Hauptsache Ruhe? Missstände in Pflegeheimen – wo zu viele Beruhigungsmitteln gegeben werden. Der neue Pflegereport der AOK 

Christian Beneker

Interessenkonflikte

27. September 2023

In manchen deutschen Pflegeheimen werden außergewöhnlich viele Bewohnerinnen und Bewohner durch Dauerverordnungen von Schlaf- und Beruhigungsmitteln sediert. Vor allem in Pflegeheimen im Saarland und in Nordrhein-Westfalen. Das dokumentiert der Pflegereport 2023 des Wissenschaftlichen Institutes der AOK (WIdO), der jetzt im Online-Portal „Qualitätsatlas Pflege“ veröffentlicht wurde.

„Eigentlich sollten pflegebedürftige Menschen maximal 4 Wochen mit den untersuchten Schlaf- und Beruhigungsmitteln behandelt werden. Denn bei Dauereinnahme drohen unter anderem Abhängigkeit, erhöhte Sturzgefahr und die Entstehung von Angstgefühlen, Depressionen und Aggressionen“, sagte Dr. Antje Schwinger, Forschungsbereichsleiterin Pflege des WIdO in einer Mitteilung der AOK. „Die Auswertung der Verordnungsdaten bestätigt den Befund zahlreicher Studien, dass hier ein ernsthaftes Versorgungsproblem besteht, das regional sehr unterschiedlich ausgeprägt ist.“ 

 
Eigentlich sollten pflegebedürftige Menschen maximal 4 Wochen mit den untersuchten Schlaf- und Beruhigungsmitteln behandelt werden. Dr. Antje Schwinger
 

So ergab die Untersuchung des WIdO, dass in Nordrhein-Westfalen 45 der 53 Kreise und kreisfreien Städte auffällige Werte bei der Verordnung von Benzodiazepinen, -derivaten und Z-Substanzen (Zolpidem, Zopiclon und Zaleplon) aufwiesen. „Während in einem Viertel der Kreise mindestens 9,9 Prozent der Pflegeheimbewohnenden im Jahr 2021 solche kritischen Arzneimittel erhielten, waren es im Viertel der Regionen am anderen Ende des Spektrums mit maximal 4,7 Prozent wesentlich weniger“, so Schwinger. In den ostdeutschen Ländern wurden dagegen deutlich weniger Schlaf- und Beruhigungsmittel verschrieben.

Angst und Zorn statt Beruhigung

In Deutschland gehören die Schlaf- und Beruhigungsmittel zu den am häufigsten verordneten potenziell inadäquaten Medikamenten (PIM). Allerdings verfliege nach 4 Wochen der beruhigende und angstlösende Effekt. Stattdessen erleben Heimbewohnerinnen und -bewohner nach der längeren Einnahme der Arzneimittel vermehrt Angst, Zorn, Aggression und Schmerzen, so das WIdO. 

Alle Pflegekräfte, Ärzte und auch Angehörige müssten für die Situation sensibilisiert sein und gut zusammenwirken, um eine Fehlversorgung zu vermeiden, mahnte Schwinger. „Regelmäßige Rücksprachen aller Beteiligten und Medikamentenprüfungen tragen dazu bei, Dauerverordnungen dieser Medikamente zu vermeiden.“

 
Regelmäßige Rücksprachen aller Beteiligten und Medikamentenprüfungen tragen dazu bei, Dauerverordnungen dieser Medikamente zu vermeiden. Dr. Antje Schwinger
 

Viele Senioren werden in ihren letzten 30 Lebenstagen noch ins Krankenhaus eingewiesen

Das Institut untersuchte die Versorgung im Pflegeheim anhand von 10 Qualitätsindikatoren, unter anderem:

  • fehlende Flüssigkeitszufuhr bei Demenz, 

  • das Auftreten von Dekubitus, 

  • die Kombination von 9 oder mehr Wirkstoffen bei der Arzneimittelverordnung oder 

  • vermeidbare Krankenhauseinweisungen.

So stellten die Wissenschaftler fest, dass rund 4 von 100 demenziell erkrankten Heimbewohnerinnen und -bewohner im Jahr 2021 wegen Austrocknung ins Krankenhaus gekommen sind. Auch hier spricht das WIdO von einem „heterogenen Verteilungsmuster“: Auffällige Kreise befinden sich in Bayern, Niedersachsen, im Süden von Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen. In Baden-Württemberg, Berlin, Bremen oder Hamburg existiert das Problem der Klinikaufenthalte nach Dehydration dagegen praktisch nicht.

Aber es gibt auch positive Entwicklungen: Die Rate der Heimbewohner, die in ihren letzten 30 Lebenstagen noch einmal oder mehrfach ins Krankenhaus gebracht werden, geht zurück: Im Jahr 2017 betraf dies noch 47% aller Pflegeheimbewohner, 2021 nur noch 42%. Auch hier ist das Saarland Spitzenreiter, wenn auch hier die Einweisungsrate fiel – und zwar von 55,2% im Jahr 2017 auf immer noch 49,41% im Jahr 2021. 

400 Kreise berücksichtigt

Die Ergebnisse basieren auf AOK-Abrechnungsdaten und fußen auf Informationen von etwas mehr als 350.000 Pflegeheimbewohnenden jährlich, was rund der Hälfte aller in Deutschland vollstationär versorgten Pflegebedürftigen entspreche, so das WIdO. Dabei seien Daten aus der Kranken- und Pflegeversicherung einbezogen und miteinander verknüpft worden. 

„Wir haben Kreise ausgeschlossen, in denen wir weniger als 5 Pflegeheime vorfinden. Dies betraf 2021 jedoch nur einen Kreis. Jährlich haben wir damit rund 400 Kreise berücksichtigt. Die durchschnittliche Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner je Kreis liegt bei rund 900 Personen“, erläuterte Schwinger.

Kritik von Verbänden

Zu den Gründen der Versorgungsmängel und der ungleichen Verteilung machte das WIdO keine Angaben. Anders Eugen Brysch, Vorstand der Stiftung Patientenschutz: Er machte den Rückgang freiheitsentziehender Maßnahmen für die vielen Verschreibungen von Beruhigungsmitteln in der Pflege verantwortlich. „Es muss überprüft werden, ob die Maxime, die man sich gesetzt hat – das heißt runter mit den freiheitsentziehenden Maßnahmen – nicht tatsächlich zur Folge haben, dass die Psychopharmaka deutlich mehr verabreicht werden“, so Brysch im ZDF

Kritik an den Zahlen des WIdO kommt vom Hausärzteverband Schleswig-Holstein. Dr. Jens Lassen, Vorsitzender des Verbandes im Norden, verteidigte die Gabe von Beruhigungsmitteln im Pflegeheim. Es gehe aus den AOK-Zahlen nicht hervor, welche Arten von Pflegeheimen für die Statistiken herangezogen wurden. So sei nicht zwischen psychiatrischen Einrichtungen, in denen mehr Beruhigungsmittel verordnet werden, und anderen Pflegeheimen differenziert worden, so Lassen zum NDR.

 Was die häufige Verschreibung von Schlaf- und Beruhigungsmittel angeht, pochte Lassen auf „die medizinischen Realitäten“. Die Dauerverordnungen würden sorgfältig abgewogen, so der Hausärzte-Chef. Die Dauermedikationen seien oft „schlicht und einfach eine medizinische Notwendigkeit.“

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Kommentar

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