Frauen sind in der gesamten Onkologie benachteiligt: bei der Prävention, der Diagnostik und der Therapie, in der Pflege und in der Forschung. Eine Lancet-Kommission hat dies im Beitrag „Frauen, Macht und Krebs“ dokumentiert. Sie fordert einen feministischen Ansatz, um für Patientinnen, weibliche Pflegefachkräfte und Forscherinnen gerechte Verhältnisse zu schaffen [1].
Dr. Ophira Ginsburg vom National Cancer Institute hat den Bericht zusammen mit einem multidisziplinären und internationalen Team, darunter Spezialistinnen und Spezialisten für Gender-Studien, Recht, Wirtschaft, Sozialwissenschaften, Krebsepidemiologie, -prävention und -behandlung, erarbeitet. Gemeinsam mit Patientenvertretern haben sie analysiert, wie Frauen auf der ganzen Welt mit Krebs konfrontiert werden. Dies war Grundlage ihrer Empfehlungen für Regierungen, Gesundheits- und Sozialsysteme. Anschaulich wird der Report durch Fallberichte, begleitet wird er von 2 Kommentaren.n [2,3].
Onkologie: Eine Führungsposition wird Frauen oft nicht zugetraut
Beeindruckend ist der Kommentar von Dr. Monica M. Bertagnolli, die als 1. Frau das US National Cancer Institute NCI leitet und wenige Wochen nach ihrem Amtsantritt selbst eine Brustkrebs-Diagnose erhalten hat. Sie appelliert an die Stärke der Frauen, erzählt von Barrieren in ihrem Beruf und von ihrer Fähigkeit, sich in einer Männerwelt zu behaupten, von Begegnungen mit Patientinnen, die mit Mut und mit Kreativität ihre Krankheit meisterten, und davon, dass manche Patientinnen oder Patienten sie zunächst für eine Krankenpflegerin hielten, aber nicht für eine Chirurgin.
Parallel ist in The Lancet Global Health eine Publikation erschienen, in der Forschende für 185 Länder die Sterblichkeit von 36 Krebsarten abschätzen, jeweils aufgeschlüsselt danach, ob sie durch Prävention vermeidbar oder kurativ behandelbar sind [4].
Lungen- und Darmkrebs werden unterschätzt
Die Benachteiligung von Frauen in der Krebsmedizin ist von großer Tragweite, denn Krebs gehört für Frauen unter 70 Jahren in fast allen Ländern zu den 3 häufigsten Todesursachen. Weltweit summiert sich diese Zahl auf jährlich rund 2,3 Millionen krebsbedingte Todesfälle. „Sie sterben in der Blüte ihres Lebens und haben allein im Jahr 2020 schätzungsweise 1 Million Kinder zurückgelassen“, sagt Dr. Verna Vanderpuye aus Ghana in einer Lancet-Mitteilung.
1,5 Millionen Fälle könnten durch Primärprävention, durch Vermeidung der Hauptrisikofaktoren Rauchen, Alkohol, Übergewicht, Infektionen, oder durch Früherkennung gerettet werden. „Oft liegt der Fokus auf 'Frauenkrebs', wie Brust- und Gebärmutterhalskrebs, aber etwa 300.000 Frauen unter 70 Jahren sterben jedes Jahr an Lungenkrebs und 160.000 an Darmkrebs“, so Dr. Isabelle Soerjomataram von der International Agency for Research and Cancer in der Mitteilung. In vielen reichen Ländern rangieren seit Jahrzehnten Todesfälle durch Lungenkrebs bei Frauen vor dem Tod durch Brustkrebs.
Gefahr um der vermeintlichen Schönheit willen
Zudem häufen sich Hinweise, dass bestimmte Produkte, die überwiegend Frauen nutzen, etwa Brustimplantate, Hautaufheller oder Haarglättungsmittel, die Krebsraten erhöhen.
Ein weiterer Risikofaktor, der Frauen besonders betrifft, ist Übergewicht. Dadurch wurden im Jahr 2020 rund 4% aller Krebsfälle (oder 339 000 Fälle) bei Frauen verursacht: fast doppelt so viel wie bei Männern.
Obwohl das Ausmaß der Adipositas bei beiden Geschlechtern „erschütternd“ sei, hätten Frauen in den meisten Ländern die Hauptlast zu tragen, heißt es in der Publikation. Ausnahmen bilden nur Nord-, Mittel- und Südamerika, wo sie mit Männern, je 50%, im Jahr 2035 gleichauf liegen werden, während in Europa die Männer die Frauen mit 39% zu 35% voraussichtlich sogar überholen.
Bewegungsmangel durch Verbannung ins Haus
Etwas anders ist die Situation in Nordafrika und im Nahen Osten. Bei Männern wird für 2035 eine Adipositas-Rate von 31% prognostiziert, bei Frauen von 41%. Für Frauen in Afrika südlich der Sahara wird eine ähnliche Häufigkeit erwartet, gegenüber 13% bei Männern.
Übergewicht bei Frauen wird unter anderem dadurch begünstigt, dass sie nicht genug Möglichkeiten haben, sich zu bewegen. Dem World Health Statistics Report 2021 zufolge sind 32% der Frauen zu selten körperlich aktiv versus 23% der Männer. Finsteres Beispiel: Afghanistan, wo Frauen weitgehend aus der Öffentlichkeit verbannt worden sind.
Armut verschärft die Ungleichheit weiter. In Ländern, die auf dem Human Development Index (HDI) weit unten liegen, ereignen sich 72% der Krebstodesfälle bei Frauen unter 70 Jahren, verglichen mit 36% in Ländern mit hohem HDI.
Schlechte Bildung macht wehrlos
Generell sind Frauen den Risikofaktoren deshalb in besonderem Maße ausgesetzt, weil sie weltweit geringere Bildungschancen und damit auch weniger Zugang zu Informationen und kompetenten Gesundheitsdiensten haben.
„Weltweit konzentriert sich die Gesundheit von Frauen häufig auf die Reproduktion und auf Mütter, was mit antifeministischen Vorstellungen von der Rolle der Frau einhergeht“, kritisiert Ginsburg.
Der Faktor „Gender“, definiert als soziales Konstrukt, das sich auf Normen, Rollen und Verhaltensweisen für Frauen oder Männer bezieht, beeinträchtigt auch die Therapie. Verliefe sie für alle Frauen optimal, wären jährlich 800.000 vorzeitige Todesfälle vermeidbar.
Weltweit konzentriert sich die Gesundheit von Frauen häufig auf die Reproduktion und auf Mütter, was mit antifeministischen Vorstellungen von der Rolle der Frau einhergeht.
Die Diagnose verzögert sich
Die Diskriminierung beginnt schon bei der Diagnostik. Bei Frauen wird Krebs in weiter fortgeschrittenen Stadien erkannt als bei Männern. Und wenn sie ethnischen und rassischen Minderheiten angehören, erfolgen Diagnosen später als bei weißen Frauen, wie eine Untersuchung bei afroamerikanischen, hispanischen und indianischen Gruppen in den USA zeigt.
Studien zufolge rechnen Frauen bei der Behandlung eher mit Hindernissen, schon bei der Terminvergabe. Oder sie haben bereits schlechte Erfahrungen gemacht. „Von Frauen wird oft erwartet, dass sie sich auf Kosten ihrer Gesundheit um die Familie kümmern. Außerdem schieben sie häufig eine Vorsorgetermin oder einen Arztbesuch wegen ihrer Kinder auf, weil Männer deren Betreuung aus Rollendenken in vielen Regionen ablehnen“, erläutert Prof. Dr. Nirmala Bhoo-Pathy von der Universität Malaya.
Missachtung fundamentaler Menschenrechte
In einem streng patriarchalisch geprägten Umfeld sind Frauen darauf angewiesen, dass Männer Kosten übernehmen, etwa die Fahrt zur Praxis oder zur Klinik. Oder Frauen benötigen für einen Arztbesuch die Zustimmung ihres Ehemannes. Nicht selten verweigert er die Erlaubnis, wenn der Arzt ein Mann ist, vor allem, wenn eine Untersuchung des Intimbereichs ansteht.
In afrikanischen, arabischen und lateinamerikanischen Ländern legen viele Frauen von sich aus Wert darauf, dass eine Ärztin beispielsweise eine Mammographie vornimmt, so dass die Befürchtung, sich einem männlichen Arzt anvertrauen zu müssen, einen Hinderungsgrund darstellen könnte.
Angst vor Gewalt und Belästigung in Stadt und Land
Lange und gefährliche Wege halten Frauen ebenfalls mehr als Männer davon ab, eine Ambulanz aufzusuchen. In Studien war das ein Hemmnis für ältere Frauen in ländlichen Gebieten oder für Frauen, die sich in Städten vor Bandenkriminalität fürchteten.
Kulturelle und religiöse Normen erschweren es Frauen, ihre Brüste selbst auf Knoten abzutasten. Nach Studien in Südafrika, dem Iran, Äthiopien, Südasien und lateinamerikanischen Ländern empfinden viele Frauen dabei Befangenheit, Unbehagen und ein Gefühl von Unsittlichkeit.
Therapie kann an den Mehrkosten scheitern
Da Frauen im weltweiten Schnitt seltener einer Erwerbsarbeit nachgehen, und, wenn doch, meist weniger Einkommen erhalten als Männer, bedeutet Krebs für sie oft auch ein finanzielles Desaster. Das zeigt die ACTION-Studie, an der knapp 3.300 Frauen mit verschiedenen Krebsarten teilgenommen haben. In den ersten 12 Monaten nach der Diagnose gaben sie im Median 80% ihres jährlichen Haushaltseinkommens, 2.285 USD, für krebsbedingte Kosten aus, allerdings mit signifikanten Unterschieden: Bei Frauen in ärmeren Ländern waren es median 161% des Haushaltseinkommens, in reicheren Ländern nur 30%.
Frauen übernehmen unbezahlt 2 Drittel bis 3 Viertel der Gesamtstunden an Pflege-Arbeit für Krebskranke: rund doppelt so viel wie Männer. Nach einer Analyse der Kommission in 5 Ländern liegt der Wert dieser Pflege zwischen 2% der nationalen Gesundheitsausgaben in Mexiko und fast 4% in Indien. Diese Leistung werde von der Gesellschaft unterbewertet, stelle aber einen beträchtlichen wirtschaftlichen Wert dar und sollte daher fair entlohnt werden, fordert die Kommission.
Stark als Pflegerin, schwach als Pflegefall
Umgekehrt kann Sexismus dazu führen, dass Frauen keine optimale Pflege erhalten. So belegen Studien, dass krebskranke Frauen seltener als Männer eine adäquate Schmerztherapie erhalten.
Das Patriarchat dominiert außerdem die Gesundheitspolitik. Zum Beispiel wird in nationalen Plänen zur Krebskontrolle (NCCP) der Diskriminierung von Frauen nicht genug Rechnung getragen. Das zeigt eine Untersuchung in 12 Ländern der 6 WHO-Regionen. In den NCCPs wurden weder Gendernormen noch individuelle Erfahrungen mit Krebs oder sonstige Faktoren berücksichtigt, die den Zugang zu Krebstherapien behindern.
Forschung und Politik – immer noch Männerdomänen
In der Krebsforschung kommen Fortschritte in Richtung Gleichberechtigung im Schneckentempo voran. So ist zwischen 2016 und 2019 der Anteil der Präsidentinnen in onkologischen Fachgesellschaften nur von 10% auf 22% gestiegen. Und 2009 hatten 37% der Publikationen zur Krebsforschung Frauen als Erstautoren. 10 Jahre später war die Rate mit 42% nur unwesentlich höher.
Die Asymmetrie der Macht zeigt sich in der Gesundheitspolitik ebenfalls, zum Beispiel in der Union for International Cancer Control, der ältesten und größten Organisation zur Krebsbekämpfung mit 1.150 Mitgliedsorganisationen. In Asien, Afrika und Europa werden sie deutlich seltener von Frauen geführt als von Männern.
NCI-Direktorin Dr. Monica Bertagnolli sagt: „Ich freue mich auf den Tag, an dem Frauen in prominenten Positionen die Norm sind und nicht die Ausnahme.“ Und weiter: „Die Aufwertung von Frauen in der Krebsforschung und -behandlung wird nicht nur das Leben von Frauen, sondern von allen Menschen verbessern.“ Die Kommission hat dafür eine lange Liste Empfehlungen vorgelegt.
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Photographer: © Stefan Dahl
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Diesen Artikel so zitieren: Als Patientin, Forscherin, Ärztin oder Pflegefachkraft: So benachteiligt sind Frauen in der Onkologie - Medscape - 16. Okt 2023.
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