Nervenkitzel eines Nervenkranken: Wie Dostojewskis Traumata und Epilepsie ihn zum Dichterfürst machten (Folge 1)

Dr. Angela Speth

Interessenkonflikte

22. September 2023

Fjodor Michailowitsch Dostojewski ist vor allem wegen seiner „fünf Elefanten“ (ein Ausdruck der Neu-Übersetzerin Svetlana Geier) berühmt geworden: „Schuld und Sühne“, „Der Idiot“, „Die Dämonen“, „Ein Jüngling“ und die „Die Brüder Karamasow“. In der Zerrissenheit seiner Figuren, aber auch in seinem eigenen schwierigen Charakter spiegeln sich die Extremerfahrungen seines Lebens wider: das langsame Sterben der liebevollen Mutter, der Sadismus des Vaters, Schein-Hinrichtung und Straflager, chronischer Geldmangel, Spielsucht, die konfliktreichen Beziehungen zu Frauen sowie der Tod zweier seiner Kinder.

Nicht zuletzt litt er seit seiner Jugend an Anfällen, akzeptierte jedoch erst viel später, dass es sich um eine Epilepsie handelte.

Ein Leben wie ein Roman

3 Spezialisten beleuchten die Anfälle in ihren Publikationen aus unterschiedlichen Blickwinkeln: Prof. Dr. Andrea O. Rossettia von der Universitätsklinik in Lausanne zeichnet seine Krankengeschichte nach [1]. Der Niederländer Dr. Piet H. A. Voskuil von der Hans Berger Clinic for Epilepsy in Oosterhout stellt Epilepsie-Kranke aus Dostojewskis Werk vor [2]. Und der renommierte, inzwischen gestorbene Prof. Dr. Dieter Janz, ehemals Freie Universität Berlin, beleuchtet, warum der Dichter erst spät und nur widerstrebend die Diagnose „Epilepsie“ annimmt und die Anfälle beim medizinischen Namen nennt [3].

Ein Leben wie im Roman

Fjodor wird 1821 in jenem Moskauer Armenhospital geboren, in dem sein Vater als Arzt arbeitet. Da sich die beiden Zimmer der adligen, aber besitzlosen Familie im Nebengebäude befinden, sind er und seine 6 Geschwister früh mit Not, Leid, Krankheit und Tod konfrontiert, später auch mit dem Dahinsiechen der schwindsüchtigen Mutter. Sie, eine warmherzige und tiefgläubige Frau, widersetzt sich dem Regiment ihres jähzornigen Mannes, so dass die Atmosphäre durch Dauerstreit vergiftet ist. 1837 stirbt sie, 2 Jahre später erliegt der Vater einem Schlaganfall.

Freuds These von der „affektiven Epilepsie“

Jedoch werden Beschuldigungen laut, tyrannisierte Leibeigenen hätten ihn umgebracht. Dieses Gerücht hat sich Sigmund Freud in seinem Aufsatz „Dostojewski und die Vatertötung“ zu eigen gemacht: Nach Analyse von Dostojewskis Lebensgeschichte und des Vatermordes in „Die Brüder Karamasow“ postuliert er, der in einem Ödipuskomplex befangene Dichter habe sich am Tod seines Vaters schuldig gefühlt und sich dafür mit einem ersten, (noch) psychogenen Anfall bestraft. Auch in manchen der über 100 Publikationen zu Dostojewskis Epilepsie wird spekuliert, ob die Krämpfe einer Neurose entspringen, also zum Beispiel auf ein Kindheitstrauma zurückgehen.

Nach einem lustlosen Ingenieur-Studium in St. Petersburg und einer kurzen Tätigkeit als Militärzeichner – „langweilig wie eine Kartoffel“ – setzt der spätere Spieler alles auf eine Karte: Er wagt das Risiko, im rückständigen Literaturbetrieb Russlands sein Brot als freiberuflicher Publizist zu verdienen.

Von Anfang an verfasst er Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften, viele seiner Erzählungen und Romane erscheinen darin in Fortsetzungen, etwa im Monatsmagazin „Die Zeit“ (Wremja), das sein Lieblingsbruder Michail gründen wird. Das bringt mit sich, dass er stets gegen den nächsten Redaktionsschluss anschreiben muss. Unter diesem Druck habe er gar keine Zeit, an seinen Texten zu feilen, klagt er. Dazu passt Ernest Hemingways verständnisloses Kopfschütteln: „Wie kann jemand so schlecht, so unglaublich schlecht schreiben und einen doch so tief fühlen machen?“

Schuld und Sühne – für Thomas Mann der beste Krimi ever

Allerdings gehört diese Serienproduktion, die durch Cliffhanger die Leser bei der Stange halten muss, zu den Gründen, warum sogar noch in der heutigen Twitter-Ära so viele die tausendseitigen Wälzer verschlingen. Es sind Krimis, die reißerisch auf Wirkung zielen: Eklats schaukeln sich zu Skandalen hoch, auf Teufel komm raus wird verleumdet, entlarvt und Geld verbrannt, Verschwörungen werden ausgeheckt, Kinder geschändet, Väter und wehrlose Pfandleiherinnen erschlagen.

Zugleich hat Dostojewski nicht nur das Russland des 19. Jahrhunderts porträtiert, sondern auch Generationen bedeutender Schriftsteller inspiriert. Man würdigt ihn als Prophet des 20. Jahrhunderts, weil er zum Beispiel Strömungen wie den Totalitarismus thematisiert, so in der „Legende vom Großinquisitor“, oder den Terrorismus in den „Dämonen“. Den „Spieler“ treibt die Goldgräberstimmung des Kapitalismus. Raskolnikow in „Schuld und Sühne“ trennt die Gesellschaft in Untermenschen, die man wie Läuse zerquetschen darf, und Übermenschen, wie Napoleon (später Hitler, Stalin, Mao ...), die über Leichenberge schreiten – das hat den Faschisten sehr gefallen.

Unverändert aktuell

Weitere zukunftsweisende Motive: die völkische Überhöhung der eigenen Nation, der Nihilismus der Intellektuellen, der Existentialismus und vor allem die Psychoanalyse. Friedrich Nietzsche etwa lobte ihn als den einzigen Psychologen, von dem er etwas gelernt habe. Denn minutiös zeichnet Dostojewski seelische Regungen nach, und das mit atemberaubender Spannung: Die Leser sitzen dem Handelnden, ob Mörder oder Tugendheld, direkt im Hirn oder im Herzen, fiebern mit ihm in verdächtiger Sympathie, blicken in Abgründe, verstricken sich in Schuldgefühle und Widersprüche, in die explosive Mischung aus Engel und Satan.

Zum Beispiel stehen sie mit dem angstversteinerten Raskolnikow hinter der Tür, neben der frisch erschlagenen Wucherin und deren Schwester, lauschen noch mit der Axt in der Hand dem Gespräch der Männer draußen, die beim Rütteln an der Klinke merken, dass die Sicherungskette innen eingehakt ist, also jemand da sein muss. Und dann den Hausmeister holen gehen ...

Polyphonie: Der Autor spaltet sich in vielerlei Dialoge

Dabei verheddert man sich nur allzu leicht im Chaos der vielen Stimmen. Jeder erzählt die eigene Wahrheit oder Lüge. Aber alle gemeinsam treibt hauptsächlich zweierlei um: Wie wird man Millionär? Und: Wo findet man Christus?

Auch Dostojewski will beides. Geld braucht er, weil er ständig pleite ist, zumal er später dem Spielrausch verfällt. Jede Münze, die ihm zwischen die Finger kommt, verschwendet er, immer wieder wachsen immense Schuldenberge. Er verfasst verzweifelte Bettelbriefe, sogar an den reichen Rivalen Iwan Turgenjew. Verleger drängelt er zur Vorkasse, versetzt seine letzten Habseligkeiten. „Geld bedeutete ihm viel, so oft er aber welches in Händen hatte, ging er damit um, als ob es ... purer Unsinn wäre“, konstatiert ein Zeitgenosse.

Pustel auf der Nase der russischen Poesie

Zunächst freilich rollt der Rubel: Gleich sein Erstling, der sozialkritische Briefroman „Arme Leute“ (1846) über das Elend der Petersburger Mietskasernen, wird ein fulminanter Erfolg. Das 2. Roman allerdings, „Der Doppelgänger“, veranlasst Turgenjew zu einem Spottgedicht mit dem despektierlichen Vers: „Auf der Nase unsrer Dichtung/Reifst Du als ein Pickel.“ Auch vom damaligen Literaturpapst Wissarion Belinski erntet er einen Verriss: „Das Phantastische gehört heutzutage ins Irrenhaus und nicht in die Literatur, es ist etwas für Ärzte, nicht für Poeten.“

Es stimmt: Dostojewski hat empfindliche Antennen für geistige Störungen. Ein Psychiater schätzt die Zahl seiner Figuren mit Auffälligkeiten auf ein Viertel des gesamten Personals – eine in der Literatur beispiellose Häufung. Entsprungen sind sie einem Faible für Underdogs: für Schizophrene, Arme, Sträflinge, Dirnen, Säufer, Erniedrigte und Beleidigte. Sie laufen mit entzündeten Nerven umher, pendelnd zwischen Wut und Demut.

Prominentes Beispiel: der „Idiot“, der sanftmütige Fürst Myschkin, Dostojewskis Christus-Vision und Alter Ego. Aus einer Schweizer Nervenklinik zurück im Russland der liberalen Reformära, wird er in der geldgierigen und sexuell enthemmten Gesellschaft verrückt und muss erneut in die Psychiatrie.

„Der Mensch ist ein Geheimnis. Man muss es enträtseln“

Dostojewski schreibt im Wissen um seine eigene fragile Psyche. Der Misere seines Elternhauses entflieht der in sich gekehrte Einzelgänger durch unentwegtes Lesen. Ein Bekannter über den Jugendlichen: „Seine krankhafte Eigenliebe, seine moralische Empfindlichkeit und seine körperliche Schwäche zwangen ihn in die Einsamkeit.“

Ein anderer: „Schon auf den ersten Blick sah man, dass er schrecklich nervös und sensibel war. Er war mager, klein, blond, mit einer kranken Gesichtsfarbe; seine winzigen grauen Augen wanderten ständig in beängstigender Weise von einem Gegenstand zum anderen, und seine blassen Lippen zuckten ... in fast allem, was man zu ihm sagte, witterte er eine Kränkung.“

Und Dostojewski über sich selbst: „Sogar wenn mein Herz in Liebe glüht, kann man aus mir oft kein einziges freundliches Wort herausbringen ... Ich erscheine lächerlich und abstoßend und muss unsäglich darunter leiden, dass mich meine Mitmenschen für trocken und herzlos halten.“

Die Angst, lebendig begraben zu werden

Schon früh quälen ihn Todesängste. So berichtet ein Bruder, Fedja habe öfter Zettel auf den Tisch gelegt mit der Mahnung: „Sollte ich heute in lethargischen Schlaf fallen, begrabt mich erst nach fünf Tagen!“ Seit die Epilepsie begonnen hat – Zeugen zufolge zwischen dem 17. und 20. Lebensjahr – verfolgt ihn außerdem die Angst, einmal bei einem Anfall zu sterben.

Um seine körperliche Gesundheit ist es ebenfalls nicht zum Besten bestellt: Zu Fallsucht und Spielsucht gesellt sich Nikotinsucht – er raucht bis zu 50 Zigaretten (russisch: Papirossi) am Tag. Im Verein mit manischer Nachtarbeit und wenig Bewegung habe das immer häufiger zu Ohnmachten, Halluzinationen und Depressionen geführt, meint ein Biograf. Er sei ein körperliches Wrack gewesen, der sein Werk seinen Krankheiten abringen musste.

Gegen Autokratie und Leibeigenschaft

Mitte der 1840er-Jahre tritt Dostojewski dem Petraschewski-Zirkel bei, in dem fortschrittliche Intellektuelle – meist Adlige und Offiziere – bei wöchentlichen konspirativen Treffen über sozialistische Ideen debattieren: „Alle neuen Gesetze und Handlungen der Regierung wurden bei uns scharf kritisiert.“

Ein verbotener Brief, der heutzutage in den Blog des Oppositionellen Alexej Nawalny passen würde, den tatsächlich damals aber Belinski an den Dichter Nikolai Gogol gerichtet hat, löst 1849 die Katastrophe aus: „Russland braucht ... das Erwachen eines Gefühls der Menschenwürde, die viele Jahrhunderte durch den Dreck gezogen wurde ... und des Gesetzes ... gemäß dem gesunden Menschenverstand und der Gerechtigkeit ... Stattdessen bietet es den schrecklichen Anblick eines Landes, wo es keinerlei Persönlichkeitsrechte gibt, keinerlei Garantien für Ehre und Eigentum, nicht einmal eine polizeiliche Ordnung; es gibt nur einen riesigen Zusammenschluss von Dieben.“

Vorgelesen hat Dostojewski diese Anklage seinen freigeistigen Genossen – und einem eingeschleusten Spion.

Das Lesen eines Briefes wird als Hochverrat geahndet

Im Morgengrauen des 23. April 1849 verhaftet ihn die Geheimpolizei und bringt ihn in den berüchtigten Kerker der Peter-Pauls-Festung. In einem langwierigen Prozess wird er wegen Verschwörung zum Tode verurteilt – ein Jahr nach der Februarrevolution in Frankreich und den Märzunruhen in Deutschland geht das aufgeschreckte Regime brutal gegen alles vor, was nach Aufruhr riecht, um ein Überschwappen zu verhindern.

„Heute am 22. Dezember wurden wir alle auf den Semjonov-Platz gebracht. Dort verlas man das Todesurteil, gab uns das Kreuz zum Kuss, brach über unseren Köpfen das Schwert und kleidete uns fürs Begräbnis in weiße Totenhemden. Dann stellte man drei von uns vor die Pfähle, wo die Exekution stattfinden sollte. Ich war der sechste in der Reihe, wir wurden in Gruppen zu drei aufgerufen, und so hatte ich nicht mehr als eine Minute zu leben ...“, schreibt Dostojewski an Michail.

So etwas darf man keinem Menschen antun“

Bei einer Kälte von minus 20 Grad erfrieren manchen der Gefährten während dieser Prozedur die Ohren und Zehen. Man wirft ihnen Kapuzen über die Augen, die Soldaten legen die Gewehre an, ein Trommelwirbel – plötzlich der Befehl: Halt! Und ein Kurier tritt vor und verkündet, der Zar habe in seiner unergründlichen Weisheit und Güte beschlossen, den Todgeweihten das Leben zu schenken.

Mit einem Knalleffekt demonstriert der Potentat den Tausenden von Zuschauern ebenso wie den „politischen Verbrechern“ seine Strenge und Milde zugleich. Denn bei dieser makabren Farce hat Zar Nikolaus I. persönlich Regie geführt, inklusive aller Details wie Schafott, Leichenkittel oder Eskorte. Nicht aber durchsetzen konnte er wohl seine Idee, die Delinquenten noch ihre eigenen Gräber ausheben zu lassen.

Das Trauma hat sich für immer eingebrannt

Für Dostojewski folgt auf die Schein-Exekution: Begnadigung zu 4 Jahren Zuchthaus mit Zwangsarbeit im sibirischen Omsk, ununterbrochen an 5 Kilo schwere Ketten geschmiedet, danach lebenslanger Dienst als gemeiner Soldat und Berufsverbot. Dieses Trauma („meine Nerven brachen zusammen“) prägt sein Werk.

Beispiele: Die Verhöre während seiner Festungshaft leben im Katz- und Maus-Spiel von Raskolnikows Untersuchungsrichter wieder auf. Und in einer Schlüsselszene liest die tiefgläubige Hure Sonja dem sensiblen Doppelmörder die Lazarus-Geschichte über die Auferstehung von den Toten vor.

Weiter der Bestseller „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“: In dieser frühen Version von Franz Kafkas „Strafkolonie“ oder Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“ enthüllt Dostojewski die Grausamkeit des Lagers, die oft tödlichen Auspeitschungen. „Wir schliefen auf nackten Brettern, die Halbpelze bedeckten die Füße nicht. So froren wir ganze Nächte hindurch. Flöhe, Läuse und anderes Ungeziefer gab es Scheffel voll.“ Es sind vorsichtige Enthüllungen, denn er fürchtet die Zensoren, doch die denken gar nicht an ein Verbot, im Gegenteil, einer bemängelt sogar, potenzielle Straftäter würden nicht genug abgeschreckt.

Was es heißt, ein Mensch zu sein

Auf Tuchfühlung mit Mördern und sonstigen Schwerkriminellen, mit einer seltenen Gabe, die hinter seiner auffallend hohen Stirn sitzt, beobachtet er genau, was geschieht, und sieht: nicht nur Verrohung, sondern auch Selbstlosigkeit. Während er die ganze Vielschichtigkeit des Menschen begreift, wandelt er sich – einerseits zum Kriminologen, andererseits zum Christen.

Den Anstoß zur Religion gibt ein tröstliches Ereignis während eines Zwischenstopps bei der Deportation. Eine Dekabristin, Begleiterin der Aufständischen, die 1825 erstmals gegen Leibeigenschaft, Polizeigewalt und Zensur rebelliert hatten, schenkt ihm eine Bibel. Speziell das Neue Testament wird nun zur Quelle seines Glaubens, „dass es nichts Schöneres, Tieferes, Sympathischeres, Vernünftigeres, Männlicheres und Vollkommeneres gibt als Christus“. Das Buch wird ihm so wichtig, dass er es stets neben sich im Schreibtisch aufbewahrt und auf all seine Reisen mitnimmt, bis er es auf dem Sterbebett feierlich seinem Sohn überreicht.

Semipalatinsk: Heute bekannt durch Atomwaffentests

Als Anfang 1854 die Zwangsarbeit abgebüßt ist, wird er in ein Regiment nach Semipalatinsk in Kasachstan nah der mongolischen Grenze abkommandiert, damals noch eher Dorf als Stadt – „Brachland, Flugsand, kein Busch, kein Baum ... einen Buchladen gab es nicht, denn es gab niemanden, der Bücher gekauft hätte“, so bringt ein Freund, der dortige Staatsanwalt Alexander Wrangel, das Nest in der endlosen Steppe auf den Punkt.

Auch hier strecken ihn immer wieder Anfälle nieder, besonders wenn er zu Trinkgelagen genötigt wird. Nach Schilderungen von Zeugen ähneln sie jenen des Fürsten Myschkin: „... er erinnerte sich deutlich daran, den Anfang eines seltsamen, furchtbaren Wehklagens gehört zu haben, das von selbst über seine Lippen kam. Im nächsten Moment war er bewusstlos, Dunkelheit löschte alles aus ...“

Weiter heißt es: „Das Gesicht, besonders die Augen, werden furchtbar entstellt, Krämpfe ergreifen die Glieder, ein furchtbarer Schrei bricht aus dem Gestürzten hervor, aus dem alles Menschliche ausgelöscht zu sein scheint ... als ob ein anderes Wesen in seinem Inneren geweint hätte. Viele Menschen können einen epileptischen Anfall nicht ohne ein geheimes Entsetzen betrachten ... Der Körper des Prinzen glitt unter Krämpfen die Treppe hinunter, nach fünf Minuten hatte sich eine Menschenmenge um ihn versammelt. Eine Blutlache neben seinem Kopf gab Anlass zu ernsten Befürchtungen.“

Liebe und Philosophie lindern die Tristesse

Gegen die Trostlosigkeit von Semipalatinsk setzt Dostojewski die Lektüre von Georg Hegel – und die Liebe zu einer Frau namens Marija Issajewa, gebildet, belesen, schön und Mittelpunkt der Gesellschaft. Während er „mit dem ganzen Feuer seiner Jugend“ entflammt, schätzt sie ihn nach Aussage Wrangels nicht übermäßig, sondern hat „eher Mitleid mit ihm ... Sie wusste, dass er die Fallsucht hatte und bittere Not litt“.

Sie zögert, doch nachdem er schließlich zum Offizier befördert wird, heiratet sie ihn im Februar 1857 an ihrem 600 Kilometer entfernten Wohnsitz, wobei ihr Liebhaber, mit dem sie ihn unverhohlen noch bis lange nach der Hochzeit betrügt, als Trauzeuge fungiert.

Die Strapazen der Heimreise bewirken das wohl Unvermeidliche: „Ich hatte einen epileptischen Anfall, der meine Frau zu Tode erschreckte und mich mit Trauer erfüllte. Ein Arzt sagte mir, dass ich die genuine Fallkrankheit habe und bei einem dieser Anfälle an einem Halskrampf ersticken könnte … um ,genuine‘ Ärzte zu konsultieren, muss ich so schnell wie möglich nach Russland zurückkehren – aber wie soll ich das schaffen?“, bekümmert er sich in einem Brief an Michail.

Besser traumatisch bedingt als angeboren

Erstaunlich: Bis dahin hat Dostojewski sich nie dazu durchringen können, die Störung als Epilepsie wahrzunehmen, obwohl sie ihn ja mittlerweile seit vielen Jahren plagt und er sich dank der Bibliothek eines befreundeten Arztes mit Nervenkrankheiten auskennt. Stattdessen hat er von „Kondraschka“ gesprochen, was sowohl „plötzlicher Tod“ als auch „Schlaganfall“ bedeutet, aber verharmlosend und mit einem Unterton schwarzen Humors, ähnlich wie im schwäbischen Diminutiv „Schlägle“.

Vor allem will er seine Epilepsie keinesfalls als „genuin“ verstanden wissen, weil das mit „erblich“ gleichgesetzt wird. Denn einerseits fürchtet er vermutlich, ihn könnte das gleiche Schicksal ereilen wie seinen Vater – nach damaliger Auffassung hingen Epilepsie und Schlaganfall eng zusammen. Andererseits galt diese Form als unheilbar, ein Siechtum bis zur Demenz als gewiss, und er weigert sich zu glauben, dass ihm nach so vielen verlorenen Jahren nun auch noch die Zukunft geraubt werden soll.

Die Krankheit ebnet den Weg in die Freiheit

Immerhin akzeptiert er die Diagnose insoweit, als er ihr einen Nutzen abpressen kann: die Entlassung vom Militär. 1858 reicht er sein Abschiedsgesuch ein, zusammen mit einem Attest des Bataillonsarztes, dass er wegen seiner fast wöchentlichen Anfälle „nicht im Dienst seiner Majestät verbleiben kann“. Er darf gehen, aber zunächst nur nach Twer, einer Stadt 170 Kilometer nordwestlich von Moskau.

An die Lesart, die Krankheit sei durch ein Trauma erworben und folglich behandelbar, klammert er sich auch deshalb, weil sich das in einer Bittschrift an den neuen Zaren Alexander II. als Argument eignet, warum er unbedingt ins pulsierende St. Petersburg zurückkehren muss – nur dort fände er Hilfe: „Meine Krankheit verschlimmert sich immer mehr. Jeder Anfall schwächt mein Gedächtnis, die Phantasie, meine seelischen und körperlichen Kräfte. Das Ende meiner Krankheit muss Lähmung, Tod oder Wahnsinn sein.“

Voller Einsatz für ein Comeback

Weiter schmeichelt er dem Sohn seines ehemaligen Folterknechts: „Ew. Kaiserliche Majestät! In Ihren Händen liegt mein ganzes Schicksal, meine Gesundheit, mein Leben! Geruhen Sie, mir die Übersiedlung nach Petersburg zu gestatten ... Sie, mein Kaiser, sind wie die Sonne, die über Gerechte und Ungerechte scheint. Sie haben bereits Millionen Ihres Volkes beglückt; beglücken Sie auch ... den unglücklichen Kranken, der noch zu den Verstoßenen gehört und doch bereit ist, sein Leben unverzüglich für den Zaren hinzugeben.“

Außerdem weist er darauf hin, dass die Krämpfe erstmals im Exil aufgetreten seien, womit er der Obrigkeit die Schuld zuweist und sich als Märtyrer stilisiert. Um all diese Krankheitsgewinne – vor allem die Rehabilitation – nicht zu gefährden, machen Freunde Berichte über frühere Anfälle erst nach seinem Tod publik. Die Eingabe wird bewilligt, und so darf er sich nach einem Jahrzehnt der Fron – wenngleich von der Polizei bespitzelt – wieder in St. Petersburg als Schriftsteller betätigen.

Lesen Sie kommende Woche in der 2. Folge, wie Dostojewski seine „ekstatische Aura“ erlebte, warum er sich nie behandeln ließ, obwohl die Ärzte schon damals über wirksame Maßnahmen verfügten. Und warum sein Tod mit 59 Jahren trotzdem nicht durch einen epileptischen Anfall herbeigeführt wurde.

Dieser Artikel ist im Original erschienen auf  Univadis.de .
 

Kommentar

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