Madrid - Raucher mit den extremen Phänotypen eines hohen und eines niedrigen Risikos für ein tabakbedingtes Lungenkarzinom haben unterschiedliche genetische Profile. Das ist das Ergebnis einer multidisziplinären Studie am Department für Onkologie der University of Navarra Clinic (CUN), Spanien. Die Ergebnisse wurden auf dem aktuellen Kongress der American Society for Clinical Oncology in Chicago vorgestellt sowie im Journal of Clinical Oncology publiziert [1,2].
Dr. Ana Patiño-García, Leiterin der Abteilung für Genomische Medizin am CUN und Koordinatorin der Studie, schilderte gegenüber Medscape den Hauptgrund für die Durchführung der Studie. „Diese Studie kam direkt aus der Onkologie, wo wir ständig mit Lungenkrebskranken zu tun haben, die nie oder nur sehr wenig geraucht haben. Auf der anderen Seite kennen wir alle Menschen, die ihr Leben lang viel geraucht haben und nie an Krebs erkrankt sind. Diese Beobachtung hat uns zu der Frage geführt, ob es genetische Faktoren gibt, die das Krebsrisiko erhöhen oder verringern und die Menschen vor dieser Krankheit schützen.“
Der Onkologe Dr. José Luis Pérez-Gracia, Erstautor dieser Arbeit, sagte: „Erstmals wurden genetische Faktoren von Menschen validiert, die gegen die Entwicklung eines tabakbedingten Lungenkarzinoms resistent zu sein scheinen oder umgekehrt, ein hohes Risiko haben, daran zu erkranken.
Wegweisender Ansatz
In früheren Studien konnte gezeigt werden, dass manche Raucher an Krebs erkranken und andere nicht – das ist allgemein bekannt. Vermutlich kennt jeder ältere Menschen, die viel geraucht haben und nie einen Lungenkrebs bekommen haben“, sagt Pérez-Gracia. „Leider sieht man in der Onkologie aber auch junge Raucher, bei denen ein Tumor diagnostiziert wurde. Obwohl es wichtig ist, die Ursachen für diese Phänotypen zu verstehen, wurde diese Frage noch nie aus genetischer Sicht untersucht.“
Für die Studie wurde die DNA von 133 starken Rauchern und Raucherinnen verwendet, die im Durchschnittsalter von 80 Jahren noch kein Lungenkarzinom entwickelt hatten, sowie von 116 weiteren starken Rauchenden, die mit durchschnittlich 50 Jahren an diesem Krebs erkrankten. Die DNA wurde mittels Next generation sequencing (NGS) sequenziert und die Ergebnisse mithilfe von Bioinformatik und künstlicher Intelligenz zusammen mit dem Zentrum für angewandte medizinische Forschung und dem gentechnischen Bereich der University of Navarra analysiert.
Auf die Frage, wie diese Methodik andere Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet unterstützen könnte, antwortete Patiño-García: „Das Neue an dieser Studie ist ihr Ansatz. Er basiert auf den Extremgruppen, die durch das Alter der Personen zum Zeitpunkt der Lungenkrebsdiagnose und die Rauchmenge definiert wurden. Dabei ist der wichtigste und zugleich schwierigste Punkt die sorgfältige Auswahl der Fälle und Kontrollen. Es ist klar, dass wir mit den heutigen Sequenzierungstechnologien eine Quantität und Qualität von Daten zur Verfügung haben, die in der Vergangenheit für uns unerreichbar war.“
Auf die Rolle der Bioinformatik und der künstlichen Intelligenz in dieser Studie angesprochen erklärte Patiño-García, dass es sich dabei um relativ neue Ansätze handele. „Man könnte sagen, dass diese Technologien die Speerspitze der heutigen biomedizinischen Forschung darstellen. Sie haben in gewisser Weise die Voraussetzungen für den Paradigmenwechsel geschaffen, bei dem Forschende sozusagen den Daten eine Frage stellen und die Daten über die KI die Antwort geben.“
Genetischen Unterschieden auf der Spur
Zu den wichtigsten Ergebnissen dieser Studie sagte Pérez-Gracia: „Das Wichtigste, was wir herausgefunden haben, ist, dass es genetische Unterschiede zwischen den beiden Populationen gibt. Das bekräftigt erst einmal unsere Hypothese, es sind aber weitere Studien mit einer größeren Anzahl von Individuen erforderlich, um diese Ergebnisse zu bestätigen. Mit unserer Arbeit haben wir die Grundlage für die Entwicklung dieser Forschungsrichtung gelegt.“
„Viele der genetischen Varianten, die wir als Unterschiede zwischen Fällen und Kontrollen identifiziert haben, finden sich in Genen, die für das Immunsystem wichtig sind (HLA-System) oder die mit Abläufen in der Tumorentwicklung zusammenhängen. Wir sehen sie auch in Genen für Strukturproteine und in solchen, die für die Zellmobilität eine große Rolle spielen“, betont Patiño-García.
Von den entdeckten genetischen Merkmalen liegen zahlreiche in Genen, die in Zusammenhang mit der Krebsentwicklung stehen, wie etwa die Immunantwort, die Reparatur des Erbguts oder die Regulierung von Entzündungen.
„Diese Entdeckung ist von großer Bedeutung“, sagt Pérez-Gracia. „Wir sollten jedoch bedenken, dass die Phänotypen nicht nur eine, sondern mehrere Ursachen haben können.“
Er erläuterte die nächsten Schritte, die im Rahmen dieses neu eröffneten Forschungszweiges unternommen werden müssen. „Zunächst müssen wir diese Studien ausweiten und mehr Personen mit möglichst noch extremeren Phänotypen einbeziehen: mehr Rauchende, die älter oder jünger sind. Sobald die statistische Evidenz stärker ist, müssen wir bestätigen, dass die in den Laborstudien beobachteten Veränderungen tatsächlich die Genfunktion beeinflussen.“
Frühere Diagnosen verbessern Heilungschancen bei Risikogruppen
++Pérez-Gracia erörterte weiter die Möglichkeiten, wie der Transfer dieser Studienergebnisse jetzt und in Zukunft in die klinische Praxis aussehen könnte, um den Patientinnen und Patienten zugute zu kommen. „Die Ergebnisse unserer Forschungslinie könnten dazu beitragen, Rauchende mit hohem Lungenkrebsrisiko frühzeitig zu identifizieren, sodass sie in Präventionsprogramme zur Rauchentwöhnung aufgenommen werden könnten“, so Pérez-Gracia. „Das würde auch eine Früherkennung zu einem Zeitpunkt ermöglichen, an dem die Heilungschancen viel größer sind.“
Das Wichtigste sei jedoch die Mechanismen der Krebsentstehung besser zu verstehen. Dies könnte auch mit neuen Diagnosetechniken und neuen Therapien für diese Krankheit verbunden sein, so Pérez-Gracia. Er fügte hinzu: „Die für die Entwicklung dieser Forschungsrichtung erforderlichen Techniken (bioinformatische Massensequenzierung und künstliche Intelligenz) stehen zur Verfügung und werden von Tag zu Tag zuverlässiger und zugänglicher. Wir glauben daher auch, dass unsere Strategie sehr realistisch ist.“
Auch wenn diese Arbeit ein neuartiges Studiendesign abbildet, müssen noch einige Herausforderungen gemeistert werden, um herauszufinden, warum manche Rauchenden eher an Lungenkrebs erkranken als andere.
„Es gibt viele Forschungsansätze dazu“, sagt Pérez-Gracia. „Dabei ist es notwendig, die Zahl der Fälle und Kontrollen zu erhöhen, um die Vergleichbarkeit zu verbessern. Das beinhalte, auch Menschen mit anderen Tumoren zu untersuchen, die mit dem Rauchen in Verbindung gebracht werden, neue Fragen auf der Grundlage der bereits gesammelten Daten zu stellen und andere genomische Techniken anzuwenden, um zusätzliche Studien über bisher nicht untersuchte genetische Varianten durchzuführen. Und natürlich sind funktionelle Studien erforderlich, um die Funktion und Aktivität der bereits identifizierten Gene besser zu verstehen.“
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus https://www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Credits:
Photographer: © Chaiyan Anuwatmongkonchai
Lead image: Dreamstime.com
Medscape Nachrichten © 2023
Diesen Artikel so zitieren: Gene, die Raucher vor Lungenkrebs schützen? Neue Studie definiert Risikomerkmale und lässt auf Test hoffen - Medscape - 1. Sep 2023.
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