Opfer von sexueller Gewalt sollen zukünftig bessere Möglichkeiten erhalten, die erlittenen Taten anzuzeigen. Der §132k SGB V („vertrauliche Spurensicherung“) ermöglicht es seit 2020, die Taten auch dann noch anzuzeigen und gerichtsfest zu belegen, wenn die äußeren Spuren der Tat schon lange nicht mehr festzustellen sind. Niedersachsen ist das erste Bundesland, das eine entsprechende Regelung zur Finanzierung durch die Krankenkassen getroffen hat.
Die Zahlen sind bedrückend: Das Bundeskriminalamt zählte im vergangenen Jahr rund 240.000 Opfer häuslicher Gewalt in Deutschland. 157.000 davon wurden Opfer von Partnerschaftsgewalt. Zu rund 80% waren Frauen die Betroffenen, zu 20% waren es Männer. Das Dunkelfeld ist nach Darstellung der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) weitaus größer. Danach ist wahrscheinlich jede 4. Frau von Partnergewalt betroffen.
Scham, Angst und Bedrohungen hindern die Opfer oft daran, rasch zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Wenn die Betroffenen dann doch den Mut fassen, sind die Gewalttaten oft nicht mehr nachweisbar. Spuren und Befunde fehlen.
Angst, Scham und Bedrohung hindern die Opfer zunächst, zu Polizei zu gehen
Schon seit 2012 bietet darum das vom Land finanzierte Niedersächsische Netzwerk „ProBeweis“ die vertrauliche Spurensicherung verfahrensunabhängig an. Bisher wurde das Angebot, das an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) angesiedelt ist, vom Land Niedersachsen finanziert. Das wird nun anders: Auf Antrag der Länder sollen die Kassen mit Einrichtungen oder Ärzten in jedem Bundesland die Bedingungen der Abrechnung durch die Krankenkassen verhandeln.
Niedersachsen ist das erste Land, in dem die Krankenkassen einen Vertrag unterschrieben haben. Die bisherige Landesförderung von 100.000 Euro im Jahr wird damit auf 410.000 Euro aufgestockt. So können auch nicht versicherte oder privat versicherte Opfer an dem Programm teilnehmen. Die Vereinbarung soll Anfang 2024 in Kraft treten.
Speziell in der gerichtsfesten Verletzungsbegutachtung und Spurensicherung fortgebildete Ärztinnen und Ärzten nehmen die Untersuchungen vor, entweder im Institut für Rechtsmedizin der MHH oder in einer der 39 Partnerkliniken in Niedersachsen. Die Untersuchung folgt einem standardisierten Leistungskatalog und umfasst unter anderem Aufklärung und Einwilligungen der Patientinnen und Patienten, eine ärztliche Untersuchung mit Ausfüllen des standardisierten Untersuchungsbogens, körperliche Untersuchung und gegebenenfalls fotografische Dokumentation und anogenitale Inspektion, so die MHH.
Das Angebot ist für die Betroffenen kostenlos. Die ärztliche Schweigepflicht wird garantiert. Persönliche Daten werden nicht an die Krankenkassen weitergegeben.
Einzelne Niedergelassene können nicht an dem Programm teilnehmen, da die klinischen Voraussetzungen fehlen, wie etwa ein Rund-um-die-Uhr-Service, eine Ambulanz-Chirurgie oder eine Gynäkologie, sagt der Sprecher des Niedersächsischen Gesundheitsministeriums, Sebastian Schumacher zu Medscape.
Bisher meist nur eine forensische Untersuchung, wenn das Opfer die Tat anzeigt
Bisher findet in Deutschland eine forensische Untersuchung der Opfer fast ausschließlich nur dann statt, wenn nach einer Strafanzeige dem Verdacht auf sexuelle und/ oder körperlich Gewalt nachgegangen wird. Ohne Strafanzeige gibt es keine geregelten Zugangswege, keine zuständigen Kliniken und so auch meist keine rechtsmedizinische Untersuchung. Spuren und Beweise gehen verloren und die Strafverfolgung der Täter ist kaum oder gar nicht mehr möglich. Die MHH spricht in diesen Fällen von der Möglichkeit einer „sekundären Viktimisierung des Opfers“.
Gesetzlicher Hintergrund des Vorhabens ist §132k SGB V. Er wurde im Februar 2020 ins Gesetzbuch aufgenommen. Danach sollen die Krankenkassen mit Einrichtungen und Ärzten Leistungen der vertraulichen Spurensicherung nach Misshandlungen, sexuellen Missbrauchs oder Übergriffs verhandeln. „Die Leistungen werden unmittelbar mit den Krankenkassen abgerechnet“, heißt es in dem Abschnitt.
Zugleich legte der Gesetzgeber in §27 Abs. 6, Satz 6 SGB V fest: „Zur Krankenbehandlung gehören auch Leistungen zur vertraulichen Spurensicherung am Körper, einschließlich der erforderlichen Dokumentation sowie Laboruntersuchungen und einer ordnungsgemäßen Aufbewahrung der sichergestellten Befunde (…).“
„Die Anerkennung der vertraulichen Spurensicherung als Kassenleistung stellt einen Meilenstein im Umgang mit dem Thema häuslicher und sexueller Gewalt dar“, sagt Prof. Annette Debertin, Gerichtsmedizinerin an der MHH und Leiterin des Projektes „ProBeweis“. „Niedersachsen profitiert von der Verstetigung der Strukturen vom Netzwerk ProBeweis, auch zur flächendeckenden Umsetzung der sogenannten Istanbul-Konvention.“ Die Konvention ist das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ vom Mai 2011.
Fanden Sie diesen Artikel interessant? Hier ist der Link zu unseren kostenlosen Newsletter-Angeboten – damit Sie keine Nachrichten aus der Medizin verpassen.
Credits:
Photographer: © Tinnakorn Jorruang
Lead Image: Dreamstime
Medscape Nachrichten © 2023 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: „Meilenstein gegen häusliche Gewalt“: Vertrauliche Spurensicherung bald als Kassenleistung – Niedersachsen macht es vor - Medscape - 8. Nov 2023.
Kommentar