Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, der Gründervater der Sowjetunion, ist seit fast 100 Jahren tot – er lebte von 1870 bis 1924. Woran Lenin starb, darum ranken sich bis heute Legenden. War es Syphilis? Eine Bleivergiftung? Oder eine Erbkrankheit? Mit Mediziner und Historiker Ronald D. Gerste blickt coliquio auf das, was wir wissen.
coliquio: Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, gilt als das Gehirn hinter der russischen Revolution. Doch wer war dieser Mann, Herr Gerste?
Gerste: Lenin entstammte einer bürgerlichen Familie. Sein Großvater mütterlicherseits, Israel Blank, war übrigens Arzt. Der junge Wladimir Iljitsch galt nach der Erhebung seines Vaters in den Adelsstand gar als Aristokrat. Er war ein exzellenter Schüler und ein lerneifriger Jurastudent, der mehrere Fremdsprachen erlernte, darunter Englisch, Französisch und Deutsch.
Das prägende Erlebnis für sein weiteres Leben war die Hinrichtung seines 4 Jahre älteren Bruders Alexander Iljitsch Uljanow, der 1887 im Alter von 21 Jahren wegen der Beteiligung an einem geplanten Attentat auf Zar Alexander III. gehängt wurde.
Für Wladimir Iljitsch war es der Beginn seines Hasses auf das zaristische Regime und seines letztlich erfolgreichen Kampfes gegen den autokratischen Herrscher. Er wurde wegen seiner Aktivitäten wiederholt verhaftet und schließlich in die Verbannung geschickt.
Ab 1900 lebte Lenin mit kurzen Unterbrechungen im Exil, zunächst in München, dann in Genf und Zürich. In dieser Phase unternahm er immer wieder Reisen zu Versammlungen mit Gleichgesinnten, unter anderem nach Paris, und schuf die Grundlagen für die Bildung kommunistischer Organisationen in seinem Heimatland und in anderen europäischen Ländern.
Seine Rückkehr nach Russland und sein Eintritt in die Weltgeschichte geschah dann mit freundlicher Unterstützung des erzkonservativen wilhelminischen Militärregimes im berühmten „plombierten Sonderzug“ im April 1917.
coliquio: Über die Todesursache Lenins wird bis heute viel spekuliert: Im Raum stehen Arteriosklerose, eine Vergiftung, aber auch Syphilis. Was hat es mit der These einer Syphilis-Erkrankung auf sich?
Gerste: Diese These ist nie weder zweifelsfrei bestätigt noch je widerlegt worden. Das hat mit der Dokumentation und dem Wert von Zeugenaussagen in einer noch jungen, sich bedroht fühlenden und sich ihrer tatsächlichen wie vermuteten Feinde rücksichtlos entledigenden Diktatur zu tun.
Außerdem spielt auch die Heiligenverehrung des Gründervaters eine Rolle, die man ihm in der Sowjetunion und weltweit zu Lebzeiten und teilweise bis heute entgegengebracht hat. Vergessen wir nicht: Syphilis zu haben, bedeutete ein Stigma. Das passt nicht zum selbstlosen Befreier des internationalen Proletariats und intellektuellem Wegbereiter einer vermeintlichen Moderne.
2 Jahre vor Lenins Tod war ein Labortest auf Syphilis, die Wassermann-Reaktion, negativ ausgefallen – oder vorsichtiger gesagt: angeblich negativ, da anderenfalls ein solcher Beleg für die Lustseuche zweifellos von der Sowjetführung vertuscht oder gefälscht worden wäre. Es sind Indizien, die für die These einer Neurolues sprechen.
Als in Lenins letzten Jahren ausländische Ärzte an sein Krankenlager gerufen wurden, gehörte dazu auch der deutsche Neurologe und Syphilis-Experte Prof. Dr. Max Nonne vom Krankenhaus Hamburg-Eppendorf, der auf die Frage nach den Ursachen für Lenins angeschlagene Gesundheit die sibyllinische Antwort gab: „Jeder weiß doch, für welche Gehirnkrankheiten man mich holt.“
Wenig Zweifel am Grundleiden Lenins scheint auch der Physiologe Iwan Pawlow (nach dem der berühmte Reflex benannt ist) gehabt zu haben, der Lenin mit den Worten charakterisierte: „Er war der typische Patient, der an einer progressiven Paralyse leidet.“ Die progressive Paralyse, eine fortschreitende Lähmung, ist eine charakteristische Erscheinung der Neurolues.
2 Pathologen, die der Obduktion beiwohnten, vertraten die Ansicht, dass Lenins Gehirn eindeutig Zeichen der Neurolues aufgewiesen hat; ihre Unterschriften wurden vom offiziellen Protokoll der Obduktion – von dem es mindestens 3, möglicherweise aber 8 Varianten geben soll – getilgt. Nach Öffnung sowjetischer Archive sind ferner explizite Anweisungen des Gesundheitskommissars Nikolai Semashko an den Chefpathologen Alexei Abrikosov gefunden worden, wonach dieser Hinweise auf eine Syphilis explizit zu verneinen habe.
coliquio: Am 30. August 1918 wird Lenin Opfer eines Attentats. Fanny Kaplan feuert mehrmals und trifft Lenin an Schulter und Lunge und verfehlt nur knapp die Aorta. Wie gingen die behandelnden Ärzte vor?
Gerste: Die 28-jährige Frau feuerte aus kurzer Entfernung 3 Schüsse aus einem Revolver auf Lenin ab, der gerade in einer Fabrik eine Rede vor Arbeitern gehalten hatte. 2 renommierte Ärzte, die Professoren Wladimir Rozanow und Wladimir Mints, wurden umgehend in den Kreml gerufen. Eine Kugel steckte in seiner Schulter, eine zweite und weit gefährlichere hatte seine Lunge durchschlagen, die Aorta nur um einen Zentimeter verfehlt und war unter dem Schlüsselbein zu liegen gekommen.
Die beiden Professoren reinigten die Wunden, führten Lenin Sauerstoff zu und verbanden den Patienten. Eine Operation nahmen sie nicht vor – möglicherweise war die Aussicht, dass ihnen der Führer der Revolution auf dem OP-Tisch sterben könnte, nicht sehr motivierend.
Erst 4 Jahre später wurde die Kugel aus der Schulter entfernt, die andere blieb bis zu seinem Tod in Lenins Körper. Die Operation nahm der deutsche Chirurg Julius Borchardt vor; Lenins Umfeld vermutete, dass die zunehmenden Kopfschmerzen des Revolutionärs möglicherweise auf eine Bleivergiftung zurückzuführen sein könnten.
coliquio: Anfang 1921 verschlechtert sich der Gesundheitszustand Lenins erneut. Ende Mai des gleichen Jahres erleidet er einen Schlaganfall. Wie behandelten die Ärzte den prominenten Patienten in den darauffolgenden Monaten?
Gerste: Die therapeutischen Möglichkeiten nach einem Apoplex waren damals sehr bescheiden und vor allem symptomatisch. So gab man ihm gegen seine weiter bestehenden Kopfschmerzen zeitgemäße Analgetika, und man versuchte, vermeintlich seinen Zustand verschlimmernde Reize von ihm fernzuhalten und ihm Ruhe angedeihen zu lassen. Vor allem Geräusche konnten ihn so peinigen, dass aus seinem Telefon die Klingel entfernt wurde.
Seine Arbeitsfähigkeit war so massiv eingeschränkt, dass er meist nach einigen Minuten erschöpft war. Es gelang ihnen, Lenin für einige wenige kurze Auftritte in der Öffentlichkeit einigermaßen zu stabilisieren und seine Lähmungen zu verbergen. Das Publikum antwortete mit (typischerweise inszenierten) Jubelstürmen, doch wer ihn von früher kannte, sah die einschneidenden Veränderungen.
Dass Lenin die Hilflosigkeit der Mediziner erkannt hatte, zeigt auch die weitere Epikrise: Am 13. und 15. Dezember 1922 erlitt Lenin in schneller Abfolge 2, möglicherweise 3, nach einer anderen Zählung gar bis zu 7 Schlaganfälle. Dass er sich mit einer Hoffnung auf Genesung an seine Ärzte wandte, ist nicht bekannt.
Eine Woche darauf bat er stattdessen Josef Stalin, der in die Führungsriege der Bolschewisten aufgestiegen war und sich – wie sich zeigen sollte – berechtigte Hoffnungen machte, Lenins Nachfolger zu werden, um Gift „aus humanitären Gründen“. Stalin lehnte es ab, dem Genossen Lenin diesen Wunsch auf Sterbehilfe zu erfüllen.
coliquio: Am Abend des 21. Januar 1924 stirbt Lenin schließlich nach einem weiteren Schlaganfall. Wie reagierte die Öffentlichkeit im Land und auf der Welt auf die Nachricht seines Todes?
Gerste: Nach der Überführung seines Leichnams aus der Kleinstadt Gorki, wo Lenin auf dem idyllisch gelegenen Landgut eines enteigneten Industriellen seine letzten Monate verbracht hatte und gestorben war, nach Moskau säumten Hunderttausende die Straßen und standen Stunden in der Schlange, um an seinem Sarg vorbei zu defilieren – und dies in einem selbst für russische Verhältnisse harten Winter mit Temperaturen bis zu -30° Celsius. Die Betroffenheit dieser Menschen über den Verlust einer von der Propaganda als Vaterfigur dargestellten Persönlichkeit war echt.
Zigtausende, die anderer Meinung über den Mann und sein Werk waren, vegetiertem im Gulag vor sich hin oder lagen in Massengräbern. Der längst spürbare Lenin-Kult wurde nun vom Staat weiter instrumentalisiert, indem man seinen Leichnam einbalsamieren und im bald darauf errichteten Lenin-Mausoleum exhibitionieren ließ. Dort kann man noch heute einen der Großen der Weltgeschichte aus wenigen Metern Entfernung sehen (und unter den wachsamen Augen des uniformierten Personals, die sofort eingreifen, falls nicht die anberaumte Stille eingehalten oder gar versucht wird, eine Kamera zu zücken).
Und natürlich war die Trauer auch bei seinen Anhängern außerhalb von Russland tief. Gegner des Kommunismus erahnten, dass es unter seinem Nachfolger Stalin – dessen Machtübernahme Lenin mit seinem berühmten, bereits unter dem Einfluss seiner Krankheit verfassten und viele Jahre offiziell unter Verschluss gehaltenem „Testament“ vergeblich hatte zu verhindern versucht – noch schlimmer kommen würde. Winston Churchill fasste seine Sicht des Schicksals der Menschen in Russland in den Worten zusammen: „Lenins Geburt war ihr größtes Unglück, sein Tod ihr zweitgrößtes.“
coliquio: Das Gehirn Lenins fasziniert die Medizin von der ersten Obduktion an. Welche Erkenntnisse sind dazu heute bekannt, und welche Rolle spielt dabei ein deutscher Arzt?
Gerste: Was bei der Obduktion zunächst noch mehr faszinierte als das Gehirn war der Zustand der Gefäße. Als die Pinzette des Pathologen die Arterien im Hirn des Verstorbenen berührte, klang es wie das Kratzen an einem Stein. Kaum einer der um den Obduktionstisch versammelten Experten dürfte je zuvor eine derartige Arteriosklerose gesehen haben – bei einem nur 53 Jahre alten Patienten.
Das Erschreckendste war indes der Anblick der großen Halsschlagader, deren Querschnitt nach der Durchtrennung mit dem Skalpell die Pathologen ungläubig betrachteten. „Der Durchmesser der linken Arteria carotis war so eng“, notierte Prof. Victor Osipov, „dass nur ein Borstenhaar hindurch passte. Die Arterie des Hirnstamms war ebenso verengt, dass ihre Öffnung einer Stecknadel glich.“
Lenins Arteriosklerose, für die unabhängig von der Syphilis-These eine hereditäre Pathogenese verantwortlich gewesen sein dürfte – auch sein Vater und seine Geschwister litten unter „Verkalkungen“ – war geradezu monströs.
Lenins Gehirn wurde umgehend einer wissenschaftlichen Analyse unterzogen, galt es doch herauszufinden, welche morphologischen Veränderungen des ZNS für eine solche Genialität verantwortlich sind. Es wurde unmittelbar nach seinem Tod entnommen und in Formalin eingelegt. In Moskau wurde unter Leitung des deutschen Neurologen Oscar Vogt ein nur für diese Untersuchung bestimmtes Labor aufgebaut.
Gesund war das Gehirn auch für einen Laien nicht, denn der Künstler Juri Annenkow, der das zunächst in einem Glas aufbewahrte Organ sah, berichtete, dass eine Hälfte tadellos erhalten sei, die andere indes „verschrumpelt, zerdrückt und nicht größer als eine Walnuss.“ Vogt arbeitete ab Frühjahr 1925 mit einem Assistenten an Lenins Gehirn und nahm die erstaunliche Zahl von 30.953 jeweils 20 Mikrometer dünnen Schnitten vor.
Nach Jahren des Studiums dieser Schnitte verkündete Vogt, dem die Sowjets in Moskau ein eigenes Institut bauten, dass die „Pyramidenzellen bei Lenin bei Weitem stärker entwickelt waren, die verbindenden Assoziationsfasern zwischen ihnen bei Weitem zahlreicher...“ und schlussfolgerte ganz im Sinne seiner Auftraggeber: „Aus all diesen Gründen lässt unser hirnanatomischer Befund Lenin als einen Assoziationsathleten erkennen.“
coliquio: Aus heutiger Sicht: Welche Empfehlungen würden Sie dem Patienten Lenin im Gespräch mitgeben?
Gerste: Ich freue mich, dass diese Frage rein hypothetisch ist, denn als Arzt muss man jedem Patienten helfen – auch wenn dieser auf den Mediziner noch so abstoßend wirkt. Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, hat über sein Land, dessen Nachbarn und die Welt unermessliches Elend gebracht; er war ein emotional kalter Massenmörder.
Wer in Stalin die Aberration, die frevlerische Abweichung von etwas potenziell Gutem sehen will, verschließt seine Augen vor der Realität der Jahre 1917 bis 1924. Die Zahl der Toten ging bereits in der relativ kurzen Ära Lenins in die Millionen; Folter, Gulag und Massenmord waren längst etabliert und wurden von Lenin gutgeheißen.
Mit seiner absoluten Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern seiner Ideologie und seiner Befürwortung des Terrors als Mittel zum politischen Zweck hatte er einen Weg gebahnt, den Stalin entschlossen weiter ging. Nicht als Irrweg, sondern als Kontinuum.
Eine Empfehlung würde ich daher eher Lenins Eltern für den Sommer 1869 geben wollen, und diese wäre präventiver Natur.
Ronald D. Gerste: „Die Heilung der Welt“
In seinem Buch „Die Heilung der Welt“ nimmt der Arzt und Historiker Ronald D. Gerste die Leser mit auf eine spannende Reise in das goldene Zeitalter der Medizin. Die Jahrzehnte zwischen 1840 und 1918 gelten als eine Zeit voller umwälzender Ereignisse, Erfindungen und fortschrittlicher Neuerungen. Auch die Entwicklung hin zu einer modernen Medizin vollzog sich in diesen Jahren: das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper und dessen Leiden veränderte sich nachhaltig.
Ronald. D. Gerste, geboren 1957, ist Arzt und Historiker. Seit seinen Studientagen fasziniert ihn der Einfluss, den medizinische Faktoren auf den Ablauf der Geschichte haben. Gerste lebt seit vielen Jahren als Korrespondent und Buchautor in Washington, D.C., und schreibt dort vor allem für die „Neue Zürcher Zeitung“ und die „FAS“, für „Damals“, für das „Deutsche Ärzteblatt“ und andere wissenschaftliche Zeitschriften.
Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Coliquio.de.
Credits: Lead Image: Dreamstime
Image 1: Wikimedia
Image 2: Wikimedia
Image 3: Bundesarchiv, Bild 102-01169 / CC-BY-SA 3.0
Medscape © 2023 WebMD, LLC
Die dargestellte Meinung entspricht der des Autors und spiegelt nicht unbedingt die Ansichten von WebMD oder Medscape wider.
Diesen Artikel so zitieren: Das kranke Gehirn hinter der roten Revolution: Lenin litt unter mehreren Schlaganfälle und vermutlich Syphilis - Medscape - 13. Nov 2023.
Kommentar