Sauber! EU-Parlament stimmt für strengere Feinstaub-Grenzwerte – aber diese müssen erst bis 2035 erreicht werden

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

21. September 2023

Strengere Grenzwerte für Feinstaub und Stickstoffdioxid: Das EU-Parlament hat für eine Verschärfung der EU-Luftqualitäts-Richtlinie gestimmt. Die Abgeordneten folgten damit im Wesentlichen dem EU-Umweltausschuss.

Nach den Vorschlägen der EU-Kommission im Oktober 2022 hatte der Umweltausschuss im Juni 2023 seine Empfehlungen bekannt gegeben. Darin werden strenge Ziele für mehrere Schadstoffe vorgeschlagen, darunter:

  • Feinstaub (PM2,5, PM10),

  • NO2 (Stickstoffdioxid),

  • SO2 (Schwefeldioxid) und

  • O3 (Ozon).

Die neuen Vorschriften würden sicherstellen, dass die Luftverschmutzung in der EU weder die menschliche Gesundheit noch die natürlichen Ökosysteme oder die biologische Vielfalt beeinträchtigt.

 
Der Gesundheitssektor ist zufrieden, dass das Europaparlament dem Schutz der Gesundheit einen großen Schub verliehen hat. Dr. Anja Behrens
 

Die EU hatte nach der Veröffentlichung der aktualisierten WHO Luftqualitätsrichtlinien 2021 angekündigt, die geltenden Standards zu überarbeiten, „um sie enger an die WHO-Empfehlungen anzugleichen“. Luftverschmutzung ist nach wie vor die häufigste umweltbedingte Ursache für frühzeitigen Tod in der EU mit etwa 300.000 vorzeitigen Todesfällen pro Jahr.

 
„Aus medizinischer Sicht wurden mit diesem vorsorgeorientierten Vorschlag für eine Anpassung der Grenzwerte wesentlicher Luftschadstoffe … alle meine Erwartungen weit, weit übertroffen. Prof. PD Dr. Hans-Peter Hutter
 

In ihrem Offenen Brief vom Juni diesen Jahres hatten die Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit e.V. (KLUG) und weitere Ärzteverbände für die vollständige Angleichung der EU-Grenzwerte an die WHO-Richtwerte bis spätestens 2030 geworben. Auch wenn die jetzt beschlossenen Grenzwerte nicht ganz mit den WHO-Richtwerten übereinstimmen, begrüßt Dr. Anja Behrens, Sprecherin der AG Saubere Luft bei KLUG, das Ergebnis der Abstimmung.

„Wir freuen uns, dass die Vorschläge angenommen wurden und dass es in die richtige Richtung weitergeht. Der Gesundheitssektor ist zufrieden, dass das Europaparlament dem Schutz der Gesundheit einen großen Schub verliehen hat“, sagt Behrens gegenüber Medscape. Statt bereits 2030 – wie von den Ärzteverbänden erhofft und vom Umweltausschuss empfohlen – sollen die strengeren Grenzwerte jedoch nun erst bis 2035 erreicht werden.

Schon die Vorschläge der EU-Kommission wurde positiv bewertet

Bereits die Vorschläge der EU-Kommission waren von Expertinnen und Experten gegenüber dem Science Media Center (SMC) positiv bewertet worden. „Mit der Absenkung der verbindlich einzuhaltenden Grenzwerte von 10 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft für Feinstaub (PM2,5) und 20 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft für Stickstoffdioxid stellt der Gesetzentwurf eine Verbesserung im Vergleich zur bisherigen Luftqualitätsrichtlinie von 2008 dar“, kommentierte Prof. Dr. Barbara Hoffmann , Leiterin der Arbeitsgruppe Umweltepidemiologie an der Universität Düsseldorf.

 
Auch unterhalb dieser neuen vorgeschlagenen Grenzwerte werden Auswirkungen auf die Gesundheit auftreten. Prof. Dr. Annette Peters
 

„Aus medizinischer Sicht wurden mit diesem vorsorgeorientierten Vorschlag für eine Anpassung der Grenzwerte wesentlicher Luftschadstoffe – speziell PM10, PM2,5 und NO°2 – alle meine Erwartungen weit, weit übertroffen“, sagte auch Prof. PD Dr. Hans-Peter Hutter, Stellvertretender Leiter der Abteilung für Umwelthygiene und Umweltmedizin der Universität Wien. Die Folgen der Luftverschmutzung in der Außenluft seien lange Zeit deutlich unterschätzt worden, so Hutter und fügte hinzu: „Aus umweltmedizinischer Sicht ist dies endlich eine zukunftsweisende Politik, die wir mit aller Kraft unterstützen werden.“

Der Vorschlag der EU-Kommission sei „ein guter Schritt vorwärts“, sagte auch Dr. Volker Matthias, Abteilungsleiter Chemietransportmodellierung am Helmholtz Zentrum Hereon GmbH in Geesthacht.

Prof. Dr. Annette Peters, Direktorin des Institute of Epidemiology II am Helmholtz Zentrum München, gab allerdings zu bedenken, dass die Richtlinien der WHO im Vorschlag der EU-Kommission nicht umgesetzt werden: Daher werden auch unterhalb dieser neuen vorgeschlagenen Grenzwerte Auswirkungen auf die Gesundheit auftreten.“

Jetzt: Mehr Messstellen und Fahrpläne für bessere Luftqualität

Neben den strengeren Grenzwerten für Luftschadstoffe haben die EU-Abgeordneten auch die Einrichtung von mehr Messstellen beschlossen: in städtischen Gebieten mindestens 1 Messstelle pro 2 Millionen Einwohner – die Kommission hatte 1 Messstelle pro 10 Millionen Einwohner vorgeschlagen. An Orten, an denen mit hohen Konzentrationen von ultrafeinen Partikeln (UFP), Ruß, Quecksilber und Ammoniak (NH°3) zu rechnen ist, sollte eine Probenahmestelle pro eine Million Einwohner eingerichtet werden. Hier hatte die Kommission ursprünglich 1 Messstelle pro 5 Millionen Einwohner nur für UFP vorgeschlagen.

Das EU-Parlament will die Luftqualitätsindizes in der EU harmonisieren, sie vergleichbar, klar und öffentlich zugänglich machen. Durch stündliche Aktualisierungen sollen sich die Bürger bei hoher Luftverschmutzung besser schützen können.

Das Parlament möchte auch, dass Bürgerinnen und Bürger, deren Gesundheit geschädigt wird, ein stärkeres Recht auf Entschädigung haben, wenn gegen die neuen Vorschriften verstoßen wird. Die Abgeordneten schlagen vor, dass die EU-Länder nicht nur Luftqualitätspläne vorlegen müssen, wenn sie Grenzwerte überschreiten, sondern auch, um ihre kurz- und langfristigen Maßnahmen zur Einhaltung der neuen Grenzwerte zu erläutern.

 
Diese in Zeitlupe ablaufende Pandemie fordert einen verheerenden Tribut von unserer Gesellschaft … Javi López
 

363 Abgeordnete stimmten in Straßburg dafür, 226 dagegen und 46 enthielten sich der Stimme. Pascal Canfin, Vorsitzender des EU-Umweltausschusses schreibt bei X (ehemals Twitter): „Das Parlament hat den Angriff der Rechten und der extremen Rechten abgewehrt. Die Verteidiger unserer Gesundheit und insbesondere der Gesundheit von Kindern und älteren Menschen haben gewonnen.“

Und Javi López, Berichterstatter im Parlament, sagt: „Die Bekämpfung der Luftverschmutzung in Europa erfordert sofortiges Handeln. Diese in Zeitlupe ablaufende Pandemie fordert einen verheerenden Tribut von unserer Gesellschaft und führt zu vorzeitigen Todesfällen und einer Vielzahl von Herz-Kreislauf- und Lungenkrankheiten. Wir müssen den wissenschaftlichen Erkenntnissen folgen, unsere Luftqualitätsnormen an die WHO-Leitlinien anpassen und einige der Bestimmungen dieser Richtlinie verstärken. Wir müssen ehrgeizig sein, um das Wohlergehen unserer Bürger zu schützen und eine sauberere und gesündere Umwelt zu schaffen.“

Verkehr, Gebäude, Landwirtschaft – viele Hebel, um anzusetzen

Die Zielvorgaben hält KLUG-Sprecherin Behrens für umsetzbar. Stichwort Verkehrssektor und drohende Fahrverbote: „Der Einsatz von Elektroautos würde die Abgase im Verkehrssektor deutlich reduzieren, flankiert von mehr mobiler Aktivität und dem Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel – das wäre auf jeden Fall machbar.“

Behrens wirbt dafür, nicht nur auf den Verkehrssektor zu schauen. „Der Verkehrssektor ist nicht die einzige Quelle für Luftschadstoffe. Die neuesten Zahlen für Feinstaub der kleinsten Kategorie PM2,5 zeigen: 19% stammen aus dem Energiesektor, 19% aus dem Straßenverkehr und 19% aus der Holzfeuerung – die liegt mit dem Straßenverkehr inzwischen gleichauf“, erklärt Behrens.

 
Es geht nicht nur um technische Maßnahmen und Verbote – sondern auch um den Lebensstil. Dr. Anja Behrens
 

Der Gebäudesektor trägt in Deutschland maßgeblich zur Feinstaubbelastung bei. Durch die Förderung der Holzverbrennung als angeblich CO°2-neutral gibt es immer mehr Pelletheizungen. „Viele Menschen denken, dass Kaminfeuer ökologisch und klimaneutral sinnvoll ist. Das ist es aber nicht“, sagt Behrens und fügt hinzu: „Da liegt auch ein Hebel, bei dem man ansetzen kann.“

Behrens nennt mehrere Bereiche, in denen sich die Luftverschmutzung verringern lässt und gleichzeitig Ko-Benefits für die Gesundheit erreicht werden können:

  • im Verkehrssektor durch aktive Mobilität,

  • im Gebäudesektor durch saubere Luft, die aus strengeren Maßnahmen und die Umstellung auf echte erneuerbare Energien resultieren würde, und

  • in der Landwirtschaft z.B. durch die Umstellung der Ernährung auf fleischarm und pflanzenbasiert.

„Es geht nicht nur um technische Maßnahmen und Verbote – sondern auch um den Lebensstil“, so Behrens.

Sobald der Europäische Rat seinen Standpunkt angenommen hat, können die Verhandlungen zwischen Parlament und Rat über die endgültige Form des Gesetzes beginnen.

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