Bei Sportverletzungen, Arthritis und mehr: Mit Smartphone und KI-App Bewegungsmuster erfassen – in nur 10 Minuten

Sarah Amandolare

Interessenkonflikte

9. November 2023

Das Labor zur Diagnostik der körperlichen Leistungsfähigkeit der Universität Stanford befindet sich neben der Klinik für Physiotherapie. Orthopädische Chirurgen kommen daher häufig vorbei, um biomechanische Analysen für ihre Patienten in Auftrag zu geben, etwa für Sportler nach mehrmaligen Verletzungen. „Es würde Tage dauern, um alle Daten zu analysieren“, sagt Dr. Scott Uhlrich, Forschungsleiter des Labors. Deshalb werde dies nur wenige Male pro Jahr gemacht.

Uhlrich und andere Bioingenieure in Stanford haben jetzt eine App entwickelt, die Bewegungen in weniger als 10 Minuten erfasst. Die neue Technologie könnte helfen, Mobilitätsprobleme zu vermeiden oder Patienten besser zu versorgen. Sie könnte auch Forscher dabei unterstützen, große Wissenslücken über die menschliche Mobilität zu schließen [1].

Smartphone-App mit künstlicher Intelligenz

Die App mit dem Namen OpenCap nutzt Smartphone-Videos, künstliche Intelligenz (KI) und computergestützte biomechanische Modellierung, um Bewegungen zu analysieren. Sie ist derzeit für die Forschung und die Lehre kostenlos erhältlich. Model Health, ein Start-up, bietet darüber hinaus kostenpflichtige Lizenzen für die kommerzielle Nutzung.

Und so funktioniert die App: Das von 2 Smartphones aufgenommene Filmmaterial menschlicher Bewegungen wird in die Cloud hochgeladen, wo ein Algorithmus eine Reihe von Punkten auf dem Körper identifiziert. Die App basiert auf Computer-Vision-Algorithmen, einer Form der künstlichen Intelligenz, die Computer darauf trainiert, visuelle Daten zu „verstehen“, in diesem Fall die Körperhaltung einer Person.

Anschließend quantifiziert die App, wie sich der Körper im dreidimensionalen Raum bewegt. Modelle des Muskel-Skelett-Systems geben Aufschluss über diese Bewegung, etwa über den Winkel eines Gelenks, über die Dehnung einer Sehne oder über die Kraft, die von Gelenken übertragen wird.

„Das sind Größen, die mit Verletzungen und Krankheiten zu tun haben“, sagte Uhlrich, Mitautor einer Studie, in der die App vorgestellt wurde. „Wir müssen an diese Größen herankommen, um Informationen für die medizinische Forschung und die ärztliche Praxis zu erhalten.“

Der herkömmliche Ansatz für solche Analysen erfordert spezielles Fachwissen und kostet 150.000 Dollar. Im Gegensatz dazu ist die App kostenlos und einfach zu bedienen. Sie „demokratisiert“ die menschliche Bewegungsanalyse, sagte der Hauptautor der Studie, Prof. Dr. Scott Delp. Er ist Professor für Biotechnik und Maschinenbau in Stanford. Die Forscher hoffen nun auf einen Nutzen für Patienten in aller Welt.

Offene Fragen der Orthopädie

Zum Hintergrund: Vieles an der menschlichen Mobilität ist bislang rätselhaft. Bei alternden Erwachsenen können Forscher nicht sagen, wann das Gleichgewichtsempfinden nachlässt – und wie schnell dies geschieht. Weitere offene Fragen sind, wann Sportverletzungen entstehen und wie rasch degenerative Gelenkerkrankungen, beispielsweise Arthritis, voranschreiten. „Wir verstehen den Beginn vieler Dinge nicht wirklich, weil wir ihn einfach nie gemessen haben“, so Uhlrich.

Mehr Wissen aus klinischen Studien

OpenCap könnte dazu beitragen, dass sich das grundlegend ändert. Obwohl Biomechanik-Studien in der Regel klein sind – im Durchschnitt umfassen sie nur 14 Teilnehmer – könnte die App dank ihrer geringen Kosten und ihrer einfachen Handhabung viel größere Studien ermöglichen. In einer Studie sammelte die App Bewegungsdaten von 100 Teilnehmern in weniger als 10 Stunden und berechnete die Ergebnisse in 31 Stunden. Bei konventioneller Herangehensweise hätten die Arbeiten rund 1 Jahr gedauert.

 
Wir verstehen den Beginn vieler Dinge nicht wirklich, weil wir ihn einfach nie gemessen haben. Dr. Scott Uhlrich
 

„Studien mit Hunderten werden üblich sein, und mit Tausenden werden machbar sein, vor allem, wenn Bewertungen [der Bewegungen] Teil der Klinikbesuche sind“, sagte Uhlrich. Schon jetzt würden etwa 2.600 Forscher in aller Welt die App nutzen. Viele von ihnen hätten zuvor noch nie eine dynamische Simulation erstellt.

„Die Möglichkeiten sind endlos“, sagte Prof. Dr. Eni Halilaj, Assistenzprofessor für Maschinenbau an der Carnegie Mellon, der nicht an der Entwicklung der App beteiligt war. Das gelte vor allem für „sehr heterogene Bedingungen, die wir durch traditionelle Studien mit einer begrenzten Anzahl von Patienten nicht vollständig charakterisieren konnten“.

In einem Fall untersuchte Prof. Dr. Reed Gurchiek, ein ehemaliger Stanford-Postdoc und jetziger Professor an der Clemson University, mit der App Verletzungen der hinteren Oberschenkelmuskulatur beim Sprinten. Er stellte fest, dass sich diese Muskeln bei der Beschleunigung schneller dehnen als beim Laufen mit konstanter Geschwindigkeit.

„Dies stimmt mit den höheren Verletzungsraten überein, die beobachtet werden, wenn Sportler beschleunigen“, erklärte Uhlrich. „Studien zu Sprints mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten sind im Labor nicht möglich, so dass die Portabilität von OpenCap dies erst ermöglicht hat.“

Bewegung als Biomarker

Forscher nutzen die App bereits, um das Risiko für vordere Kreuzbandverletzungen bei jungen Sportlern und um Störungen des Gleichgewichts zu messen.

Eines Tages könnte die Technologie routinemäßige Vorsorgeuntersuchungen ergänzen und Bewegungen als Biomarker etablieren. Indem Ärzte Patienten einige Bewegungen ausführen lassen, z.B. Gehen oder Aufstehen, könnten sie deren Krankheitsrisiko, Krankheitsverlauf oder Sturzrisiko beurteilen.

 
Wenn wir die Technologie mit einer Intervention verbinden könnten, wäre das sehr wertvoll. Prof. Dr. Pamela Toto
 

Eine übermäßige Belastung des Kniegelenks birgt beispielsweise ein höheres Risiko für Arthrose, aber Ärzte haben keinen einfachen Zugang zu diesen Informationen. Die Krankheit wird in der Regel erst nach dem Auftreten von Symptomen diagnostiziert, obwohl Interventionen schon viel früher möglich wären.

„Die Prävention ist immer noch nicht so weit verbreitet, wie sie sein sollte“, sagt Prof. Dr. Pamela Toto, Professorin für Ergotherapie an der Universität Pittsburgh, die ebenfalls nicht an der Entwicklung der App beteiligt war. „Wenn wir die Technologie mit einer Intervention verbinden könnten, wäre das sehr wertvoll.“

Der Beitrag ist im Original erschienen auf www.medscape.com . Er wurde von Michael van den Heuvel übersetzt und adaptiert. 
 

Kommentar

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