Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat am 17. und 18. August 2023 den ersten globalen Gipfel für traditionelle Medizin in der indischen Stadt Gandhinagar ausgetragen. Da die traditionelle Medizin für Millionen von Menschen oft die erste Option ist, wenn es um ihre Gesundheit geht, hatte das Forum zum Ziel, „das politische Engagement sowie evidenzbasierte Maßnahmen für die traditionelle Medizin zu mobilisieren“.
Viel Widerstand in Europa
Während mehr als 100 Länder auf der ganzen Welt Möglichkeiten gefunden haben, um Ansätze aus der traditionellen oder komplementären Medizin in ihr Gesundheitswesen zu integrieren und zu regulieren, hinkt Europa in dieser Hinsicht hinterher. Laut WHO-Bericht über traditionelle und komplementäre Medizin aus dem Jahr 2019 ist Europa die Region, deren Länder die Empfehlungen der WHO in Bezug auf Regulierung und Forschung rund um die traditionelle Medizin am wenigsten angenommen haben.
Es gebe immer noch viel Widerstand gegen die traditionelle Medizin, erklärte Miek Jong, Direktorin des nationalen Forschungszentrums für Komplementär- und Alternativmedizin in Norwegen. „Viele europäische Länder wollen sie nicht regulieren, weil sie sagen, dass eine Regulierung einer Anerkennung gleichkomme“, sagte sie. „Das ist wirklich ein Fehler. Wenn man etwas reguliert, sagt man damit nicht, dass es funktioniert, sondern, dass man sich damit befassen muss. Man kann es nicht einfach ignorieren, denn viele Menschen verlassen sich darauf.“
Tido von Schoen-Angerer, Vizepräsident der International Federation of Anthroposophic Medical Associations, erklärte, dass Europa über einige hervorragende Forschungszentren und Krankenhäuser verfüge, die eine Integration erfolgreich vorangetrieben hätten. Solche Fortschritte seien jedoch uneinheitlich; sie würden von der Politik noch nicht unterstützt.
Wo Europa steht
Die WHO fördert die Entwicklung von nationalen Richtlinien, Forschungsinstituten und nationalen Ämtern zur sicheren Integration der traditionellen Medizin in das Gesundheitswesen. Europa hat diesbezüglich bisher kaum etwas bewirkt.
So hatten im Jahr 2018 nur 21% der EU-Mitgliedstaaten ein Forschungsinstitut für traditionelle und komplementäre Medizin, verglichen mit 64% der Länder in Südostasien und 62% in Afrika. Außerdem verfolgten nur 20% der europäischen Länder eine nationale Politik zur traditionellen Medizin, verglichen mit 85% in der Region Afrika und 90% in Südostasien.
Die Europäische Union hat eine gemeinsame Politik zur Regulierung von pflanzlichen Produkten, die sich aber nicht auf traditionelle Heilpraktiken erstreckt. Aus einer Studie aus dem Jahr 2018 geht hervor, dass gerade einmal 12 europäische Länder 5 oder mehr alternative Therapien (wie Akupunktur, chiropraktische Therapie, Massage, Homöopathie oder traditionelle chinesische Medizin) regulierten, während 20 nur 1 bis 4 dieser Therapien regulierten.
Allerdings nutzen laut einer Analyse des European Social Survey (ESS) etwa 26% der Bevölkerung bereits eine Art von traditioneller oder komplementärer Medizin. Die Regulierung dieser Therapien würde es den Regierungen ermöglichen, Risiken zu überwachen, besser zu verstehen, welche komplementären Therapien funktionieren und welche nicht, und den Patientinnen und Patienten zuverlässige Informationen bereitzustellen, erklärte Jong.
„Eine Regulierung bedeutet, dass die Gesundheitsbehörde eine bestimmte Aufsicht über die Aktivitäten übernehmen würde, aber dies hat auch Vorteile für die Praktizierenden, die in das System aufgenommen werden können, wenn sie bewährte Verfahrensweisen einhalten“, fügte Schoen-Angerer hinzu.
Herausforderungen und Chancen einer Regulierung
Es kann schwierig sein, einige dieser Behandlungen zu regulieren. Beispielsweise reguliert die Europäische Union pflanzliche und biomedizinische Produkte unterschiedlich. Sie erkennt an, dass Phytopharmaka keinen standardmäßigen Regulierungsprozess durchlaufen müssen, solange das Produkt in einem Land „eine ausreichend lange und kohärente Tradition“ hat.
Einige politische Experten sähen gerne einen auf Sicherheit fokussierten Ansatz, nach dem etwas empfohlen werden kann, wenn es sicher und wirksam ist. Im Gegensatz kann von etwas, das unwirksam ist, abgeraten werden, und schädliche Dinge können mit einem Verbot belegt werden. Und wenn etwas ungefährlich, die Wirksamkeit aber noch unklar ist, kann man den Menschen die Chance geben, es auszuprobieren.
„Wenn kein Schaden verursacht und eine Besserung erreicht wird, ist das doch genau das, was die Medizin bewirken soll“, merkte Beth Anne Pratt, eine Spezialistin für Gesundheitssysteme bei der Forschungs- und Beratungsgesellschaft Global Health Insights, an.
Die traditionelle und komplementäre Medizin könne manchmal eine Alternative für Menschen darstellen, denen in der Schulmedizin die Optionen ausgingen, erklärte sie. Ein Beispiel sind Menschen mit Autoimmunerkrankungen, die sich nicht mehr mit den Nebenwirkungen der häufig angewendeten Behandlung mit Steroiden herumschlagen möchten.
Doch traditionelle Therapien müssen andere Arten der Versorgung nicht ersetzen, sondern können auch ergänzend eingesetzt werden. „Niemand würde empfehlen, bei Krebs ein paar ätherische Öle zu schlucken“, sagte Pratt. Aber gewisse traditionelle Praktiken könnten denjenigen helfen, die sich bereits in der Chemotherapie befinden, mit ihren Schmerzen umzugehen und ihr Wohlbefinden zu verbessern.
Schoen-Angerer glaubt, dass traditionelle Praktiken etwas ganz anderes bieten könnten: eine Möglichkeit, das, was wir unter Gesundheit insgesamt verstehen, grundlegend zu verändern. Er erklärte, dass es unterdessen allgemein anerkannt sei, dass sich das Gesundheitswesen nicht nur an Krankheiten orientieren, sondern das allgemeine Wohlbefinden fördern solle. In diesem Sinne könne die Integration der komplementären Medizin in das Gesundheitswesen Patienten mehr Optionen bieten und ihnen wirklich helfen.
„Dies stellt Patienten in den Mittelpunkt“, erklärte Schoen-Angerer. „Es heißt nicht einfach: Sie benötigen eine Knieoperation, weil Sie Arthrose haben. Die Frage lautet stattdessen: Wofür brauchen Sie Ihre Gesundheit?“
Der Beitrag ist im Original erschienen auf Univadis.de.
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Diesen Artikel so zitieren: Europa: Patienten schätzen die traditionelle Medizin – doch Aufsichtsbehörden scheuen sich vor einer Regulation - Medscape - 19. Sep 2023.
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