Assistenzärzte aus allen 24 Mitgliedsländern der European Junior Doctors Association (EJD) sind mit ihrem Beruf sehr unzufrieden. So lautet das zentrale Ergebnis einer kleinen, aber repräsentativen und detaillierten Umfrage, die vom EJD durchgeführt und auf der Generalversammlung 2023 im spanischen Murcia vorgestellt worden ist [1].

Alvaro Cerame
Hier werde der „dringende Ruf nach Reformen“ laut, sagte Álvaro Cerame, Vorsitzender des EJD Medical Workforce Committee und Erstautor des Reports, gegenüber Medscape. „Unsere Gesundheitssysteme stehen aufgrund des kritischen Zustands unseres medizinischen Personals am Abgrund.“
Details der Umfrage
Befragt wurden „Junior Doctors“. Sie haben ein Medizinstudium absolviert und mehrere Jahre Berufserfahrung gesammelt. In Deutschland sind das Assistenzärzte bzw. Ärzte in Weiterbildung.
Die Erhebung umfasste strukturierte Interviews, entweder einzeln oder in Fokusgruppen, mit 25 Assistenzärzten. Die Teilnehmer wurden speziell ausgewählt, um alle 24 nationalen Ärzteverbände des EJD zu vertreten.
Im Mittelpunkt standen Auswirkungen der bisherigen Erfahrungen im Job auf die berufliche Laufbahn und auf das Privatleben. Der Report zeigt nicht nur auf, welche Sorgen junge Ärzte haben und welchen Belastungen sie ausgesetzt sind. Vielmehr haben die Autoren Vorschläge zusammengestellt, um die Situation zu verbessern.

Dr. John Cannon
Dr. John Cannon, Präsident der Irish Medical Organization, der in diesem Jahr seinen Facharzt für Allgemeinmedizin abgeschlossen hat und kein Teilnehmer der Umfrage war, erklärte gegenüber Medscape: „Die Ergebnisse sind vernichtend (…). Assistenzärzte sind körperlich und emotional erschöpft, ausgebrannt und haben keine Geduld mehr. Es ist klar, dass Regierungen in ganz Europa dies zur Kenntnis nehmen müssen.“ Sowohl im Interesse der jungen Ärzte als auch im Interesse der Patienten sei auf die Einhaltung von Arbeitszeit-Richtlinien zu achten.
Vielfältige Belastung der Assistenzärzte
Demonstration für eine bessere Gesundheitsversorgung in Madrid am 13. November 2022.
„Trotz der Unterschiede und Besonderheiten der Länder, in denen Befragte arbeiten, sind die befragten Ärzte allesamt unzufrieden mit ihrer Arbeit“, heißt es in dem Report.
Umfrageteilnehmer berichteten, dass die zunehmende Arbeitsbelastung sie zwinge, übereilt medizinische Entscheidungen zu treffen, oft ohne angemessene Aufsicht durch erfahrene Kollegen. Das schafft ein Gefühl der Unsicherheit und Frustration.
Ein Teil der Unzufriedenheit führen die Autoren auf den Generationswechsel zurück: Junge Ärzte sind nicht mehr bereit, längere Arbeitszeiten ohne angemessenen finanziellen Ausgleich zu akzeptieren. „Die jungen Ärzte von heute suchen ein Gleichgewicht zwischen ihrem Privat- und Berufsleben“, konstatieren die Autoren. „Im Gegensatz zu früheren Generationen, welche die Arbeit in den Mittelpunkt ihres Lebens gestellt haben, legen die heutigen Assistenzärzte Wert auf ihre Familien, ihre Freizeit und ihre persönliche bzw. berufliche Entwicklung.“
Die Unzufriedenheit und der Stress bleiben nicht ohne Folgen. Viele Ärzte kehren laut Report klinischen Tätigkeiten – oder sogar dem Arztberuf – den Rücken. Manche wechseln wiederum in Fachbereiche mit besseren Arbeitsbedingungen.
Assistenzärztinnen kritisieren zudem:
geschlechtsspezifische Diskriminierung,
die immer noch vorhandene männlichen Dominanz in bestimmten Fachgebieten,
die Benachteiligung von Teilzeit-Beschäftigten,
das geschlechtsspezifische Lohngefälle,
die Einschüchterung am Arbeitsplatz und teilweise auch die Gewalt im Job gegen Frauen.
Die große Gruppe der jungen Ärzte mit Migrationshintergrund sieht sich ebenfalls besonderen Belastungen ausgesetzt – teils durch Herausforderungen bei der sozialen Integration, teils durch Defizite aufgrund der Ausbildung im Heimatland.
Was sich ändern muss
Die Autoren haben aus dem Input der Teilnehmer mehrere Vorschläge abgeleitet, wie die Zufriedenheit im Job verbessert und die Abwanderung von Ärzten vermieden werden kann.
In der Umfrage fordern Assistenzärzte, Regierungen müssten dem medizinischen Personal mehr Priorität einräumen und auch die Budgets erhöhen. Investitionen dieser Art haben in eine bessere Bezahlung und einen angemessenen Ausgleich für zusätzliche Arbeitszeiten zu fließen, um das vorhandene Personal zu halten und den Beruf attraktiver zu machen. Gelder sind auch erforderlich, um die Arbeitsbedingungen, einschließlich der hohen Arbeitsbelastung und der unzureichenden technischen Ausstattung, zu verbessern.
Nach Ansicht der Interviewten könnten wesentliche Verbesserungen durch flexiblere Schichtmodelle erreicht werden. Auch die Möglichkeiten des beruflichen Fortkommens müssten sich verbessern. Außerdem sollten Faktoren, welche die eigene Zufriedenheit, die Verbundenheit mit den Kollegen und die berufliche Vernetzung verbessern könnten, erforscht werden.
Ein weiteres zentrales Thema ist die unzureichende Weiterbildung. Hier fordern befragte Ärzte eine stärkere Harmonisierung in Europa, um die Mobilität von Ärzten zu erleichtern.
Dr. Vincenzo Costigliola, Präsident der European Medical Association, erklärte gegenüber Medscape: „Dieser Report ist eine gute Grundlage, um den aktuellen Stand der Gesundheitsversorgung in Europa zu überdenken.“ Er betonte jedoch, dass Schwierigkeiten, mit denen junge Ärzte konfrontiert seien, nur ein Aspekt eines viel größeren Problems seien. Ähnliche Klagen hätten viele Ärzten in den letzten 40 bis 50 Jahren vorgebracht, jedoch ohne großen Erfolg.
Mit Blick auf die künftigen Aktivitäten des EJD sagte Cerame, viele der aufgezeigten Trends rechtfertigten es, tiefer in die Materie einzutauchen. Die Studie habe „einen Fahrplan erstellt, worauf wir uns in den folgenden Phasen der Untersuchung konzentrieren müssen“.
Der Beitrag ist im Original erschienen auf www.medscape.com. Er wurde von Michael van den Heuvel übersetzt und adaptiert.
Credits:
Photographer: © Chernetskaya
Lead image: Dreamstime.com
Medscape Nachrichten © 2023
Diesen Artikel so zitieren: „Körperlich und emotional erschöpft, ausgebrannt“ – so fühlen sich Assistenzärzte in Europa: Was sich jetzt ändern muss - Medscape - 15. Nov 2023.
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