Berlin – Die tödlichste bakterielle Infektion weltweit heißt nach wie vor Tuberkulose. Dabei führten die durch die Corona-Pandemie verursachten Belastungen der Gesundheitssysteme mit der Umverteilung von Ressourcen dazu, dass die Zahl der Tuberkulose-Todesfälle und -Erkrankungen nach einem Rückgang zum 1. Mal seit einem Jahrzehnt wieder gestiegen ist, wenn auch nicht in Deutschland und anderen reichen Ländern. Darüber hinaus verschärft die zunehmende Medikamentenresistenz das Problem der Tuberkulose weiter.
Über aktuelle Herausforderungen und hoffnungsvolle Fortschritte im weltweiten Kampf gegen die Tuberkulose (TB) diskutierten Experten beim diesjährigen World Health Summit, der in Berlin und digital stattfand [1]. Sie nahmen dabei Bezug auf das 2. United Nations High-Level-Meeting zu Tuberkulose, das im September 2023 in New York stattfand. Dort wurde eine politische Deklaration zu dem ambitionierten UN-Entwicklungsziel beschlossen, die TB-Epidemie bis 2030 zu beenden.
10 Millionen Neuerkrankungen und 1,6 Millionen Todesfälle – pro Jahr
Bereits 2021 erkrankten an Tuberkulose wieder mehr als 10 Millionen Menschen in aller Welt, und geschätzt 1,6 Millionen starben daran. Diese Zahlen nennt der UN-Report, der im Vorfeld des High-Level-Meetings erschien. Und weiter: Fast eine halbe Million Menschen entwickeln jährlich eine multiresistente oder Rifampicin-resistente Tuberkulose (MDR/RR-TB), die damit einer der wichtigsten Verursacher der Resistenz gegen antimikrobielle Mittel ist. Etwa ein Viertel der Weltbevölkerung (!) ist mit Mycobacterium tuberculosis infiziert und damit dem Risiko ausgesetzt, früher oder später an TB zu erkranken.
„Wenn wir uns die aktuellen Zahlen anschauen, sind wir leider noch ziemlich weit davon entfernt, die TB-Epidemie bis zum Jahr 2030 zu beenden – und was wir dafür bereits tun, reicht nicht aus“, sagte Peter Sands, Executive Director Global Fund to Fight Aids, Tuberculosis and Malaria beim World Health Summit. Als notwendige Voraussetzungen zur Annäherung an dieses Ziel nannte er die Bereitstellung von mehr finanziellen Mitteln in den von TB besonders stark betroffenen Ländern sowie den gerechten Zugang zu wirksamen, zugänglichen und erschwinglichen Instrumenten zur Prävention, Diagnose und Behandlung von TB.
Als gute Nachrichten bezeichnete er jüngste Preissenkungen für TB-Schnelltests und für die Pharmakotherapie multiresistenter TB mit dem Medikament Bedaquilin. Hoffnungsvoll seien innovative Instrumente mit Gamechanger-Charakter wie mobiles Röntgen und der Einsatz von Künstlicher Intelligenz bei der Befundung von Röntgenaufnahmen.
Bausteine für das Ziel „Gesundheit für Alle“
Sich auf TB zu fokussieren ist Sands zufolge besonders aus folgenden Gründen von Bedeutung: „Der Kampf gegen diese Krankheit kann eine große Zahl von Menschenleben retten, viele der dafür notwendigen Maßnahmen sind auch Bausteine für das Ziel der Gesundheit für Alle (Universal Health Coverage, UHC); TB betrifft oft Personen im arbeitsfähigen Alter und hat damit auch eine wirtschaftliche Dimension, und schließlich ist die Bekämpfung der TB ein bewährter Weg zum Aufbau einer effektiven Vorbereitung auf künftige Pandemien (Pandemic Preparedness).“
„Tuberkulose lässt sich vorbeugen, diagnostizieren, behandeln und heilen – dass jedes Jahr 1,6 Millionen Menschen daran sterben, ist schlicht inakzeptabel“, betonte Dr. Suvanand Sahu, Vizedirektor der Organisation Stop TB Partnership. Die politische Deklaration der Mitgliedstaaten des UN High-Level-Meetings mit der Verpflichtung zu konkreten Zielen bewertete er prinzipiell als positiv, dem müssten aber auch Taten folgen.
Zu den vereinbarten Zielen gehört etwa, dass bis zum Jahr 2027 45 Millionen bzw. mindestens 90% der an Tuberkulose Erkrankten behandelt werden, mindestens 90% der von der Krankheit bedrohten Personen eine vorbeugende Behandlung erhalten und die Nutzung von der WHO empfohlener molekularer TB-Schnelltests forciert wird.
Mehr Mittel für die TB-Bekämpfung – zumindest als Ziel
Weitere im September in New York vereinbarte Ziele betreffen die Aufstockung der weltweiten Mittel für die Tuberkulose-Bekämpfung auf jährlich 22 Milliarden US-Dollar und zusätzlich der Ausgaben für Forschung und Innovation auf 5 Milliarden US-Dollar bis 2027. „Aktuell“, so Sahu, „steht hierfür jedoch lediglich etwa ein Viertel dieser Geldsummen zur Verfügung. Und obwohl durch TB mehr Menschen sterben als durch AIDS und Malaria zusammen, entfallen aus dem Global Fund für diese 3 Krankheiten für die TB lediglich 18%.“
Allerdings hilft die HIV-Therapie auch, die TB-Erkrankungsrate zu senken, denn die Immunschwäche von HIV-Infizierten bedeutet gleichzeitig ein hohes TB-Risiko.
„Wichtige Hoffnungsträger sind die neuen, in der Pipeline befindlichen TB-Impfstoffkandidaten, von denen sich mehrere bereits in Phase 3 der klinischen Entwicklung befinden“, sagte Dr. Catharina Boehme von der WHO: „Es wäre ein großer Erfolg, wenn in den kommenden 5 Jahren zumindest einer dieser Impfstoffe zugelassen würde.“
Die WHO hat aus diesem Grund den TB Vaccine Accelerator Council ins Leben gerufen, ein Netzwerk mit dem Ziel, die Entwicklung, Erprobung, Zulassung und Bereitstellung neuer Tuberkulose-Impfstoffe zu erleichtern. Grund für den dringenden Bedarf neuer Impfstoffe: Zwar gibt es seit mehr als 100 Jahren den BCG-Impfstoff, eine umfangreiche Metaanalyse zeigte jedoch, dass diese Impfung nur Kinder unter 5 Jahren wirksam schützt, ein Impfschutz bei Jugendlichen und Erwachsene hingegen nicht mehr ausreichend vorhanden ist.
Risikofaktoren soziale Situation, Hunger, Vertreibung
Der Chirurg Dr. Atul Gawande von der United States Agency for International Developments (USAID) erinnerte daran, dass das TB-Erkrankungsrisiko mit der sozialen Situation und oft schicksalhaften Faktoren zusammenhängt: „Wir wissen, dass Tuberkulose eine Krankheit der Armen und der Vertriebenen ist. Und wir haben mittlerweile einen Höchststand von mehr als 100 Millionen Menschen in der Welt, die aufgrund gewaltsamer Konflikte oder Klimawandel vertrieben wurden bzw. geflüchtet sind. Hinzu kommt ein Höchststand bei Nahrungsmittelknappheit und Mangelernährung, die TB mitverursachen.“
Besondere Bedeutung für die Zurückdrängung der TB hat nach den Worten Gawandes die medizinische Grundversorgung mit Gesundheitsfachkräften auf lokaler bzw. Gemeindeebene. Funktioniere sie, dann könne auch in ärmeren Ländern die TB zurückgedrängt werden, so wie es in den 1950er-Jahren in den westlichen Industrienationen bis hin zur weitgehenden Eliminierung von TB gelang.
Dazu gebraucht würden nicht nur ein konsequentes Screening der Bevölkerung mit der Identifizierung von Erkrankten und Personen mit erhöhtem Erkrankungsrisiko, deren anschließende Therapie und die Verfolgung von Kontaktpersonen, sondern ebenso Aufklärung und Überzeugung durch dafür geschultes Personal. Letzteres sei wichtig, damit notwendige Medikamente – kurativ oder präventiv – auch richtig eingenommen werden.
Auch Gawande dankte den Arzneimittelherstellern für jüngste Preissenkungen für die TB-Medikamente Rifapentin und Bedaquilin im Bereich von 30% bis 50%, mit denen nun eine deutlich kostengünstigere Therapie von latenter TB-Infektion und multiresistenter TB möglich sei.
Kürzere Behandlungszeiträume dank neuer Medikamente
Innovationen bei den TB-Medikamenten ermöglichen mittlerweile deutlich kürzere Therapiezeiträume, als dies früher der Fall war. So lässt sich eine latente TB-Infektion nun effektiv über nur einen Monat hinweg mit Rifapentin und Isoniazid behandeln. Die Standard-Kombinationstherapie für eine aktive TB ist unter Einschluss von Rifapentin von 6 auf 4 Monate verkürzbar, und die Therapie der multiresistenten (Rifampicin-resistenten) TB hat sich auf 6 Monate reduziert.
Die TB-Problematik aus lokaler Perspektive in einem Entwicklungsland beschrieb Dr. Refiloe Matji von der südafrikanischen NGO Aquity Innovations. „Auch wenn sich der Fokus der Anstrengungen bei TB auf die Gesundheit bezieht“, gab sie zu bedenken, „dürfen dabei soziale Dienste nicht vergessen werden, um Menschen während ihrer TB-Behandlung zu unterstützen. Wir müssen umfassender an die Menschen und nicht nur an ihre Krankheit denken.“
Hervorragende Arbeit leisten nach Matjis Meinung Gesundheitsfachkräfte auf Gemeindeebene, sie müssten aber auch bezahlt werden und nicht wie in vielen Fällen nur ehrenamtlich tätig sein.
Rückläufige Inzidenz in Deutschland
Anders als in den Ländern des globalen Südens bzw. solchen mit niedrigem und mittlerem Einkommen ist die Tuberkulose in Deutschland und den anderen Industriestaaten selten geworden. Seit Jahren ist die Inzidenz rückläufig, wenn auch im letzten Jahr mit einem leichten Anstieg, maßgeblich bedingt durch die Zuwanderung von Geflüchteten aus dem TB-Hochinzidenzland Ukraine.
Für das Jahr 2022 wurden nach Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) in Deutschland 4.076 neue Fälle der meldepflichtigen Erkrankung diagnostiziert, was einer Inzidenz von 4,9 Fällen pro 100.000 Einwohnern entspricht. Zum Vergleich: Nach Zahlen der WHO lag die TB-Inzidenz im gleichen Jahr weltweit bei 133, in Indien bei 199 und in Südafrika sogar bei 468 pro 100.000 Einwohnern.
„Für die weltweite Bekämpfung der TB vor Ort engagiert sich Deutschland insbesondere durch die Unterstützung des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria und ist hier nach den USA, Frankreich und Großbritannien der viertwichtigste Geldgeber“, sagte Prof. Dr. Dr. Stefan Kaufmann, emeritierter Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für Infektionsbiologie in Berlin und Moderator der TB-Session beim World Health Summit im Gespräch mit Medscape.
Deutschlands aktueller Beitrag für die Förderperiode 2023 bis 2025 des Fonds, der nationale Maßnahmen in betroffenen Ländern unterstützt, beträgt 1,3 Milliarden Euro.
Das Geld ist gut investiert, wenn die geförderten Projekte auch effektiv sind: „Es gibt Länder“, so Kaufmanns Erfahrung, „die schaffen das weitgehend mit eigenen Kräften, bei anderen hat sich personelle Unterstützung aus dem Ausland bewährt. Insgesamt könnte sich Deutschland auf diesem Sektor durchaus noch stärker engagieren.“
Präventivtherapie senkt die Erkrankungszahlen
Zu den größten Fortschritten bei der Bekämpfung der TB zählen auch für den Berliner Infektionsbiologen die Einbeziehung der Präventivtherapie und die Verkürzung der Behandlungszeiträume: „Indem die Präventivtherapie HIV-Infizierten und Kontaktpersonen von TB-Patienten angeboten wird, lässt sich die Zahl der Neuerkrankungen enorm reduzieren. Und während früher 2 Jahre nötig waren, um eine Multiresistenz zu behandeln, ist dies heute dank der neuen Medikamente nicht nur in 6 Monaten, sondern auch mit deutlich besserem Erfolg möglich.“
Ein ähnlich großer Fortschritt für die Diagnostik seien die molekularen Kartuschen-Schnelltests, die sich mit einem mobilen Auswertungsgerät statt im Labor überall vor Ort durchführen lassen.
Hoffnungsträger Impfstoffkandidaten
„Trotz dieser Fortschritte“, glaubt Kaufmann, „könnte es unter den gegenwärtigen Bedingungen noch Jahrzehnte dauern, bis weltweit kaum jemand mehr an TB erkrankt.“ Anders wäre es, wenn eine Impfung zur Verfügung stünde, die nicht nur wie die bisherige BCG-Impfung Kleinkinder, sondern Menschen aller Altersgruppen zuverlässig schützt.
Von den dazu mehr als einem Dutzend in klinischen Studien befindlichen Impfstoffkandidaten befinden sich mittlerweile 5 in Phase 3 – einer davon ist die von Kaufmann und seinem Team entwickelte Vakzine „VPM1002“.
Dabei handelt es sich um gentechnisch veränderten BCG-Impfstoff, der eine bessere Aktivierung des Immunsystems bewirken soll. Konkrete Ergebnisse zur Wirksamkeit erwartet der Berliner Infektionsbiologe im Laufe des kommenden Jahres aus einer in Indien mit rund 12.000 Teilnehmern stattfindenden Studie, in der VPM1002 mit einem anderen neuen Präparat verglichen wird.
Vielversprechend könnte möglicherweise auch der von GSK entwickelte Impfstoffkandidat „M72/AS01E“ sein, der aus dem Fusionsprotein M72 und 2 Mycobacterium-tuberculosis-Antigenen sowie dem GSK-Adjuvans AS01E besteht. Hier soll Phase 3 der klinischen Prüfung im 1. Quartal 2024 starten.
Beim World Health Summit in Berlin waren sich die Diskussionsteilnehmer in diesem Punkt einig: Um das Ziel der Eliminierung der TB-Epidemie zu erreichen bedarf es neben den Innovationen bei Prävention, Diagnostik und Therapie der engagierten Zusammenarbeit zwischen Politik, Hochschulen, Industrie, Spendern und Zivilgesellschaft – und: Zeit zu handeln ist jetzt.
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Diesen Artikel so zitieren: 1,6 Mio. Tote sind „inakzeptabel“! Tuberkulose nimmt weltweit wieder zu als Folge der Pandemie – neue Impfstoffe und Medikamente - Medscape - 15. Nov 2023.
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