MEINUNG

Hype oder Rettung? Was können Semaglutid und Co. wirklich – Prof. U. Laufs über die neue Ära in der Adipositas-Therapie

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

16. November 2023

Täglich schlemmen und dafür lebenslang Medikamente nehmen, damit man nicht zu dick wird und das Herz gesund bleibt – ist das die Zukunft? Ursprünglich als Antidiabetikum entwickelt, nützen bereits viele Patienten die GLP-1-Rezeptor-Agonisten wie Semaglutid zur Gewichtsreduktion. Der Hype um Semaglutid ist groß. Seit 2022 ist der GLP-1-Rezeptor-Agonist als medikamentöse Abnehmhilfe zugelassen, seit 17. Juli 2023 ist das Mittel in Deutschland auf dem Markt. Aber aus medizinischer Sicht gehen die Erwartungen an diese Medikamentengruppe weit darüber hinaus. Durch mehrfach wirksame Agonisten zeichnen sich bereits weitere Therapieoptionen ab. Aber ist die Aufbruchstimmung wirklich berechtigt? Welche Risiken nimmt man dafür in Kauf, wenn man zu den neuen Medikamenten greift, statt zu gesunder Ernährung?

Prof. Dr. Ulrich Laufs, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kardiologie am Universitätsklinikum Leipzig, ist ein Experte in Sachen Fettstoffwechsel und Herzerkrankungen. Er erklärt im Interview die aktuelle Datenlage, welche Patienten von Semaglutid profitieren, wie die Nebenwirkungen zu bewerten sind und ob GLP-1-Rezeptor-Agonisten dabei helfen können, Änderungen des Lebensstils überhaupt erst zu ermöglichen. 

Medscape: Wann sollte Übergewicht bzw. Adipositas aus kardiologischer Sicht medikamentös behandelt werden?

Laufs: Wir verfügen über eine sehr gute Studienlage dazu, dass GLP-1-Rezeptor-Agonisten bei Patienten mit Diabetes mellitus nicht nur den Blutzucker positiv beeinflussen, sondern auch kardiovaskuläre Ereignisse reduzieren. Das ist von großer Bedeutung. Denn diese Daten haben wir nur für die GLP-1-Rezeptor-Agonisten und die SGLT2-Inhibitoren. Für andere Antidiabetika ist das nicht der Fall: Weder zu Metformin noch zu Insulin haben wir positive Studiendaten, dass Herzinfarkt, Schlaganfall oder kardiovaskulärer Tod reduziert werden. 

 
Wir verfügen über eine sehr gute Studienlage dazu, dass GLP-1-Rezeptor-Agonisten bei Patienten mit Diabetes mellitus … auch kardiovaskuläre Ereignisse reduzieren. Prof. Dr. Ulrich Laufs
 

Aufgrund dessen sind die SGLT-2-Inhibitoren und die GLP-1-Rezeptor-Agonisten sowohl in der aktuellen Leitlinie zu Diabetes mellitus als auch in der aktuellen Leitlinie Chronische Herzinsuffizienz mit einer Klasse-1A-Empfehlung belegt worden. Patienten mit Diabetes mellitus und kardiovaskulären Erkrankungen sollten also mit SGLT-2-Inhibitoren oder/und GLP-1-Rezeptor-Agonisten behandelt werden.

In der höheren Dosierung sind für die GLP-1-Rezeptor-Agonisten auch starke positiven Effekte auf das Körpergewicht demonstriert worden – in einem Ausmaß, wie wir das bisher unter keiner medikamentösen Therapie auch nur annähernd erreichen können – und vor allem mit einer Medikamentenklasse, die auch kardiovaskuläre Ereignisse reduziert. Das ist ein deutlicher Unterschied zu alten Medikamenten in der Vergangenheit, die ja sogar kardiovaskuläre Risiken aufwiesen.

 
Patienten mit Diabetes mellitus und kardiovaskulären Erkrankungen sollten … mit SGLT-2-Inhibitoren oder/und GLP-1-Rezeptor-Agonisten behandelt werden. Prof. Dr. Ulrich Laufs
 

Medscape: Wie sieht das Nebenwirkungsprofil von Semaglutid aus? Eine unlängst im JAMA erschienene Studie weist auf ein erhöhtes Pankreatitis-Risiko hin, und eine französische Fall-Kontroll-Studie sieht Hinweise auf ein erhöhtes Risiko für Schilddrüsenkrebs. Wie ist das einzuschätzen?

Prof. Dr. Ulrich Laufs

Laufs: Man muss hier unterscheiden. Die mit Abstand häufigsten Nebenwirkungen bei den GLP-1-Rezeptor-Agonisten sind gastrointestinale Beschwerden und Übelkeit. Dies kann man vermeiden, indem man mit einer niedrigen Dosis beginnt und dann langsam auftitriert. Wichtig ist auch, mit den Patienten zu sprechen und ihnen zu erklären, dass sie eher kleine Portionen essen und möglichst den Fettanteil in der Nahrung reduzieren sollten. 

 
Gastrointestinale Beschwerden und Übelkeit kann man vermeiden, indem man mit einer niedrigen Dosis beginnt und dann langsam auftitriert. Prof. Dr. Ulrich Laufs
 

Wenn man dies so berücksichtigt, dann – das zeigen die Studienprogramme – unterschied sich die Zahl der Patienten, welche die Medikation mit GLP-1-Rezeptor-Agonisten beendet haben, nicht von denen, die Placebo erhalten hatten. Dies zeigt die grundsätzliche Verträglichkeit bei richtiger Anwendung. Die Umstellung der Ernährungsgewohnheiten unterstützt die Patienten natürlich auch bei der erwünschten Gewichtsreduktion. 

GLP-1-Rezeptor-Agonisten in der Indikation Adipositas können das Körpergewicht deutlich reduzieren – in Studien sind das im Mittel 17%, das ist schon erheblich. Mit einer starken Gewichtsabnahme kann die Bildung von Gallensteinen assoziiert sein, allerdings nicht nur unter GLP-1-Rezeptor-Agonisten, das passiert auch unter strikter Diät oder nach bariatrischer Chirurgie. 

Die Gallensteinbildung ist wiederum bei einzelnen Patienten mit einem erhöhten Pankreatitis-Risiko assoziiert. Deshalb ist dies eine wichtige Frage. Derzeit ist allerdings noch offen, ob es sich hier um einen Effekt handelt, der durch die Gewichtsreduktion induziert ist oder durch die Substanz selbst. 

Und dann gibt es zu den GLP-1-Rezeptor-Agonisten noch ein paar Aspekte, die im Moment näher untersucht werden. Es handelt sich dabei um Signale zum medullären Schilddrüsenkarzinom – die erwähnte Studie –, um Signale zur diabetischen Retinopathie (das könnte aber auch mit der Glukosesenkung assoziiert sein) und um Signale für eine mögliche Steigerung der Herzfrequenz um wenige Schläge pro Minute. 

Medscape: Nach Absetzen von Wegovy® steigt offenbar das Gewicht wieder. Bedeutet dies, dass man die Therapie jahrelang oder gar lebenslang durchführen müsste? 

Laufs: Die Daten zu den GLP-1-Rezeptor-Agonisten in der Indikation Adipositas sind ganz neu. Deshalb kann man dies zum jetzigen Zeitpunkt nicht sicher beurteilen. Man darf allerdings nicht die Vorstellung haben, dass man nach der Gewichtsreduktion schon nach einigen Monaten – ohne konsequente und nachhaltige Lebensstiländerungen – die Substanz wieder absetzen kann. Bei einer abrupten Absetzung wird das Gewicht wieder steigen. Daraus kann man aber nicht schlussfolgern, dass man es auch lebenslang nehmen muss. 

 
Bei einer abrupten Absetzung [von GLP-1-Rezeptor-Agonisten] wird das Gewicht wieder steigen. Prof. Dr. Ulrich Laufs
 

In der Praxis werden GLP-1-Rezeptor-Agonisten in der Indikation Adipositas in unterschiedlichen Dosierungen angewandt, die Substanz wird auch intermittierend gegeben. Allerdings geschieht dies alles außerhalb der Studienlage. In den Adipositas-Sprechstunden der Kollegen der Endokrinologie am Universitätsklinikum Leipzig werden intermittierende Strategien bei einzelnen Patienten durchaus erfolgreich eingesetzt. 

Ich könnte mir vorstellen – wenn es gelingt, den Lebensstil nachhaltig anzupassen – dass man dann vielleicht mit einer niedrigeren Dosis über 1 oder 2 Jahre die Substanz ausschleicht. Bislang ist ein solches Vorgehen allerdings nicht durch Studien belegt, dazu ist der Befund noch zu neu. 

Medscape: Könnten GLP-1-Rezeptor-Agonisten dabei helfen, Änderungen des Lebensstils und Bewegung überhaupt erst zu ermöglichen?

Laufs: Das ist ein Ansatzpunkt. Es gibt eine Vielzahl von Patienten, die aufgrund ihres hohen Körpergewichtes Schwierigkeiten haben, sich überhaupt körperlich zu betätigen; das ist gar nicht so selten. Und die beispielsweise bei Bewegung Schwierigkeiten aufgrund von Gelenkproblemen bekommen. Zur medikamentösen Therapie mit GLP-1-Rezeptor-Agonisten bei Adipositas gehören aber immer Änderungen des Lebensstils und der körperlichen Aktivität. Im Moment wird untersucht, ob eine solche pharmakologische Therapie den Einstieg in Änderungen des Lebensstils ermöglicht. 

 
Im Moment wird untersucht, ob eine solche pharmakologische Therapie den Einstieg in Änderungen des Lebensstils ermöglicht. Prof. Dr. Ulrich Laufs
 

Klar ist aber auch, dass es bei einer Gewichtsreduktion eine lange Zeit dauert, bis sich der Stoffwechsel adaptiert, Stichwort Jo-Jo-Effekt nach Diäten. Der Zeitraum, bis sich der Stoffwechsel angepasst hat, wird häufig unterschätzt. Es dauert 2 bis 3 Jahre, bis sich der Stoffwechsel umgestellt hat. In dieser Zeit ist es besonders wichtig, das Verhältnis Muskelmasse zu Fettmasse zugunsten der Muskelmasse zu beeinflussen, damit der Grundumsatz erhöht wird. Da geht es nicht um Prozesse, die in Tagen oder Wochen ablaufen, man muss in Jahren denken.

 
Bis sich der Stoffwechsel umgestellt hat, ist es besonders wichtig, das Verhältnis Muskelmasse zu Fettmasse zugunsten der Muskelmasse zu beeinflussen, damit der Grundumsatz erhöht wird. Prof. Dr. Ulrich Laufs
 

Medscape: Bislang wird Semaglutid zur Gewichtsreduktion subkutan injiziert. Beim Kongress der American Diabetes Association (ADA) wurde eine Studie zur oralen Therapie mit Semaglutid vorgestellt. Eine künftige Alternative zur Spritze?

Laufs: Wann es zur Zulassung kommen wird, lässt sich natürlich nicht sagen, aber die Studienlage dazu zeigt, dass sich eine erhebliche Gewichtsreduktion auch über eine orale Einnahme erreichen lässt. Nach 68 Wochen war das Körpergewicht im Mittel um 15,1% reduziert worden (Placebo-Gruppe: 2,4%; p<0,0001). Bei etwa einem Drittel der Patientinnen und Patienten konnte eine Gewichtsabnahme um 20% und mehr erreicht werden.

Medscape: Der Triple-Agonist Retratrutid hat eine beeindruckende Gewichtsabnahme um bis zu 24,2% gezeigt. Wie ist die kardiale Sicherheit der Triple-Agonisten? 

Laufs: In den Studien, die bis jetzt dazu vorliegen, wurden Triple-Agonisten bei Patienten mit Typ-2-Diabetes und Adipositas eingesetzt. Da gab es keine Sicherheitssignale. Es ist wichtig zu betonen, dass dieses Studienkollektiv und die Beobachtungsdauer natürlich keine Aussage über den Einsatz von Triple-Agonisten bei Patienten mit Herzinsuffizienz oder kardialen Risikopatienten erlauben. 

Es gibt erste Signale, die aber – aus meiner Sicht – auch noch nicht endgültig bestätigt sind, dass es zu einer Erhöhung der Herzfrequenz um einige Schläge pro Minute kommt. Sicherheitsdaten zu den Triple-Agonisten bei bestimmten Populationen, wie z.B. Patienten mit fortgeschrittener Herzinsuffizienz, liegen derzeit noch nicht vor. 

Triple-Agonisten sind noch nicht zugelassen, stehen also noch nicht zur Verfügung. Davon abgesehen sehe ich Patienten mit fortgeschrittener Herzinsuffizienz, mit hochgradig eingeschränkter linksventrikulärer Funktion und einem NYHA-Stadium 3 oder 4 – bei denen möglicherweise eine Erhöhung der Herzfrequenz von Nachteil sein könnte – nicht als Patienten, für die aktuell primär Triple-Agonisten infrage kämen. 

Für Semaglutid haben wir den Vorteil der großen Datenbasis aus den Diabetes-Studien – und schon über diese eine Substanz lässt sich eine erhebliche Gewichtsabnahme erreichen.

Medscape: Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.

 

Kommentar

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