Das Medizinstudium hat sich im Laufe der Jahre erheblich verändert. Medizin ist als Wissenschaft im Fluss. Theorie und Praxis entwickeln sich ständig weiter, und was vor 10 oder 20 Jahren noch Standard war, ist heute durch neue Perspektiven, Verfahren oder Technologien ersetzt worden. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass auch Sie von einigen der Dinge, die Sie während Ihres Medizinstudiums gelernt haben, heute nicht mehr überzeugt sind.
Medscape wollte von Ärztinnen und Ärzte wissen, welche Inhalte, die sie im Medizinstudium gelernt haben, heute ablehnen. Viele der Antworten beziehen sich auf gesellschaftliche Entwicklungen und auf eine veränderte berufliche Praxis.
Schmerzen richtig behandeln
Dr. Jacqui O'Kane machte 2013 ihr Examen und hatte damals gelernt, möglichst keine Betäubungsmittel (BtM) zu verschreiben. „Damals erschien mir diese Haltung sinnvoll“, sagt O'Kane. „Aber als ich einige Erfahrung als Ärztin – und auch Patientin – gesammelt hatte, erkannte ich die Folgen, die eine solche Einstellung haben kann. Personen, die langfristig BtM einnahmen, wurden mitunter als Drogensüchtige gebrandmarkt und auch so behandelt, selbst wenn ihre Behandlung weithin als angemessen angesehen wurde.“ Ebenso hätten Patienten, die kurzfristigen Opiatverordnungen profitieren konnten, diese aufgrund unklarer Ängste mancher Ärzte nicht bekommen.
Heute ist O'Kane der Ansicht, dass Medikamente, die unter das BtM-Gesetz fallen, nur selten die 1. Wahl für Personen, die unter Schmerzen, Ängsten oder Schlaflosigkeit leiden, seien. Allerdings sollten sie „für Patienten, bei denen die Erstbehandlung versagt oder Alternativen kontraindiziert sind, verfügbar sein“.
Dr. Amy Baxter beendete ihr Studium 1995. Sie ist der Meinung, dass Ärzte im Studium mehr über Schmerztherapien lernen sollten.
„Ärztinnen und Ärzte in den USA erhalten ganze 12 Stunden Ausbildung in Schmerztherapie, und der größte Teil davon ist Pharmakologie“, sagt sie. „Neben falschen Informationen über Opioide als Medikamente und über ihr Suchtpotenzial wurde mir auch der Eindruck vermittelt, chronische Schmerzen könnten mit Medikamenten beseitigt werden. Heute habe ich ein ganz anderes Verständnis von Schmerz als Warnsystem des gesamten Gehirns. Das Ziel sollte nicht unbedingt darin bestehen, schmerzfrei zu sein, sondern sich besser zu fühlen.“
Lebensstil und Prävention
Dr. Dolapo Babalola hat Medizin studiert, um zu lernen, wie man den menschlichen Körper und die Krankheiten in ihrer Familie behandelt, etwa lähmende Auswirkungen von Gelenkschmerzen und von anderen chronischen Krankheiten.
„Ich habe viel über die Pathologie arthritischer Schmerzen, über Symptome und Therapien gelernt, etwa, dass sie genetisch bedingt seien, dass sie unvermeidbar seien … Aber ich lernte nichts darüber, wie man sie verhindern kann“, sagt Babalola, die ihr Studium im Jahr 2000 abgeschlossen hat.
20 Jahre später litt sie selbst an Knieschmerzen und entdeckte die Lifestyle-Medizin für sich. „Ich habe mehr über die Kraft der Wiederherstellung der Gesundheit erfahren, indem ich die Ursachen von Krankheiten wie Entzündungen, hormonellem Ungleichgewicht und Insulinresistenz entdeckte, die auf schlechte Einflüsse durch Fehlernährung, Bewegungsmangel, Stress, unzureichenden Schlaf und Drogenmissbrauch zurückzuführen sind“, sagt sie.
Dr. Adebisi Alli, die ihr Studium 2011 abgeschlossen hat, erinnert sich, dass sie Typ-2-Diabetes behandeln sollte, indem sie das Fortschreiten der Krankheit verzögerte, statt sich um eine Remission zu bemühen. „Heute werden in der medizinischen Ausbildung zunehmend Lebensstil- und Team-basierte Ansätze verfolgt, um einen Diabetes in Remission zu bringen“, sagt sie.
Mittelpunkt der Medizin ist die Patientenversorgung
Dr. Tracey O'Connell erinnert sich an ihre fachärztliche Ausbildung zur Radiologin Anfang bis Mitte der 1990er-Jahre, als Fachkräfte für Radiologie noch ein fester Bestandteil der ärztlichen Teams waren.
„Wir hatten Kontakt mit den Überweisenden und verfolgten den Krankheitsverlauf der Erkrankten“, sagt O'Connell. „Wir kannten ihre Vorgeschichte und wussten, was aktuell los war. Wir waren mit anderen Menschen verbunden, mit Ärzten, mit Pflegekräften, mit den ganzen Teams und mit den Kranken selbst.“
Doch seit es Bildarchivierungs- und Kommunikationssysteme, Hochgeschwindigkeits-CTs und -MRTs, digitaler Radiographien und Spracherkennung gebe, habe sich die radiologische Praxis dramatisch verändert.
„Es gibt einfach nicht mehr genug Zeit, um Fälle zu besprechen oder zu diskutieren. Die Befunde haben sich von eloquenten, wortreichen Dokumenten mit Listen von Differenzialdiagnosen zu kurzen Checklisten und Vorlagen entwickelt. Die gesamte Versorgung der Erkrankten wurde buchstäblich entmenschlicht – und ist damit genau das Gegenteil von dem, was die Betroffenen brauchen.“
Dr. Mache Seibel, der sein Studium vor fast 50 Jahren beendet hatte, sieht auch, dass die Versorgung der Kranken immer mehr aus dem Blickfeld geraten sei – zum Nachteil der Betroffenen.
„Was ich im Medizinstudium gelernt habe und was man heute vergessen zu haben scheint, ist, wie man den Menschen zuhört, eine Anamnese erhebt und eine Untersuchung mit den Händen und dem Stethoskop durchführt“, sagt Seibel. „Heute konzentriert man sich mit der ganzen Technologie und unter dem hohen Zeitdruck zu sehr auf das Symptom ohne Kontext, ordnet einen Test an und macht seine Kreuzchen in der elektronischen Patientenakte.“
Arzt, heile dich selbst
Dr. Priya Radhakrishnan erinnert sich noch gut daran, wie sie gelernt hat, dass das Wohlbefinden einer Ärztin oder eines Arztes in der eigenen Verantwortung liege. „Heute wissen wir, dass das Wohlbefinden in der Verantwortung des Gesundheitssystems liegt und dass wir uns selbst diagnostizieren und gegenseitig unterstützen müssen, besonders unsere Studenten“, sagt Radhakrishna, die ihr Studium 1992 abgeschlossen hat. „Die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen ist entscheidend für das Wohlbefinden.“
Dr. Rachel Miller wurde 2009 mit dem Medizinstudium fertig. Sie hadert damit, dass sie damals nichts über das Gesundheitssystem und die Gesundheitspolitik gelernt hat. Sie habe in der Vorstellung gelebt, dass das politische Wissen schon mit der Zeit kommen würde. „Heute sehe ich das anders: Es ist wichtig, auch schon früh Aspekte des Gesundheitssystems und der Politik zu verstehen. Das Unwissen über diese Dinge hat seinen Teil dazu beigetragen, dass das Burn-out unter Ärzten und anderen im Gesundheitswesen Tätigen so weit verbreitet ist.“
Praxis mit Augenmerk auf Geschlechterunterschieden
Die Gynäkologin Dr. Janice L. Werbinski und die Onkologin mit Schwerpunkt Mammakarzinome Dr. Elizabeth Anne Comen erinnern sich an die Zeit, als fast die gesamte medizinische Forschung an weißen Männern mit 70 kg Körpergewicht durchgeführt wurde. Alle ärztlich Tätigen lernten somit, Patientinnen und Patienten durch diese männliche Brille zu sehen und zu behandeln.
„Der Großteil der Anatomie, die wir an der medizinischen Fakultät sahen, bezog sich auf eine männliche Figur“, sagte Comen, die 2004 ihr Medizinstudium abgeschlossen hat. „Nur als es um das weibliche Fortpflanzungssystem ging, haben wir uns eingehender mit der weiblichen Anatomie befasst, doch das ändert sich gerade.“
Werbinski entschied sich 1975 für eine Facharztausbildung in Geburtshilfe und Gynäkologie, weil sie glaubte, nur auf diese Weise weiblichen Patienten helfen zu können. „Ich glaubte wirklich, dass dies der richtige Ort für die Gesundheit von Frauen sei“, sagte Werbinski, die Co-Vorsitzende der Sex & Gender Health Coalition der American Medical Women's Association (AMWA) ist.
„Ich freue mich sehr darüber, dass das Bewusstsein dafür seit meinem Medizin-Abschluss deutlich zugenommen ist. Ich hoffe, dass heutige Medizinstudierende sich darüber im Klaren sind, dass sie aus einer geschlechtsspezifischen Perspektive heraus praktizieren.“
Über ethnische Unterschiede sprechen
Der Gynäkologe Dr. John McHugh erinnert sich, wie wenig er während seines Studiums vor über 30 Jahren über die sozialen Determinanten von Gesundheit gelernt hat.
„Wir haben Unterschiede bei den Outcomes bei verschiedenen Ethnien und sozialen Schichten gesehen, aber wir haben geglaubt, das in der Praxis überwinden zu können“, sagt McHugh, Mitglied der AMWA Action Coalition for Equity. „Wir verstanden jedoch die Ursachen der Ungleichheiten nicht und hatten z.B. auch noch nie von Konzepten wie der Epigenetik gehört. Ich hoffe, dass die aktuelle Forschung unser Wissen über solche Faktoren voranbringt und die Medizinstudierenden von heute zu einer sichereren, gesünderen und gerechteren Welt beitragen.“
Prof. Dr. Curtiland Deville, Professor für Radioonkologie, weiß noch gut, wie wenig über ethnische Unterschiede, Vielfalt, Gleichheit und Integration gesprochen wurde.
„Als ich Medizin studiert habe, war mein Gefühl, dass man eher nicht über ethnische Unterschiede sprechen sollte“, sagt Deville, der 2005 seinen Abschluss gemacht hat. Aber seit der Corona-Pandemie, in der gesundheitliche Ungleichheiten stärker ins Blickfeld geraten und Forderungen nach Berücksichtigung ethnischer Unterschiede in den Mittelpunkt gerückt seien, würde dies thematisiert.
Informationen auf Knopfdruck
Für Dr. Paru David, Absolventin des Jahrgangs 1996, ist die größte Veränderung die Menge an gesundheitlichen und medizinischen Informationen, die heute zur Verfügung steht. „Früher trugen wir im Medizinstudium Informationen aus Lehrbüchern oder Zeitschriften zusammen“, sagt David. „Heute haben wir gigantische Datenbanken mit Informationen zur Verfügung. Der Schlüssel zum Erfolg liegt nicht zuletzt in der Fähigkeit, sich in den verfügbaren Informationen in einem angemessenen Zeitrahmen zurechtzufinden, sie mit klarem Verstand zu bewerten und zeitnah in die Versorgung unserer Patientinnen und Patienten zu integrieren.“
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus https://www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Diesen Artikel so zitieren: Realitätscheck für Ärzte: „Die Versorgung wurde entmenschlicht“: Was sich in der Medizin seit Ende des Studiums verändert hat - Medscape - 6. Sep 2023.
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