Warum werden immer mehr Arbeitnehmer arbeitsunfähig geschrieben? Zahlen der DAK Krankenkasse zeigen: Vor allem psychische Erkrankungen und Erkrankungen des Skelettsystems sind auf dem Vormarsch. Auch der AOK Fehlzeitenreport vor wenigen Wochen zeigte ein ähnliches Ergebnis.
Dirk Vennekold, Leiter der DAK-Landesvertretung Niedersachsen, führt den Anstieg auf den Stress, den der angespannte Arbeitsmarkt auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausübt, zurück, sowie auf die Nachwirkungen der Corona-Pandemie. „Die Leute sind sehr mitgenommen, hinzu kommt die Unsicherheit in vielen Teilen der Welt“, so Vennekold zu Medscape.
Die DAK hatte das 3. Quartal 2023 verglichen mit dem 3. Quartal des Vorjahres. Der Krankenstand lag demnach in diesem Jahr mit 5,0% über dem schon sehr hohen Niveau des Vorjahresquartals mit 4,7%, teilte die DAK Anfang des Monats mit.
Depressionen haben um mehr als 20 Prozent zugelegt
Im Durchschnitt hatte jeder und jede Beschäftigte fast 5 Fehltage in diesem Sommerquartal – und das, obwohl die Welle der Sommergrippe in diesem Jahr ausfiel. Eine Steigerung um 24,3% bei psychischen Erkrankungen (z.B. Depressionen und Angststörungen) und bei Muskel-Skelett-Erkrankungen um 25,2% sind eine besorgniserregende Entwicklung, sagte Vennekold. Dabei sei zu beachten, dass vielen Rückenerkrankungen ebenfalls seelische Erkrankungen zugrunde liegen können.
Bei Erkrankungen des Atmungssystems dagegen lagen die Fehltage pro 100 Versicherten im 3. Quartal 2023 bei 55,7 Fehltagen. Damit lagen diese Erkrankungen als einzige Gruppe unter dem Wert des Vorjahresquartals – er betrug 66,1 AU-Tage pro 100 Versicherte.
Fehltage durch Atemwegserkrankungen liegen auf dem 4. Platz hinter den Erkrankungen von Muskeln und Skelett, den psychischen Erkrankungen und den Verletzungen.
Warten auf Facharzttermin spielt auch eine Rolle
Allerdings könnten diese Begründungen nur die halbe Wahrheit für den Anstieg der Krankschreibungen sein. So erklärt ein Hausarzt aus dem Raum Bremen, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, im Gespräch mit Medscape, dass auch die langen Wartezeiten auf einen Facharzttermin die Zahl der AU-Tage immer stärker in die Höhe trieben. „Während die Patientinnen und Patienten auf ihren Termin warten, bleiben sie natürlich krankgeschrieben, und das geht auf die Statistik“, sagt er.
Auch die allzu lockere Handhabung der Krankschreibungen verfälschte die Statistik, berichtete er weiter. Er selbst, wie auch viele andere Hausärztinnen und Hausärzte, schreiben Patienten krank, die „auch gut arbeiten könnten“, berichtet der Hausarzt. „Das tue ich nicht aus Überzeugung, sondern weil ich die Krankschreibungen, die ja wenig Arbeit machen, brauche. Andernfalls kann ich meine Praxis dichtmachen.“
Welchen Einfluss hat die telefonische AU auf die Statistik?
Könnte auch die telefonische Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung (AU) die Statistik beeinflusst haben? Der Hausarzt aus der Bremer Gegend sagt klipp und klar: „Alles andere würde mich sehr wundern, die telefonischen AUs machten in unserer Praxis einen Großteil der Krankschreibungen aus.“ Schließlich sanken die Krankschreibungen wegen Husten, Schnupfen, Heiserkeit laut DAK-Statistik ausgerechnet dann, als die telefonischen Krankschreibungen nicht mehr möglich waren. So könnte nicht nur der Ausfall der Sommergrippe die Erkrankungen des Atmungssystems im Sommer reduziert haben.
Zum 2. Quartal 2023 bereits war die telefonische AU ausgelaufen. Eingeführt worden war sie, damit nicht die schniefenden, womöglich mit Corona infizierten Patienten die Wartezimmer fluteten und das Infektionsgeschehen noch vorantrieben.
Doch dann legte das Bundesgesundheitsministerium (BMG) – auch als Reaktion auf den Protest des Deutschen Hausärzteverbandes gegen das Ende der telefonischen AU – eine Kehrtwende hin: „Nach den positiven Erfahrungen soll nun eine Möglichkeit geschaffen werden, die telefonische Krankschreibung wieder zuzulassen – allerdings nur bei Krankheiten ohne schwere Symptome und nur bei Patientinnen oder Patienten, die in der jeweiligen Arztpraxis bekannt sind“, teilt das BMG mit. „Der Gemeinsame Bundesausschuss soll dazu eine Richtlinie bis zum 31. Januar 2024 ausarbeiten.“
Stimmt es, dass die telefonische AU die Anzahl der Krankschreibungen bei leichteren Erkältungskrankheiten beeinflusst, müssten die Krankschreibungen im kommenden Jahr bei den fraglichen Diagnosen wieder ansteigen.
Der Deutsche Hausärzteverband indessen glaubt nicht an diesen Zusammenhang. „Dass die Zahl der Krankschreibungen laut der Erhebungen der Krankenkassen auf einem so hohen Niveau lag, hat mehrere Ursachen, die nichts mit der Telefon-AU zu tun haben. Ein wesentlicher Grund war die heftige Infektsaison 2022/2023“, erklärt der Sprecher des Verbandes, Vincent Jörres auf Anfrage von Medscape.
Vielmehr sei ein zentraler Grund für den Höchststand, dass die Krankenkassen durch die elektronischen Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigungen alle Krankschreibungen automatisch erhalten und somit einen viel umfassenderen Überblick über die Zahl der Krankschreibungen haben. „Davor haben viele Patientinnen und Patienten schlichtweg ihre Krankenkasse nicht über ihre Krankschreibung informiert“, sagt Jörres. „insbesondere, wenn diese nur für wenige Tage galt.“
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Diesen Artikel so zitieren: Warum immer mehr Abeitnehmer arbeitsunfähig werden und wie sich die telefonische AU auswirkt - Medscape - 15. Nov 2023.
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