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In Deutschland taucht diese Diskussion immer wieder auf. Zum Beispiel, wenn teure Behandlungen – etwa eine moderne, zielgerichtete Lungenkrebstherapie oder das Management von Spätfolgen von Übergewicht – von der Krankenkasse bezahlt werden. Für Leiden die möglicherweise vermeidbar gewesen wären.
Unser Solidarsystem in der Krankenversorgung bewahrt uns (noch) vor der schwierigen Frage, wo man genau die Grenzen zwischen gesundem und ungesundem Verhalten ziehen muss. Denn auch ein Raucher könnte seinen Lungenkrebs nicht durch Zigaretten bekommen haben, sondern als Folge seines jahrelangen Jobs an einem staubigen, giftbelastenden Arbeitsplatz, etwa im Mauthäuschen an einer Autobahn. Valide Kausalitätsbeweise sind selten durchführbar.
Trotzdem befürworten hier 37% der Teilnehmer, dass man den Patienten mehr in die Verantwortung nehmen muss und er für sein Risikoverhalten höhere Beträge in den gemeinsamen Geldtopf einzahlen soll. 21% erwägen dies und meinen, es käme auf den jeweiligen Fall an.
42% sprechen sich klar für das System aus, das wir im Moment in Deutschland haben. Sie sagen „Nein“ zu „Strafzahlungen“ für riskantes Gesundheitsverhalten. Ärzte im Krankenhaus (46%) lehnen dies noch eindeutiger ab als Niedergelassene (36%).
Sehr einleuchtend ist das Argument, was ein Arzt in den Kommentaren zur Umfrage anführt: „Viele Menschen sind nicht in der Lage, die Behandlungsempfehlungen zu befolgen, etwa wegen psychischen Belastungen, Ängsten vor negativen Begleiterscheinungen oder Nichtverstehen von ärztlichen Empfehlungen.“
Zum Vergleich unsere Umfrage aus dem Jahr 2017: Damals befürworteten 26%, dass ungesundes Verhalten mit höheren Beiträgen zur Krankenkasse einhergehen sollte. Ähnlich viele wie im Jahr 2020 sagten damals „Nein“ (44%). Dafür waren mehr unentschieden (29%). In Medscape-Ethik-Umfragen in Frankreich und in den USA antworteten rund doppelt so viele Mediziner, dass Patienten, die einen ungesunden Lebenswandel pflegen, stärker zur Kasse gebeten werden sollten.
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Ein weiteres ethisch und politisch hoch brisantes Thema war in den vergangenen Monaten ein neues Gesetz zur Organspende, mit dem Ziel, die Verfügbarkeit von Spenderorganen zu verbessern (Medscape berichtete).
Schließlich blieb die Revolution aus und der Bundestag stimmte nur für geringfügige Änderungen, so dass es weiterhin bei der bisherigen Verfahrensweise bleibt: Nur eine ausdrückliche Zustimmung (etwa mit einem Organspendeausweis) macht Menschen zum Organspender.
Diese Umfrage zeigt überraschend, dass eine knappe Mehrheit (56%) der Ärzte die – auch in weiten Teilen Europas übliche – Widerspruchslösung favorisiert. Vor 3 Jahren waren es laut unserer Medscape-Umfrage sogar noch mehr (63%).
Die Ärzte stehen also eher nicht hinter dem derzeit gültigen Organspende-Gesetz. Womöglich, weil Sie sich von der Zustimmungslösung auch erwartet hätten, dass so mehr Ihrer Patienten, die ein Spenderorgan benötigen, geholfen werden könnte. Interessant ist, dass vor allem jüngere Umfrageteilnehmer (unter 45 Jahre) die Widerspruchslösung (68%) und damit ein neues Gesetz bevorzugt hätten.
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Patienten zu motivieren, ist eine der größten Herausforderungen im Arbeitsalltag von Ärzten. Vor allem, wenn die Zeit für Gespräche so kurz bemessen ist. Wir wollten wissen, wie weit Ärzte gehen und stellten die Frage: Würden Sie einem Patienten oder einer Patientin die Risiken einer Behandlung oder eines Eingriffs weniger deutlich beschreiben, um ihn oder sie zur Einwilligung zu ermuntern?
Beruhigend: Nur jeder 20. Arzt gab an, dass er es in Ordnung findet, einen Patienten nicht vollständig aufzuklären, um ihn für eine Behandlung oder einen Eingriff zu motivieren. Fast jeder 5. würde dies immerhin erwägen, je nach den Begleitumständen. Über 2 Drittel würde diese heikle Gradwanderung ablehnen und beantworteten diese Frage klar mit: Nein!
Der Chef einer Gemeinschaftspraxis in Nordrhein-Westfalen macht deutlich: „Eine solche Einwilligung wäre ungültig und meine Aufklärung ein Kunstfehler. Es bliebe nur die Hoffnung, nicht erwischt zu werden. Ich bin allen Kollegen dankbar, die mich vollständig über Risiken aufgeklärt haben.“
Zahlreiche Anästhesisten, die häufig Aufklärungsgespräche führen müssen, haben sich in den Kommentaren zu Wort gemeldet. „Da der Patient am Ende die Konsequenzen zu tragen hat, muss er die Möglichkeit haben, bestens informiert in den Eingriff einzuwilligen bzw. diesen abzulehnen“, sagt ein junger Kollege.
Ein Anästhesist aus einem Krankenhaus in Bayern würde eine weniger deutliche Aufklärung in Erwägung ziehen, „wenn der Patient dies selbst ausdrücklich wünscht.“ Oder, so ein erfahrener Kliniker: „Nur in extrem seltenen Ausnahmefällen darf man Infos zurückhalten, etwa wenn Patienten psychisch nicht in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen oder zu tragen.“
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Jeder 10. Arzt hatte schon einmal den Verdacht, dass eine Patientin oder ein Patient Opfer von häuslichem Missbrauch oder einer Misshandlung gewesen sein könnte und hat dies nicht gemeldet oder ist seinem Verdacht nicht weiter nachgegangen.
Alarmierend ist die Situation unter den Hausärzten. Jeder 5. befand sich schon einmal in einem solchen Dilemma und hat nicht reagiert. Unter Fachärzten war es nur jeder 10.
Ein Internist in einer Gemeinschaftspraxis aus Sachsen hat auch schon Verdachtsfälle in seiner Praxis gehabt, die er nicht gemeldet hat. Er sagt: „Es fällt mir schwer, meine PatientInnen direkt auf Missbrauch anzusprechen, aber ich biete im Gespräch an, dass ich Ansprechperson bin und habe Info-Material ausliegen.“ In vielen Kommentaren erklärten Ärzte, dass sie helfen wollten, aber der Patient dies ablehnte.
Eine niedergelassene Ärztin erzählt: „Ich habe einen Misshandlungsfall bei einer erwachsenen Frau nicht gemeldet, weil das Einverständnis der Patientin nicht vorlag. Meine Erfahrung ist, dass die Meldung gegen den Willen der Patientin dazu führt, dass diese im Nachhinein den Missbrauch leugnet. Sinnvoller finde ich, die Patientin zu bestärken, sich zu wehren bzw. die Missbrauchssituation zu verlassen und über entsprechende Hilfen zu beraten.“
Ein Kollege fordert jedoch: „Dass eine Frau mit zahlreichen Hämatomen, bei denen alle Alarmglocken anspringen sollten, mit einer Heparin-Salbe die Praxis verlässt...das geht gar nicht!“
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Eine Legalisierung eines ärztlich assistierten Suizids oder ärztlich assistiertes Sterben für unheilbar Kranke lehnen nur 31% der Ärzte dieser Umfrage eindeutig ab.
Die Mehrheit ist entweder eindeutig für eine Legalisierung (45%) oder kann sich dies zumindest unter bestimmten Umständen vorstellen. Überraschend ist die Nuance, dass niedergelassene Ärzte (51%) sogar noch mehr für eine Gesetzesänderung stimmen als Klinikärzte (40%), die ja womöglich häufiger mit unheilbar Kranken zu tun haben.
Eine Neurologin in Weiterbildung sagt: „Zu einem selbstbestimmten Leben gehört ein selbstbestimmtes und v.a. ein Ende mit möglichst wenig Leiden.“ Auch ein Kollege aus einer onkologischen Gemeinschaftspraxis findet klare Worte dafür: „Definitiv legalisieren, denn gerade in der Onkologie vegetieren viele Patienten nur noch vor sich hin und wollen eigentlich sterben, da sie kaum noch Sachen allein machen können.“
In unserer Medscape-Umfrage vor 3 Jahren waren die Befürworter von Sterbehilfe noch in der Minderzahl. Nur 33% der Ärzte wünschten sich, dass ärztlich unterstützter Suizid erlaubt ist.
Anders sieht es aus, wenn die Patienten zwar ein unheilbares Leiden haben und sterben wollen, die Krankheit aber nur sehr langsam voranschreitet. Da machen Ärzte in der Mehrzahl nicht mit: Nur 15% (Daten nicht graphisch dargestellt) befürworten in solchen langwierigen, tödlichen Verläufen, dass ein Arzt beim Sterben assistiert.
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Der Umgang mit Todkranken bringt viele Ärzte in Gewissenskonflikte. Wenn schon keine Sterbehilfe erlaubt ist, sollte man dann wenigstens mit allen Mitteln die Moral und den Durchhaltewillen von Patienten stärken, notfalls den Todkranken auch Informationen über eine terminale oder präterminale Diagnose vorenthalten? Und sollte man sie darin unterstützen, jedes Medikament auszuprobieren, welches sie sich wünschen?
Jeder 4. Arzt lässt sich auf einen Schlingerkurs in heiklen Gesprächen mit Todgeweihten ein. 66% der Ärzte halten schlechte Nachrichten jedoch nicht zurück und reden Tacheles. Nur knapp jeder 10. Arzt würde selektive Informationen bei unheilvoller Perspektive befürworten.
Ein Pädiater aus Baden-Württemberg stellt klar: „Ehrlichkeit währt am längsten. Dies ist eine grundsätzliche Frage des Arzt-Patient Verhältnisses.“ Ein Orthopäde aus Sachsen favorisiert dieses Vorgehen: „Wenn ein Patient seine schlechte Perspektive verdrängen will, muss man es akzeptieren, aber man sollte mit ihm in Kontakt bleiben und später wieder versuchen ihm die Lage klar zu machen.“
Allerdings sind Hausärzte offener dafür, ihre Patienten mit der Wahrheit zu verschonen. 17% statt 8% bei Fachärzten würden Informationen zu einer terminalen Diagnose zurückhalten. Möglicherweise, um ihre Patienten, die sie wahrscheinlich über viele Jahre kennen, nicht zu sehr zu deprimieren?
Mehr als ein Drittel der Ärzte sind zudem der Meinung, dass es todkranken Patienten erlaubt sein sollte, jedes Mittel oder jede mögliche Behandlung auszuprobieren, die sie sich wünschen.
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Ein Patient, der in die Sprechstunde kommt, will mit einem Rezept nach Hause gehen, so das Klischee. Und wie reagieren dann die Ärzte, wollten wir wissen und stellten die Frage: „Würden Sie Patienten, die eine Therapie einfordern, obwohl sie diese nicht bräuchten, ein Placebo – einschließlich Homöopathie – verschreiben – vorausgesetzt es schadet dem Patienten nicht?“
Radikal „Nein“ sagen dazu nur knapp die Hälfte aller Ärzte (45%). Der Rest würde ein Placebo je nach Umständen erwägen (20%) oder sieht dies generell locker (35%). Noch positiver gegenüber solchen Scheinbehandlungen sind junge Ärzte in der Ausbildung. In dieser Gruppe sind 47% für Placebo-Rezepte und nur 32% dagegen.
Spielt die Homöopathie in der Medizin überhaupt noch eine Rolle? Überraschenderweise verteilt sich die Meinung der Teilnehmer genau wie in der Placebo-Frage: Nur 45% der Ärzte halten die Homöopathie für passé. 35% nehmen eine positive Haltung zu Kügelchen und Co. ein, Frauen (42%) mehr als Männer (32%) und Hausärzte (46%) mehr als Spezialisten (33%). Der Rest (20%) ist weniger apodiktisch und würde je nach Fall entscheiden.
Eine Allgemeinmedizinerin erklärt in den Kommentaren ihr Vorgehen so: „Homöopathie hilft bei einigen Patienten sehr gut und ist auch für Schwangere und kleine Kinder prima. Auch wenn nur der Placebo-Effekt greift, so lange der Patient glücklicher ist als ohne und keine Gefahr droht, ist für mich alles gut.“ Ein Assistenzarzt an einer Klinik in Baden-Württemberg ist weniger kompromissbereit: „Unwissenschaftlicher und durch Daten in keiner Weise belegter Schamanismus sollte in der heutigen Zeit keinen Stellenwert haben.“
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Viele Menschen bestehen auf das Recht auf Nichtwissen. Wenn in einer Familie eine genetisch bedingte Krankheit vorliegt, für die es keine vorbeugende Behandlung gibt, kann das Ergebnis eines positiven Gentests psychisch sehr belastend sein. Für den Arzt ist das Zurückhalten der Ergebnisse heikel, weil er dann als Wissender das Gefühl hat, eine Verantwortung dafür mitübernehmen zu müssen.
Dies mag einer der Gründe sein, warum doch sehr viele Teilnehmer (72%) wenig mit dem Recht auf Nichtwissen anfangen können. Sie beantworteten die Frage „Wenn bei Ihrem Patienten oder Ihrer Patientin Gentests durchgeführt wurden und festgestellt wurde, dass er (sie) einen genetischen Marker für eine Krankheit aufweist, für die es keine vorbeugende Behandlung gibt, ist es richtig, diese Informationen zurückzuhalten?“ klar mit „nein“. Nur 4% halten es für richtig, solche schicksalsbestimmenden Ergebnisse zurückzuhalten.
Umso wichtiger ist der Vorschlag einer Orthopädin aus Bayern: „VOR der Genuntersuchung sollte besprochen werden, wie bei einem positiven Test mit den Informationen umgegangen werden soll.“
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Die Schweigepflicht ist eigentlich unumstößlich. Oder ist es doch akzeptabel, sie zu brechen, wenn Sie als Arzt wissen, dass der Gesundheitszustand Ihres Patienten oder Ihrer Patientin, zum Beispiel durch eine übertragbare Krankheit, anderen Schaden zufügen könnte?
Die große Mehrheit würde sie in einem solchen Fall brechen. 57% der Ärzte sind klar dafür, 31% würden sich je nach den Umständen dafür entscheiden können. Nur 12% der Ärzte würden das riskante Wissen für sich behalten.
Ein Pneumologe aus Schleswig-Holstein sagt: „Ich würde den Patienten über die strafrechtlichen Konsequenzen seines Handelns aufklären und bei eindeutigen Hinweisen des Zuwiderhandelns damit drohen, ihn anzuzeigen – zum Beispiel bei Fahruntauglichkeit.“
Aufklärung steht auch bei einem Urologen aus Niedersachsen an erster Stelle: „Der Patient muss die Gefahr wirklich verstehen. Sonst frage ich ihn, ob ich seiner Familie oder zumindest einer Person seines Vertrauens das Problem mitteilen kann. Bei gewissen Sachen besteht Meldepflicht.“
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Stellen Sie sich folgende Szene vor: Sie sind im Rahmen eines Kongresses zu einem Dinner eingeladen in einem teuren Hotel und halten vor dem Essen einen kleinen Vortrag zur Einführung eines neuen Medikaments – gegen ein hübsches Honorar. Würde Sie dieser Event später in Ihren Verschreibungsgewohnheiten beeinflussen, wollten wir wissen?
68% der Kollegen geben zu, dass eine solche Veranstaltung, das Honorar, die Einladung und der Kontakt zur Firma eine Auswirkung auf ihr Verhalten haben würde. 22% halten sich für unbestechlich.
Eine junge Dermatologin aus einer Klinik in Nordrhein-Westfalen kommentiert: „Ohne Pharmaunternehmen könnten keine Fortbildungen/Kongresse für Ärzte bezahlt werden. Ohne Fortbildungen für Ärzte hätte man schlechter ausgebildete Ärzte. Die Ausbildung der Assistenzärzte ist durch die Arbeitsverdichtung und die hohe Arbeitsbelastung im Rahmen der Arbeitszeiten nicht mehr gewährleistet. Wir brauchen externe Fortbildungen, um ausgebildet zu werden.“
Ein älterer Kollege aus einer Reha-Klinik in Rheinland-Pfalz ist vorsichtig: „Ich denke, der Mensch ist schwach, auf jeden Fall nehme ich mir in solchen Fällen vor, objektiv zu bleiben.“
In unserer vorherigen Umfrage waren vor knapp 3 Jahren noch 30% der Ansicht, dass sie in einem solchen Fall neutral bleiben könnten.
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Laut einer Online-Befragung von Wissenschaftlern der TU München konsumieren rund ein Viertel der Ärzte zu viel Alkohol. Wie soll man als Kollege und Mitwisser damit umgehen, damit Patienten nicht gefährdet werden? Könnten regelmäßige Tests den Substanzmissbrauch eindämmen?
Nur 21% befürworten regelmäßige Tests auf Drogen- oder Alkoholkonsum, um abhängige Ärzte zu entlarven und möglichen Schaden zu minimieren. Interessant ist, dass die jüngeren Kollegen (30%) eher regelmäßige Tests für sinnvoll halten würden als ältere (19% - Daten nicht dargestellt).
Viele Kommentatoren lehnen verpflichtende Tests strikt ab und sind wütend: „Überwachungsstaat! Wird so mit anderen Berufsgruppen umgegangen?“ Ein anderer: „Was kommt als Nächstes? Mit solchen Methoden stellt man die ganze Berufsgruppe unter Generalverdacht.“ Eine junge Kinderärztin in einer bayerischen Klinik, sagt: „Das geht den Arbeitgeber nichts an. Bevor 24-Stunden Schichten, die zu einer ähnlichen mangelhaften Konzentration wie Alkoholintoxikation führen, nicht abgeschafft werden, bin ich auf alle Fälle gegen Tests.“
Eine andere Möglichkeit wäre, jene Kollegen, die alkoholisiert zur Arbeit erscheinen, nicht zu decken und stattdessen das Problem anzusprechen. Würden Sie einen Kollegen oder eine Kollegin melden, wenn er/sie gelegentlich im Job durch Drogen, Alkohol oder Krankheit beeinträchtigt ist?
Je nach Alter der Befragten ist die Bereitschaft, Meldung zu machen sehr unterschiedlich: Über 45-Jährige würden zu einem Großteil (64%) durch Rauschmittel beeinträchtigte Kollegen nicht schützen. Ein junger Klinikarzt macht in der Umfrage folgenden Vorschlag: Ich würde einen einmaligen Versuch unternehmen, den Kollegen darauf persönlich anzusprechen. Wenn dann keine Besserung sichtbar ist, muss eine Meldung erfolgen.“
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Das Budget ist immer knapp. Wenn Ihnen wegen Überschreitung ihres Versorgungsbudgets eine Strafe drohen würde, was dann? Würden Sie Patienten in bestimmten Fällen eine angemessene Behandlung oder Tests verweigern?
Jeder 3. Arzt würde dem Patienten die Therapien zukommen lassen, die er für nötig hält – auch mit einem Damoklesschwert im Nacken. Nur 16% lassen sich von Regressdrohungen beeindrucken und drosseln ihr Engagement. Weitere 17% entscheiden je nach Umständen.
Ein Internist aus Nordrhein-Westfalen würde die Behandlung verweigern, aber: sagt: „Ich würde dies offen besprechen und den Patienten an einen anderen Arzt weiterleiten.“ Ein Kollege aus Hessen „würde nach anderen Wegen suchen, die Behandlung abzurechnen.“ Und eine dritte Variante schlägt ein niedergelassener Onkologe aus Hessen vor: „Ich würde die Behandlung verschieben oder mit der KV besprechen. Warum soll ich persönlich für die angemessene Behandlung eines Patienten bezahlen? Das sehe ich absolut nicht ein. Häufig ist die Angst vor dem Regress aber unbegründet.“
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Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. So spricht der Volksmund und gerne auch mal die Patienten, wenn sie sich etwa über Kunstfehler im Medizinbetrieb aufregen. Aber bilden Ärzte untereinander wirklich so einen Klüngel, dass sie vor einem Scharlatan nicht warnen würden?
Immerhin 68% der Kollegen würden Patienten von einem Eingriff bei einem Arzt/einer Ärztin abraten, den/die sie dafür nur für bedingt geeignet halten. Jeder Dritte wäre hier weniger deutlich und würde je nach Umständen entscheiden. Männer (74%) beziehen in dieser Frage noch eindeutiger Position (55%) als Frauen.
Report über ethische Herausforderungen: Was Ärzte über Sex, Alkohol, Behandlungsfehler, Impfpflicht, Sterbehilfe und COVID-19 denken
Die 1.008 Ärzte, die an unserer Umfrage teilgenommen haben, stammen ungefähr zu gleichen Teilen aus dem niedergelassenen Bereich (Summe aus 19, 15 und 6%) und aus dem Krankenhaus (41%). Ein kleiner Anteil arbeitet in ambulanten Behandlungszentren (6%) und in Unternehmen oder Privatkliniken (3%).
Report über ethische Herausforderungen: Was Ärzte über Sex, Alkohol, Behandlungsfehler, Impfpflicht, Sterbehilfe und COVID-19 denken
Die Daten für den Medscape Ethik-Report 2020 wurden im Zeitraum von Mitte Januar bis März dieses Jahres mit einem Online-Fragebogen erhoben.
Es haben dieses Mal 1.008 Ärzte teilgenommen. Davon befanden sich 12% in Weiterbildung.
Da kurz nach Beendigung der Datenerhebung durch die Corona-Krise viele neue ethische Fragen aufkamen, wurden zusätzlich in 2 weiteren, kleineren Kurz-Umfragen (794 und 496 Teilnehmer) Daten zu den neuen Herausforderungen für Ärzte im Zusammenhang mit COVID-19 gesammelt. Diese Quellen wurden bei den entsprechenden Slides vermerkt.
Report über ethische Herausforderungen: Was Ärzte über Sex, Alkohol, Behandlungsfehler, Impfpflicht, Sterbehilfe und COVID-19 denken
Weil die Corona-Krise viele Grundsatzfragen in der Medizin wieder in den Vordergrund rückt, wollten wir zum Schluss der Umfrage noch einmal unsere Teilnehmer zu Wort kommen lassen. Hier einige Zitate, die zeigen, mit welchen ethischen Konflikten sich Mediziner in den vergangenen Wochen konfrontiert sahen.
Hoffen wir, dass sich diese Situationen nicht so schnell wiederholen werden und enden wir diesen Report mit dem neuen, allgegenwärtigen Abschiedsgruß: Bleiben Sie gesund! Ihre Medscape-Redaktion.
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