Amsterdam – Die European Society of Cardiology (ESC) hat neue Leitlinien zur Prävention, Diagnose und Behandlung der infektiösen Endokarditis (IE) herausgegeben, einer seltenen und potenziell tödlichen Infektion der Herzinnenhaut und -klappen. Die Aktualisierung einer Version aus dem Jahr 2015 war unter anderem aufgrund von Fortschritten in der Bildgebung und aufgrund einer Studie zur Antibiotikaprophylaxe erforderlich.
Die Ko-Vorsitzenden der Arbeitsgruppe, Dr. Victoria Delgado und Dr. Michael A. Borger, und weitere Mitglieder diskutierten die Leitlinien in 3 dicht gedrängten Sitzungen auf dem Kongress der European Society of Cardiology (ESC) 2023. Zeitgleich wurden die neuen Empfehlungen im European Heart Journal veröffentlicht [1,2].
Eine Endokarditis rasch erkennen
Endokarditis „kann sich mit so vielen verschiedenen klinischen Szenarien präsentieren, so dass die Diagnose sehr schwierig sein kann“, sagte Borger vom Herzzentrum Leipzig im Gespräch mit Medscape.
Die Diagnose einer tödlichen, seltenen, aber nicht ungewöhnlichen Krankheit wie der Endokarditis „ist etwas, womit Ärzte jeden Tag zu kämpfen haben“, bemerkte er und verwies auf überfüllte Hörsäle, in denen diese Leitlinien vorgestellt würden.
Borger nannte 4 wesentliche Punkte des neuen Dokuments:
Ein höherer Empfehlungsgrad und eine klarere Definition der Prävention und Prophylaxe von Endokarditis bei Patienten mit höherem Risiko.
Eine zunehmende Rolle nicht kardiographischer, neuer kardialer Bildgebungsverfahren bei der Diagnose von Endokarditis. „Die fortgeschrittenen kardialen Bildgebungsverfahren haben den gleichen Empfehlungsgrad wie die Echokardiographie erreicht“, stellte er fest.
Präziser definierte Indikationen für die Operation, speziell für den Zeitpunkt der Operation, sowie eine Reihe neuer chirurgischer Empfehlungen.
Präziser definierte Kriterien für die Diagnose und Behandlung von Endokarditis in Zusammenhang mit elektronischen Herzimplantaten (CIED).
Ein hohes IE-Risiko haben Patienten mit früherer IE, mit chirurgisch implantierten Herzklappenprothesen, mit bestimmten angeborenen Herzkrankheiten, mit Operationen mit Prothesenmaterial oder mit einem Herzunterstützungssystem. Die Autoren empfehlen, ihnen vor oralen oder zahnärztlichen Eingriffen prophylaktisch Antibiotika zu verabreichen.
Ein mittleres Risiko haben Patienten mit rheumatischen Herzerkrankungen, mit nicht-rheumatischen degenerativen Herzklappenerkrankungen, mit angeborenen Herzklappenanomalien, mit kardial implantierbaren Devices (CIED) und mit hypertropher Kardiomyopathie. Sie sollten von Fall zu Fall auf diese Prophylaxe hin untersucht werden, schreiben die Autoren der Leitlinie.
Diagnose einer infektiösen Endokarditis
Aufgrund von Fortschritten bei bildgebenden Verfahren sei eine Überarbeitung der Endokarditis-Leitlinien erforderlich geworden, so Borger.
Es gebe Patienten mit klarer, mit möglicher IE-Diagnose oder mit Ausschluss der Erkrankung (wobei eine klare Diagnose 2 Hauptkriterien oder 1 Hauptkriterium und mindestens 3 Nebenkriterien oder 5 Nebenkriterien erfordert).
Die beiden Hauptkriterien sind positive Blutkulturen für IE und eine positive Bildgebung für IE durch transösophageale Echokardiographie, transthorakale Echokardiographie oder – was neu ist – durch kardiale Computertomographie (CT), 18F-Fluordesoxyglucose-Positronen-Emissions-Tomographie oder Einzelphotonen-Emissions-Tomographie/CT der weißen Blutkörperchen.
Die 5 Nebenkriterien umfassen Faktoren, die eine IE begünstigen, aber auch Fieber (Temperatur >38 °C), Gefäßveränderungen durch Embolien, immunologische Erkrankungen und einen mikrobiologischen Nachweis von Erregern.
Patienten gezielt aufklären
Die Aufklärung von Patienten sei „das A und O für eine frühzeitige Diagnose und Behandlung“, erklärt Delgado vom Deutschen Krankenhaus Trias i Pujol in Barcelona. „Menschen mit Herzklappenerkrankungen oder mit früheren Herzklappenoperationen sollten besonders sorgfältig auf Symptome und auf die Prävention achten.“
Eine IE tritt auf, wenn Bakterien oder Pilze in den Blutkreislauf gelangen, z.B. durch Hautinfektionen, durch zahnärztliche Eingriffe oder durch Operationen. Zu den Symptomen gehören Fieber, Nachtschweiß, unerklärlicher Gewichtsverlust, Husten, Schwindel und Ohnmacht.
„Wir haben mehrere klinische Szenarien, die häufiger auftreten“, sagte Delgado bei einer Fragestunde mit den Experten. Konkret nennt sie kardiale implantierbare elektronische Devices, neue kardiale Transkatheter-Therapien und den intravenösen Drogenkonsum. Bei diesen Personen seien Folgeuntersuchungen erforderlich.
„Die Leitlinien umfassen 34 neue Empfehlungen“, so Delgado während einer Sitzung auf dem ESC-Kongress. Sie wies auf eine zentrale Abbildung den Leitlinien hin, „in der wir versucht haben, den Weg des Patienten, bei dem eine Endokarditis diagnostiziert wird, zusammenzufassen, und in der wir die Rolle des Endokarditis-Teams hervorheben“.
In den Leitlinien werde ein prophylaktisches Antibiotika-Regime für zahnärztliche Eingriffe mit hohem Risiko, für Kinder und für Erwachsene mit oder ohne Allergie gegen Penicillin oder Ampicillin empfohlen, das als Einzeldosis 30 bis 60 Minuten vor dem Eingriff verabreicht werden solle, sagte sie.
Neu ist, eine systemische Antibiotika-Prophylaxe für Hochrisikopatienten vor invasiven Eingriffen an den Atemwegen, dem Magen-Darm-Trakt oder dem Urogenitaltrakt, der Haut oder dem Bewegungsapparat in Erwägung zu ziehen.
Wichtig sei die Aufklärung der Menschen, betonte Delgado. Abbildung 2 des Leitfadens zeige, was Patienten tun sollten, etwa „eine gute Zahnhygiene einhalten, auf Tätowierungen und Piercings verzichten, auf Infektionen achten, keine Antibiotika eigenmächtig einnehmen“. Diese Karte kann Patienten ausgehändigt werden und Patienten wiederum können sie den behandelnden Ärzten vor Eingriffen vorlegen.
„Patienten sollten nicht selbst Medikamente einnehmen, um ihr Endokarditisrisiko zu senken“, sagte Borger. „Sie sollten mit ihren Ärzten sprechen und sich von ihnen in eine Risikoklasse einteilen lassen.“
„Wenn sie ein geringes Risiko haben, gibt es keinen Grund für eine Antibiotika-Prophylaxe [vor oralen oder zahnärztlichen Eingriffen], aber wenn sie ein hohes Risiko haben, sollten sie nicht nur eine Antibiotikaprophylaxe bekommen, sondern auf eine gute Zahnhygiene achten, 1- oder 2-mal im Jahr zum Zahnarzt gehen, aber auch unnötige Eingriffe wie Tätowierungen und Piercings vermeiden und Wunden der Haut rasch behandeln.“
POET-Studie: Frühere Umstellung auf orale Antibiotika zu Hause
„Ein weiterer, sehr wichtiger Aspekt ist der zunehmende Einsatz oraler ambulanter Antibiotikatherapien auf Grundlage der randomisierten Studie Partial Oral Treatment of Endocarditis (POET)“, so Borger. „Das ist eine neue Empfehlung mit erheblichen Auswirkungen auf die Versorgung von Patienten mit dieser oft lebensbedrohlichen Erkrankung.“
An der POET-Studie haben Patienten in stabilem Zustand mit Endokarditis auf der linken Herzseite hatten, die durch Streptokokken, Enterococcus faecalis, Staphylococcus aureus oder koagulasenegative Staphylokokken verursacht wurde, teilgenommen. Sie erhielten nach dem Zufallsprinzip intravenöse Antibiotika (199 Patienten) oder eine Step-down-Behandlung mit oralen Antibiotika (201 Patienten), nachdem sie mindestens 10 Tage lang intravenös Antibiotika erhalten hatten.
Die 5-Jahres-Ergebnisse wurden 2019 im New England Journal of Medicine veröffentlicht und auf dem ESC in diesem Jahr vorgestellt. „Wir hatten gehofft oder erwartet, dass die orale ambulante Therapie gleichwertig zur stationären intravenösen Therapie sein würde“, sagte Borger, „aber wir waren überrascht, zu sehen, dass die orale ambulante Therapie tatsächlich statistisch signifikant besser in Bezug auf das Überleben 5 Jahre nach der Randomisierung, also einem harten Endpunkt, war.“
„Dies war ein wichtiger Teil unseres neuen Leitliniendokuments. Patienten, die gemäß der Definition in den Leitlinien ‚klinisch stabil‘ sind, könnten sie erfolgreich zu Hause mit oralen Antibiotika behandelt werden, anstatt sie die ganzen 6 Wochen im Krankenhaus zu behalten“, sagte er.
„In den USA und in Kanada werden viele Patienten für eine intravenöse Therapie nach Hause geschickt, während es diese Praxis in Europa vielerorts nicht gibt. Patienten sind hier 6 Wochen lang im Krankenhaus, oft aus keinem anderen Grund, nur um ihre intravenöse Antibiotikatherapie zu erhalten. Die POET-Studie hat uns gezeigt, dass dies wahrscheinlich der falsche Weg ist.“
OPs nicht auf die lange Bank schieben
In den neuen Leitlinien werde auch empfohlen, sobald eine Indikation für eine Herzoperation bestehe, diese umgehend durchzuführen, so Borger.
Ein chirurgischer Eingriff zur Entfernung von infiziertem Material und zur Drainage von Abszessen ist bei Patienten mit Herzinsuffizienz oder unkontrollierter Infektion sowie zur Verhinderung einer Embolie erforderlich.
„Wir haben Notfallindikationen definiert, die innerhalb von 24 Stunden durchgeführt werden sollten; dringende Indikationen, die innerhalb von 3 bis 5 Tagen durchgeführt werden sollten, und nicht dringende Indikationen, die länger als 5 Tage warten können, aber innerhalb desselben Krankenhausaufenthalts durchgeführt werden sollten“, erläuterte er. „Wir versuchen, Chirurgen und andere Ärzte zu ermutigen, dass es nicht viel bringt, abzuwarten, wenn eine Indikation für eine Operation besteht. Man sollte rechtzeitig operieren, um die Überlebenschancen zu verbessern.“
Die Leitlinien empfehlen eine Operation bei frühzeitiger Endokarditis der Klappenprothese innerhalb von 6 Monaten nach der Klappenoperation mit einem neuen Klappenersatz und einem vollständigen Débridement.
Patienten, die einen Schlaganfall erleiden und operiert werden müssen, seien keine Seltenheit, weiß Borger. Ein ischämischer Schlaganfall sollte kein Grund sein, die Operation zu verzögern, und Patienten mit einem hämorrhagischen Schlaganfall können bei günstigen Voraussetzungen operiert werden.
Die Leitlinien enthalten eine Abbildung für die Behandlung von CIED-bedingter infektiöser Endokarditis. Ein weiterer Abschnitt befasst sich mit der patientenzentrierten Versorgung und der gemeinsamen Entscheidungsfindung.
Die Leitlinien wurden mit Unterstützung der European Association for Cardio-Thoracic Surgery (EACTS) und der European Association of Nuclear Medicine (EANM) erstellt. Der Arbeitsgruppe zur Erstellung der Leitlinien gehörten Vertreter der EACTS, der EANM und der European Society of Clinical Microbiology and Infectious Diseases an.
Die vollständigen Leitlinien sowie Pocket-Leitlinien, essenzielle Botschaften, eine Pocket-Leitlinien-App und ein offizielles Leitlinien-Diaset, die sich alle mit Endokarditis befassen, sind auf der ESC-Website zu finden.
Der Beitrag ist im Original erschienen auf Medscape.com .
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Credits:
Photographer: © Monika Wisniewska
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Diesen Artikel so zitieren: Neue ESC-Leitlinie zur infektiösen Endokarditis: Die wichtigsten Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie im Überblick - Medscape - 31. Aug 2023.
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