Neue Risikobewertung: Umweltgift Blei schädigt die Gesundheit mindestens so sehr wie Feinstaub – Elektroschrott Mitverursacher

Anke Brodmerkel

Interessenkonflikte

21. September 2023

Blei schädigt die Gesundheit von Kindern und Erwachsenen weltweit deutlich mehr als bislang angenommen. Das legt eine Modellierungsstudie nahe, die der norwegische Entwicklungsökonom Bjorn Larsen und der kolumbianische Umweltspezialist für Blei Dr. Ernesto Sánchez-Triana im Auftrag der Weltbank vorgenommen haben. Veröffentlicht ist ihre Arbeit in TheLancet Planetary Health[1].

Wie Larsen und Sánchez-Triana berichten, sind auch die wirtschaftlichen Folgen einer vermehrten Bleiexposition gerade in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen immens (low- and middle-income countries, kurz LMICs). Finanziert wurde die Studie durch den Korea Green Growth Trust Fund und das Pollution Management and Environmental Health Program der Weltbank.

Blei beeinflusst die Intelligenz und das Herz-Kreislauf-System

„Das ist eine sehr wichtige Publikation, die uns alle betrifft“, kommentiert der deutsche Kinder- und Jugendarzt Prof. Dr. Stephan Böse-O’Reilly vom Institut und von der Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin des LMU Klinikums München im Gespräch mit Medscape. „Die Studie, deren Ergebnisse ich für sehr verlässlich halte, zeigt zum einen, dass die Auswirkungen eines erhöhten Bleispiegels im Blut auf die Intelligenz von Kindern drastischer sind, als wir bisher gedacht haben.“

Es sei bekannt, dass Blei sowohl die vor- als auch die nachgeburtliche kognitive Entwicklung von Kindern beeinflusse, erläutert der Mediziner. Aber das Ausmaß dieses Effekts sei bisher ganz offensichtlich unterschätzt worden.

 
Die Studie zeigt ... sehr klar, dass beispielsweise die Gefahr einer Arteriosklerose durch die Bleibelastung ebenfalls steigt. Prof. Dr. Stephan Böse-O’Reilly
 

Zum anderen könne die Arbeit von Larsen und Sánchez-Triana belegen, dass Blei zu mehr Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Erwachsenen führe. „Wir wussten bereits, dass eine vermehrte Bleiexposition das Risiko für Bluthochdruck und auf diese Weise auch die Sterblichkeit erhöht“, sagt Böse-O’Reilly. „Die vorliegende Studie zeigt nun aber darüber hinaus sehr klar, dass beispielsweise die Gefahr einer Arteriosklerose durch die Bleibelastung ebenfalls steigt.“

Alle Berechnungen beziehen sich auf das Jahr 2019

„Unseres Wissens nach haben wir zum ersten Mal versucht, die globale Belastung und die Kosten des Verlusts des Intelligenzquotienten (IQ) und der Sterblichkeit durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen aufgrund von Bleiexposition zu schätzen“, schreiben Larsen und Sánchez-Triana. Für ihre Berechnungen nutzten die Wissenschaftler unter anderem die weltweit erhobenen Daten der Studie GBD 2019 (Global Burden of Diseases, Injuries, and Risk Factors Study 2019) zum Bleigehalt im Blut.

Den IQ-Verlust von Kindern unter 5 Jahren schätzten sie mithilfe einer international anerkannten Blutbleispiegel-IQ-Verlust-Funktion. Anschließend ermittelten die Forscher die geschätzten Kosten dieses IQ-Verlustes aufgrund des verringerten Lebenseinkommens, dargestellt als Kosten in US-Dollar und als Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts (BIP).

Die durch Bleiexposition bedingten kardiovaskulären Todesfälle von Erwachsenen ab 25 Jahren schätzten Larsen und Sánchez-Triana mithilfe eines Modells, das die Auswirkungen der Bleiexposition auf die Sterblichkeit durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen erfasst, die durch andere Mechanismen als Bluthochdruck vermittelt werden.

Anhand der statistischen Lebenserwartung ermittelten die Wissenschaftler im Anschluss die Wohlfahrtskosten der vorzeitigen Sterblichkeit, ebenfalls dargestellt als Kosten in US-Dollar und als Prozentsatz des BIP. Alle Schätzungen berechneten sie nach der Einkommensklassifikation der Weltbank für das Jahr 2019.

Jährlich sterben Millionen von Menschen an den Folgen von Bleiexposition

Wie Larsen und Sánchez-Triana berichten, haben durch die Bleiexposition in diesem Zeitraum Kinder unter 5 Jahren weltweit geschätzt 765 Millionen IQ-Punkte verloren. 5.545.000 Erwachsene sind 2019 an Herz-Kreislauf-Erkrankungen gestorben, die durch Blei hervorgerufen wurden. 729 Millionen der verlorenen IQ-Punkte (95,3%) und 5.004.000 (90,2%) der Todesfälle verzeichneten die Wissenschaftler in LMICs.

 
Das sind Ergebnisse, mit denen sich die Fachgesellschaften … sowie die entsprechenden Berufsverbände werden beschäftigen müssen. Prof. Dr. Stephan Böse-O’Reilly
 

Der IQ-Verlust sei damit fast 80% höher als der einer früheren Schätzung gewesen, schreiben Larsen und Sánchez-Triana. Die von ihnen ermittelte Zahl der Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen sei sogar 6-mal so hoch wie in der Schätzung des GBD 2019 gewesen.

„Das sind Ergebnisse, mit denen sich die Fachgesellschaften, allen voran die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie, sowie die entsprechenden Berufsverbände werden beschäftigen müssen“, sagt Böse-O’Reilly.

 
Wir benötigen weitere Forschung zur tatsächlichen Belastung und zu den besten präventiven Maßnahmen. Prof. Dr. Stephan Böse-O’Reilly
 

Denn auch wenn die Bleikonzentrationen im Blut nach dem Ausstieg aus verbleitem Benzin vor allem in den westlichen Ländern stark zurückgegangen seien, stelle Blei, das in den Knochen über Jahrzehnte verbleibe, auch hierzulande weiterhin ein gesundheitliches Problem dar.

In Europa ist die Situation vergleichsweise moderat

„Wir brauchen eine breite Diskussion, zum Beispiel zu den Fragen, ob man die Bleiwerte bei den Vorsorgeuntersuchungen in bestimmten Altersgruppen mitbestimmen lassen sollte, welche Werte im Blut tatsächlich noch tolerabel sind und in welchen Fällen womöglich sogar eine medikamentöse Therapie mit Chelatbildnern angebracht ist“, sagt Böse-O’Reilly.

„Natürlich können wir diese Fragen nicht auf der Basis einer einzelnen Studie beantworten“, räumt der Pädiater ein. „In jedem Fall verdeutlicht die aktuelle Arbeit aber, wie gefährlich Blei sein kann und dass wir weitere Forschung zur tatsächlichen Belastung und zu den besten präventiven Maßnahmen benötigen.“

Dabei sei die Situation in Europa noch vergleichsweise moderat. „Weltweit ist die Bleibelastung in den vergangenen Jahren angestiegen“, sagt Böse-O’Reilly. Außerhalb der EU finde man Blei einer Untersuchung von Pure Earth zufolge vermehrt zum Beispiel in Spielzeug, Gewürzen und Kochgeschirr.

„Gerade in einkommensschwächeren Ländern fehlen der Konsumentenschutz und ein gutes Monitoring-Programm, wie wir es in der EU haben“, sagt Böse-O’Reilly. Dort würde Blei beispielsweise von betrügerischen Händlern Gewürzen zugesetzt, um deren Farbe zu intensivieren oder sie schlicht schwerer zu machen, um so mehr Gewinn mit ihnen zu erzielen.

Auch das Recycling von bleihaltigen Batterien oder anderem Elektroschrott, das vielfach in ärmere Länder verlegt werde, stelle ein großes Problem dar. „Kinder in Deutschland weisen in der Regel Bleiwerte von unter 1 μg/dl Blut auf“, erläutert Böse-O’Reilly. „In manchen Regionen Indonesiens, in denen solche Recyclingfabriken stehen, haben 50 Prozent der Kinder Werte von mehr als 20 μg/dl.“

Blei ist ein ähnlich großer Umweltrisikofaktor wie Feinstaub

Die globalen Kosten der erhöhten Bleiexposition betrugen Larsen und Sánchez-Triana zufolge im Jahr 2019 rund 6 Billionen US-Dollar, was 6,9% des globalen BIP entspricht. 77% der Kosten (4,62 Billionen US-Dollar) waren die Wohlfahrtskosten der Sterblichkeit durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen und 23% (1,38 Billionen US-Dollar) waren der Gegenwartswert zukünftiger Einkommensverluste durch den IQ-Verlust der Kinder.

„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die globale Bleiexposition gesundheitliche und wirtschaftliche Kosten verursacht, die mit denen der PM2,5-Luftverschmutzung vergleichbar sind“, schreiben die Autoren im Fazit ihrer Studie. Damit stelle Blei einen Umweltrisikofaktor dar, der auf einer Stufe mit Feinstaub stehe und noch vor der Luftverschmutzung durch feste Brennstoffe, vor unsicherem Trinkwasser, unsauberen sanitären Einrichtungen oder unzureichendem Händewaschen rangiere.

 
Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die globale Bleiexposition gesundheitliche und wirtschaftliche Kosten verursacht, die mit denen der PM2,5-Luftverschmutzung vergleichbar sind. Bjorn Larsen und Dr. Ernesto Sánchez-Triana
 

„Dieses Resultat steht im Gegensatz zur GBD 2019, die die Bleiexposition als weit abgeschlagenen vierten Umweltrisikofaktor einstufte, weil sie den IQ-Verlust bei Kindern nicht berücksichtigte – abgesehen von der idiopathischen geistigen Entwicklungsbehinderung bei einer kleinen Untergruppe von Kindern – und eine wesentlich niedrigere Schätzung der Sterblichkeit durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Erwachsenen angab“, schreiben Larsen und Sánchez-Triana.

„Eine zentrale Schlussfolgerung für die künftige Forschung und Politik ist, dass LMICs einen außerordentlich hohen Anteil an der Gesundheits- und Kostenbelastung durch die Bleiexposition tragen“, so die Autoren. Folglich seien gerade dort eine verbesserte Qualität der Messungen von Blutbleispiegeln und die Identifizierung bleihaltiger Quellen dringend erforderlich.

Bessere Recyclingsmethoden sind vor allem in den LMICs notwendig

Böse-O’Reilly möchte bei all dem insbesondere die Kinder verstärkt in den Fokus nehmen. „Wenn die kognitiven Fähigkeiten der Kinder verloren gehen, wirkt sich das langfristig natürlich auch auf die wirtschaftliche Lage eines Landes aus“, sagt er. „Den LMICs wird somit genau das genommen, was sie eigentlich zu ihrer Entwicklung brauchen.“

„Wir sollten uns daher gut überlegen, ob wir wirklich so viel von unserem Elektronikschrott und so viele alte Autos in ärmere Länder gelangen lassen, wo sie unsachgemäß recycelt werden“, mahnt der Mediziner. Zumindest müsse man den LMICs die nötigen Hilfestellungen geben, damit sie bleihaltige Produkte künftig so aufbereiten könnten, dass weniger Blei in die Umwelt gelange.

„Wir selbst tragen durch diese globalen Kreisläufe sehr zu der weltweiten Bleibelastung bei“, sagt Böse-O’Reilly. „In meinen Augen ist daher auch das deutsche Lieferkettengesetz durchaus sinnvoll: Wir schützen damit nicht nur unsere eigene Wirtschaft, sondern auch die Gesundheit der Menschen in anderen Ländern.“

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