Berlin – Der Mangel an Krankenpflegekräften, er besteht weltweit. Und er stellt die Gesundheitssysteme allerorten – wenn auch auf unterschiedliche Weise – vor enorme Herausforderungen. Wie diesen schnellstmöglich zu begegnen ist, darüber diskutierten Pflegefachleute beim diesjährigen World Health Summit in Berlin [1].
Unter dem Titel „Krankenpflege neu überdenken“ plädierten sie für neue Rollen- und Kompetenzmodelle für Krankenschwestern und -pfleger und globale Pflegestandards mit länderspezifischer Anpassung. So könnten Kompetenzerweiterungen für Pflegekräfte in multiprofessionellen Teams gerade auch in Deutschland dazu beitragen, die Attraktivität der Pflegeberufe zu steigern und die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung auf einem möglichst hohen Niveau zu sichern.
Bachelor-Abschluss als Mindestanforderung?
„Wir glauben, dass das Problem des Pflegekräftemangels – der durch die COVID-Pandemie noch beschleunigt wurde – nur zu lösen ist mit Einbeziehung der Bereiche Ausbildung, Qualifikation, Kompetenzerwerb und gesetzliche Regelung bei den Pflegeberufen“, betonte Moderatorin Dr. Rebecca Graystone vom American Nurses Credentialing Center. Ebenso wichtig dabei sei die Berücksichtigung des Arbeitsumfelds von Pflegenden.
Die Pflege-Ausbildung ist einer der Kernpunkte der WHO-Publikation zur globalen strategischen Ausrichtung für Krankenpflege und Hebammenwesen 2021 bis 2025, die Dr. Amelia Latu Afuhaamango Tuipulotu, Chief Nursing Officer der WHO erläuterte: „So hat sich z.B. gezeigt, wie wichtig ein Bachelor-Studium für eine sichere und qualitativ hochwertige Pflege ist.“ Dem WHO-Dokument zufolge wird sogar zunehmend gefordert, dass die Mindestausbildung von Krankenschwestern und Hebammen auf dem Niveau eines Bachelor-Abschlusses vereinheitlicht werden sollte.
Komplexität der Krankenpflege
„Krankenpflegekräfte sind das Rückgrat der Gesundheitsversorgung, dabei ist Krankenpflege ein sehr komplexes Phänomen“, sagte Dr. Wentao Zhou vom Centre for Nursing Studies der Universität Singapur. Zu den zahlreichen Herausforderungen von Pflegenden gehörten u.a.:
die Diversität der Patienten nicht nur im Hinblick auf ihre Krankheiten, sondern auch auf ihre Herkunft und den sozialen Status,
der Mangel an Pflegekräften und deren hohe Arbeitsbelastung,
die Komplexität interdisziplinärer Zusammenarbeit bzw. Kommunikation,
schnelle technologische Fortschritte,
die Zunahme von Krisen im Bereich der öffentlichen Gesundheit und Naturkatastrophen sowie
schnelle Veränderungen bei medizinischem und pflegerischem Wissen.
„Alle diese Herausforderungen beeinflussen direkt oder indirekt das Wohlbefinden von Pflegenden, denn sie müssen in der Lage sein, diese Herausforderungen auch zu bewältigen“, so Zhou.
Ökosystem der Gesundheitsversorgung
Voraussetzung für ein funktionierendes „Ökosystem der Gesundheitsversorgung“ ist nach den Worten der Pflege-Dozentin aus Singapur eine in mehrerlei Hinsicht stabile Personalsituation bei Pflegekräften: „Deshalb ist die Investition in Krankenpflege so wichtig“, betonte Zhou.
Im Fokus stehen sollten dabei zum einen das Wohlbefinden der Pflegenden als Individuen – indem darauf Wert gelegt wird, dass sie körperlich und mental gesund sind, über klinische und soziale Kompetenz verfügen und respektiert werden. Zum anderen sei die Kompetenz der Pflegedienstleiter gefragt, um Hierarchien zu reduzieren, die berufliche Entwicklung der Pflegekräfte zu unterstützen und diese einzuladen, eigene Ideen etwa im Hinblick auf organisatorische Abläufe einzubringen.
Deutschland: 35.000 Pflegekräfte zu wenig, nur minimale Akademisierung
Die schwierige Situation der Krankenpflege in Deutschland, aber auch mögliche Problemlösungen dafür erläuterten Carla Eysel, Vorstand für Personal und Pflege an der Charité Universitätsmedizin Berlin, und Helene Maucher, Leiterin des Bereichs Unternehmensstrategie Pflege der Sana Kliniken. Ihr zufolge fehlen hierzulande mehr als 35.000 Krankenschwestern und -pfleger, um den gegenwärtigen medizinischen Standard auch weiterhin zu gewährleisten. Weniger Menschen beginnen eine krankenpflegerische Berufsausbildung und von denen, die sie beginnen, halten nur rund 70% bis zum Abschluss durch.
Ganz weit entfernt sind Krankenpflegende in Deutschland von den Zielen einer Akademisierung des Berufs mit dem Abschluss Bachelor oder Master: So betrug die Akademisierungsquote angehender Pflegefachpersonen nach Zahlen des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) im Jahr 2021 weniger als 2%. Wobei der akademische Abschluss dieser Personen meist nur in Management- und nicht in klinischen Positionen zur Geltung kommt.
Ganz anders sieht es dagegen im Ausland aus: So ergab eine Ländervergleichsstudie von 2019, dass der Anteil der Pflegeabsolventen mit abgeschlossenem Pflegestudium in den Niederlanden bei 45% und in Schweden und Großbritannien bei 100% lag.
Akademische Abschlüsse kaum attraktiv
„Deutschland“, so Carla Eysel von der Charité, „ist zwar ein Land der Ersten Welt, das jedoch damit kämpft, Krankenpflegekräften attraktive Arbeitsbedingungen anzubieten.“ Auch wenn die Ausbildung hierzulande recht gut sei, so entspreche sie nicht internationalen Anforderungen. „Bachelor- und Master-Abschlüsse sind für Pflegekräfte hierzulande nicht attraktiv, da der danach im Klinikbereich zulässige Tätigkeitsbereich nicht ihren Kompetenzen entspricht.“
Eysel nannte als Beispiele die in Deutschland aufgrund rechtlicher Einschränkungen fehlende Erlaubnis, auch als akademisch ausgebildete Pflegekraft selbstständig Diagnosen zu stellen, Medikamente zu verschreiben oder zu impfen – was z.B. in den USA durchaus in den Tätigkeitsbereich von „Nurse Practitioners“ fallen kann.
Zu den Konsequenzen, falls dem Mangel an Krankenpflegekräften nicht wirksam begegnet wird, zählte Helene Maucher:
weiter zunehmende Arbeitsbelastung der in der Krankenpflege Tätigen,
zunehmende Abwanderung von Arbeitskräften,
längere Wartezeiten für Patienten,
Abnahme der Behandlungsqualität,
Risiko der Schließung ganzer Einrichtungen und
negative Auswirkungen auf das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik.
Lösungsvorschläge: Autonome Rollen, erweiterte Kompetenzen
Wie sehen nun Lösungsvorschläge für das Problem des Pflegekräftemangels hierzulande aus? „Wir sollten uns vorstellen und darauf hinarbeiten, dass Krankenpflege auch bei uns ein Beruf mit hoher sozioökonomischer Akzeptanz und autonomen Rollen sein kann, die sich nach dem jeweiligen Ausbildungsgrad richten und gesetzlich geregelt sind“, so Eysel. „Bachelor- bzw. Master-Abschlüsse sollten dabei zu den Rollen von Nursing Practitioners mit entsprechend erweiterten Kompetenzen und adäquaten Gehaltszahlungen führen.“
Je nach Sektor und Stellenanforderung wären weitere Rollenspezialisierungen (wie etwa zu Community Health Nurses) möglich. Ein solches System wäre Helene Maucher zufolge auch für internationale Arbeitskräfte attraktiv, wenn in- und ausländische Ausbildungsgrade kompatibel sind. Darüber hinaus sei mehr Digitalisierung am Arbeitsplatz nötig, um die Attraktivität des Pflegeberufs zu verbessern.
Chancen, den vorgenannten Zielen näher zu kommen, sehen die beiden Pflegeexpertinnen in den aktuellen Gesetzesinitiativen für ein Krankenhaustransparenzgesetz und die Krankenhausreform: „Diese Initiativen könnten die Rahmenbedingungen für eine stärkere Akademisierung und mehr autonome Tätigkeitsbereiche des Pflegeberufs liefern und damit helfen, auch künftig eine Gesundheitsversorgung auf hohem Niveau zu sichern“, resümierte Eysel: „Zeit zu handeln ist jetzt.“
Pflegemanagement für mehr Betten
Welche Auswirkungen eine Strukturreform in einer großen schwedischen Klinik hatte, darüber berichtete Klara Karlsson vom Karolinska Universitätskrankenhaus in Stockholm. Nachdem dort früher ausschließlich Ärztinnen und Ärzte leitende Stellungen innehatten, wurden solche Positionen nach 2019 zunehmend auch mit Pflegemanagern besetzt. Mit einher gingen weitere strukturelle Veränderungen mit intensiverer Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Krankenhausbereichen.
„Die Aufgaben, mit denen Pflegemanager fortan betraut wurden, betrafen Budget, Betten und Operationen“, erklärte Karlsson. „Denn ob ein Bett frei und Pflegepersonal dafür einsetzbar ist, weiß eine Pflegekraft besser als eine Ärztin oder ein Arzt.“ Das Ergebnis der Umstrukturierung: Mit dem gleichen Personal habe die Bettenkapazität des Universitätskrankenhauses um rund 20% gesteigert werden können.
Und noch etwas gab Karlsson zu bedenken: „Unser Gesundheitssystem wurde vor mehr als 100 Jahren konzipiert. Es ist unsere Verantwortung, es angesichts der heutigen und in Zukunft zu erwartenden Herausforderungen zu verändern und umzugestalten.“
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Credits:
Photographer: © Syda Productions
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Diesen Artikel so zitieren: Pflegekräftemangel weltweit – allein 35.000 fehlen in Deutschland: Ideen vom World Health Summit sollen dies ändern - Medscape - 8. Nov 2023.
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