Leipzig – Frauen ernähren sich gesünder, gehen öfter zu Ärztin oder Arzt und nehmen häufiger Vorsorgeangebote in Anspruch als Männer. Dennoch erhalten sie die Diagnose einer rheumatischen Erkrankung deutlich später: „Bei der systemischen Sklerose zum Beispiel erst ein Jahr nach den männlichen Patienten“, berichtete PD Dr. Uta Kiltz, Oberärztin am Rheumazentrum Ruhrgebiet, auf einer Pressekonferenz zum Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie (DGRh) [1].
Auch bilden sich – z.B. bei der systemischen Sklerose – bei Männern bestimmte Marker und Antikörper im Blut früher. „Hinzu kommt, dass Frauen ein vielfältigeres Bild an Symptomen zeigen, was eine eindeutige Diagnose zusätzlich erschweren kann“, erläuterte Kiltz.
Für die Mehrzahl der rheumatischen Erkrankungen sind Unterschiede im Krankheitsverlauf und in der klinischen Präsentation zwischen den Geschlechtern beschrieben worden. Grob zusammengefasst zeigen Frauen oft eine größere Vielfalt der Symptome und berichten über eine höhere Krankheitslast, während Männer tendenziell einen schwereren Krankheitsverlauf haben können.
Auch Komorbiditäten treten in unterschiedlicher Häufigkeit bei den Geschlechtern auf: Während Frauen mit Rheumatoider Arthritis (RA) häufiger unter Osteoporose und Depression leiden, sind es bei Männern eher kardiovaskuläre Erkrankungen und Diabetes.
Gendersensibler Ansatz in Diagnose und Therapie notwendig
Wie Kiltz warb auch Dr. Susanna Späthling-Mestekemper, Rheumapraxis München-Pasing, für einen gendersensiblen Ansatz in Diagnostik und Therapie. Späthling-Mestekemper wies auf den DGRh-Kongress daraufhin, dass Frauen noch immer schlechter behandelt werden als Männer [2]. Die Ursachen für die schlechtere Behandlung lägen in Wissensdefiziten:
Wissensdefizite bezüglich geschlechtsspezifischer Unterschiede der Diagnostik und Therapie rheumatologischer Krankheitsbilder, Grundlagen- und klinischer Forschung;
Wissensdefizite bezüglich geschlechtssensibler Unterschiede in der Kommunikation von Patientinnen und Patienten und Ärztinnen und Ärzten.
Als „prominentes Beispiel“ für Fehldiagnosen nannte Späthling-Mestekemper die axiale Spondyloarthritis (axSpA). „Männer erfüllen die modifizierten New York (mNY)-Kriterien häufiger – die Beteiligung des Achsenskelettes, der Lendenwirbelsäule (LWS) und die zunehmende radiologische Progression.“
Frauen mit axSpA wiesen hingegen andere Symptome auf:
So sei eher die Halswirbelsäule (HWS) betroffen,
Frauen leiden eher unter einem peripheren Gelenkbefall,
sie leiden eher unter Ganzkörperschmerz,
sind müde, abgeschlagen,
sie zeigen weniger humorale Entzündungszeichen (niedrigeres CRP) und
sind seltener HLA B27-positiv.
„Wir müssen also vollkommen umdenken, wenn wir die Diagnose bei Frauen stellen“, so Späthling-Mestekemper. Auch das führt dazu, dass Frauen mit axSpA ihre Diagnose deutlich später als Männer erhalten: „Je nach Studie reicht die Differenz von 7 Monaten bis zu 2 Jahren“, so Späthling-Mestekemper.
Eine spanische Studie aus 2018 zeigt, dass die häufigsten Fehldiagnosen bei Frauen mit axSpA Ischias, Arthrose und Fibromyalgie waren.
Es gibt aber nicht nur bei der axSpA so deutliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen. So gebe es Hinweise, dass Frauen mit systemischem Lupus erythematodes (SLE) stärker unter muskuloskelettalen Beschwerden leiden, während Männer mit SLE eine stärkere Organbeteiligung (v.a. mehr Serositis und Nephritis) aufweisen.
Bei der systemischen Sklerose haben Frauen die höhere Überlebensrate, sie weisen auch häufiger eine Hautbeteiligung auf, und Männer haben auch hier eher die Organbeteiligung, vor allem die Lungenbeteililgung.
Frauen sprechen schlechter auf TNF-Blocker an
Am Beispiel der axSpA zeigte Späthling-Mestekemper auch auf, dass Männer und Frauen unterschiedlich auf eine Therapie mit TNF-Blockern (TNF: Tumornekrosefaktor) ansprechen. „Die Therapiedauer ist bei Frauen mit TNF-Blockern kürzer – 33,4 Monate vs 44,9 Monate, sie sprechen schlechter auf diese Therapie an, stoppen sie häufiger und wechseln.“
Daten aus dem März dieses Jahres zeigen, dass es dagegen für Janus-Kinase-Inhibitoren bisher keine Hinweise auf ein unterschiedliches Ansprechen auf die Behandlung gibt.
Als ein Grund für das schlechtere Ansprechen von Frauen auf TNF-Blocker wird das Vorliegen von Enthesitiden diskutiert, unter denen Frauen häufiger leiden als Männer. „Tatsächlich ist ein besseres Ansprechen auf TNF-Blockern assoziiert mit HLA-B27-Positivität, mit dem Nichtvorhandensein von Enthesitiden und TNF-Blocker-Naivität. Bei Frauen könnte auch der höhere Fat-Mass-Index (FMI) eine Rolle spielen oder doch die zentrale Fettleibigkeit, die auch bei Frauen nach der Menopause zunimmt“, berichtete Späthling-Mestekemper.
Als weitere mögliche Gründe für ein verzögertes Therapieansprechen von Frauen auf Biologika nannte sie:
genetische/körperliche/hormonelle Ursachen,
widespread pain/Fibromyalgie,
eine zu späte Diagnose/zu spät einsetzende Therapie, was die Chancen auf eine Remission verschlechtert.
Auch die Wissenschaft selbst ist noch zu wenig geschlechtssensibel ausgerichtet:
Missachtung geschlechtsspezifischer Unterschiede bei tierexperimentellen Studien (bis vor Kurzem nur an männlichen Mäusen, um Hormonschwankungen zu vermeiden).
Frauen sind in klinischen Studien immer noch unterrepräsentiert: Phase 3-Studie nur 37% Frauen; 64% der Studien liefern keine geschlechtsspezifischen Unterschiede.
Die meisten Daten stammen aus epidemiologischen Analysen (nicht aus der Grundlagenforschung).
Defizite in medizinischen Lehrbüchern.
Männer und Frauen kommunizieren anders
Patientinnen suchen nach Erklärungen, Patienten beschreiben konkrete Symptome, Ärztinnen reden, Ärzte handeln. Was nach Stereotypen klingt, ist durch viele Studien belegt, so Späthling-Mestekemper.
Ausnahmen bestätigen die Regel, aber insgesamt zeigen die Studienergebnisse, dass männliche Patienten:
ihre Symptome konkret beschreiben,
psychische Probleme nicht gerne zugeben,
sich bei Depressionen 3- bis 5-mal so häufig wie Frauen das Leben nehmen.
Patientinnen dagegen:
suchen eine Erklärung für ihre Symptome,
werden bei körperlichen Beschwerden häufig nicht ernst genommen,
werden häufig in die psychosomatische Richtung geschoben.
Ärztinnen legen den Fokus auf:
Prävention, Kommunikation, Shared Decision, offene Fragen, „positive“ Gespräche, Selbstmanagement der Patienten (chronische Erkrankungen wie Diabetes: Ärztinnen erreichen Therapieziele nach ADA-Guidelines besser als Ärzte),
psycho-soziale Situation, Sprechstunde 1 Minute länger (10%).
Ärzte legen den Fokus auf:
Anamnese,
körperliche Untersuchung (ein Herzkatheter nach Infarkt wird deutlich häufiger von Ärzten als von Ärztinnen veranlasst),
Diagnostik.
Die Lösung liegt im Erkennen und Trainieren
Eine große chirurgische Studie hatte 2021 einigen Wirbel verursacht. Analysiert wurde in der Studie, ob es einen Unterschied macht, ob Frauen von Männern oder von Frauen operiert werden. Im Ergebnis wiesen Frauen, die von Männern operiert worden waren – verglichen mit Männern, die von Männern oder Frauen operiert worden waren – nach der Operation höhere Risiken auf:
15% höheres Risiko für ein schlechteres OP-Resultat,
16% höheres Risiko für Komplikationen,
11% höheres Risiko für eine erneute stationäre Aufnahme,
20% höheres Risiko für einen längeren stationären Aufenthalt,
32% höheres Sterblichkeitsrisiko.
Die Studienautoren nennen als mögliche Gründe für diese Unterschiede:
Ärzte unterschätzen Schwere der Symptome ihrer Patientinnen,
Frauen haben Hemmungen gegenüber einem Arzt, postoperative Schmerzen anzugeben,
anderer Arbeitsstil von Ärztinnen und Ärzten – unterschiedliche Behandlungsentscheidungen,
unbewusst verankerte Rollenmuster und Vorurteile.
„Unsere Lösungsmöglichkeiten sind: Erkennen und Trainieren. Wir brauchen eine personalisierte Medizin, wir müssen da genauer hinschauen – das sind wir unseren Patientinnen und Patienten schuldig“, schloss Späthling-Mestekemper.
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Credits:
Photographer: © Hriana
Lead Image: Dreamstime
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Diesen Artikel so zitieren: Frauen mit Rheuma sind benachteiligt: Diagnose erfolgt später als bei Männern, Therapie ist schlechter – die Gründe - Medscape - 25. Sep 2023.
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