„Den Markt leerkaufen“ anstatt mit Firmen zu sprechen: Strategien gegen Lieferengpässe bei Medikamenten in der Kritik

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

6. September 2023

Drohen neue Lieferengpässe bei wichtigen Arzneimitteln? Ende August meldete der pharmazeutische Großhandel, Vorräte für wichtige Medikamente würden „keine 2 Wochen“ reichten. Mit Beginn der Erkältungssaison könnte es erneut zu Engpässen kommen. Im vergangenen Winter waren während einer großen Infektionswelle Fieber- und Hustensäfte für Kinder nur eingeschränkt lieferbar.

Mit Notfallmaßnahmen hat das Bundesgesundheitsministerium im Frühjahr versucht, gegenzusteuern. Krankenkassen wurden aufgefordert, nicht nur Verträge mit den günstigsten Anbietern abzuschließen. Und Apotheken bekamen die Möglichkeit, in Deutschland nicht zugelassene Antibiotikasäfte zu importieren. Zusätzlich sollten einige Medikamente großzügiger bevorratet werden. 

Ende Mai hatten Dr. Torsten Hoppe-Tichy, Leiter der Klinikapotheke des Universitätsklinikums Heidelberg, Prof. Dr. Ulrike Holzgrabe vom Institut für Pharmazie und Lebensmittelchemie der Universität Würzburg und Prof. Dr. David Francas, Experte für globale Lieferketten an der Hochschule Worms, Vorschläge für einer besseren Versorgung gemacht. Nun ziehen sie eine Bilanz der bisherigen Maßnahmen. 

Das Lieferengpassgesetz (ALBVVG) allein reicht nicht aus

„Die erleichterten Importbedingungen waren gut und haben uns zumindest rechtlich aus dem Graubereich geholt, auch die Kommunikationsmaßnahmen des Bundesgesundheitsministeriums mit den Playern im Gesundheitswesen waren sehr gut und hilfreich“, sagt Hoppe-Tichy. 

Francas bewertet das Lieferengpass-Gesetz (ALBVVG) positiv, sagt aber auch: „Absehbar ist, dass die Lösung der Lieferengpassproblematik über das Gesetz hinaus gehende Anstrengungen wie den Einbezug weiterer Arzneimittelgruppen und die engere Kooperation mit den europäischen Partnern benötigen wird.“

Zwar habe das ALBVVG Ansätze genannt, wie man Engpässen entgegenwirken könne, sagt Holzgrabe. „Allein die Umsetzung ist quasi unmöglich. Wo sollen die Antibiotika und Schmerz- beziehungsweise Fiebermittel herkommen, die in die Lager gelegt werden sollen?“ Die Produktion sei weltweit am Anschlag. Nur sehr wenige Hersteller könnten mehr produzieren. 

„Die Alternative ist, anderen Ländern die Ware vor der Nase wegzuschnappen.“ So würden mittlerweile beim indischen Hersteller Puren/Aurobindo Amoxicillin-Präparate gekauft, die für den amerikanischen Markt bestimmt gewesen seien. Das Schlimmste sei, dass man Aurobindo ein Vielfaches von dem zahle, was ein Medikament aus europäischer Produktion kosten würde. „Warum lenken wir dieses Geld nicht in den zügigen Ausbau der europäischen Produktion?“

 
Wo sollen die Antibiotika und Schmerz- beziehungsweise Fiebermittel herkommen (...)? Prof. Dr. Ulrike Holzgrabe
 

Handelt der Gesundheitsminister aus Panik heraus? 

Ehrlich gesagt wisse sie nicht, „wie wir die Situation in den Griff bekommen sollen“, meint Holzgrabe. Sie stuft Handlungen des Gesundheitsministers als „sehr von Panik getrieben“ ein. „Statt mit den Grundversorgern, den Generikaherstellern, … zu sprechen, versucht er, den Markt leerzukaufen. Aus der Sicht der deutschen Patienten mag das vordergründig eine Lösung zu sein, aber alle anderen Europäer benötigen dieselben Arzneimittel dieser sogenannten Dringlichkeitsliste. Das wird also zu einem Verdrängungswettbewerb führen“, erläutert Holzgrabe. 

 
Statt mit den Grundversorgern, den Generikaherstellern, … zu sprechen, versucht er [Karl Lauterbach], den Markt leerzukaufen. Prof. Dr. Ulrike Holzgrabe
 

Francas erinnert daran, dass die Lieferengpässe im Winter 2022 auch durch ein erhöhtes Infektionsgeschehen nach den Pandemiejahren mitverursacht wurden. Bei Kinderfiebersäften sei der Marktaustritt eines Anbieters erschwerend hinzugekommen.

„Die Versorgungslage im Winter 2023 wird auch davon abhängig sein, inwieweit die Hersteller die Bedarfe an Arzneimitteln treffend prognostiziert haben und ihre Produktion und Lagerhaltung danach ausrichten konnten“, sagt Francas. Eine Hürde sei oftmals, dass sich die Produktionskapazitäten kurzfristig kaum steigern ließen. Nicht unterschätzt werden sollte, dass auch inflationierte Bestellungen von Arzneimitteln – wenn sie auf breiter Front deutlich über den eigentlich benötigen Mengen geschehen – Lieferprobleme auslösen könnten.

Notvorräte für kritische Arzneimittel anlegen

„Wir brauchen ausreichende Vorräte beim Hersteller und Großhandel, vielleicht Notvorräte bei kritischen Arzneimitteln nach dem Schweizer Modell“, sagt Hoppe-Tichy. „Langfristig brauchen wir die Unterstützung einer in der EU ansässigen produzierenden Pharmaindustrie, dabei beachtend, dass es eine Win-Win-Situation gibt und nicht zu einer einseitigen Erhöhung der Umsatzrenditen bei Pharma kommt.“ 

 
Wir brauchen ausreichende Vorräte beim Hersteller und Großhandel, vielleicht Notvorräte bei kritischen Arzneimitteln nach dem Schweizer Modell. Dr. Torsten Hoppe-Tichy
 

„Eine kurzfristige umsetzbare, strukturelle Stärkung kann durch erhöhte Bevorratung geschehen, auch wenn die Mehrkosten hierfür fair honoriert werden müssen, um negative Anreize zu vermeiden“, ergänzt Francas. Ein gutes Engpassmanagement könne helfen, Arzneimittel besser zu verteilen. 

Und eine langfristige Lösung wiederum erfordere eine klare Strategie, die über das Lösen tagesaktueller Probleme hinausgehe. „Dafür benötigen wir auch eine engere Verzahnung des Gesundheitswesens mit der Wirtschaftspolitik und den nationalen Sicherheitsstrategien“, so Francas. Zentrale Voraussetzung für die Stärkung der Versorgung sei dabei die datengestützte Identifikation besonders anfälliger Lieferketten.

Firmen nach Europa holen – stärkere Anreize schaffen

Nach Einschätzung von Holzgrabe müssten Politiker „mit den Grundversorgern sprechen, um zu eruieren, was im Augenblick noch möglich ist“. Um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, sei es wichtig, langfristig mehr Produktionsstätten aufzubauen – speziell in Europa, obwohl die europäische Produktion durchaus 20 bis 30% teurer sei. 

„Wie schnell sich das lohnen kann, sieht man am genannten Beispiel des Amoxicillin-Kaufs bei Puren/Aurobindo“, weiß Holzgrabe. Es gebe in der EU Diskussionen über etliche Aspekte, beispielsweise Zuschüsse für Produktionsstätten, vereinfachte Zulassungsverfahren, vereinfachte dezentrale klinische Studien oder verkürzte Fristen. „Jedoch stehen diese Gespräche erst am Anfang, aber schnelleres und besonneneres Handeln wäre notwendig.“

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