Amsterdam – Ein junger Mann forderte Prof. Dr. Gerhard Hindricks kürzlich auf dem Radical Health Festival Helsinki (RHFH) heraus, als er einen Blick in die Glaskugel wagte. „Während meines Vortrags stand ein vielleicht 25 Jahre alter Mann auf und sagte ‚Herr Doktor, wir werden Sie in 10 Jahren nicht mehr brauchen!‘“, berichtete Hindricks auf dem Symposium „Wird KI den Kardiologen ersetzen?“ auf dem Kongress der European Society of Cardiology (ESC) in Amsterdam [1]. Im Anschluss habe er einen interessanten Austausch mit dem ihm gehabt. Die Rolle des Arztes in der Zukunft ist seiner Einschätzung nach „eine essenzielle Diskussion für die kardiovaskuläre Medizin“.
Hindricks hält das Thema Künstliche Intelligenz (KI) in der Kardiologie für „das wahrscheinlich wichtigste Thema des Kongresses“ und wirbt mit Nachdruck dafür, dass „wir offener sein müssen, um neue Technologien ins System zu bringen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir nicht schnell und nicht offen genug sind, um neue Technologien aufzunehmen, um Altes zu verlassen und um Neues, Besseres für unsere Patienten wirksam werden zu lassen“.
KI mehr Bereicherung als Bedrohung
KI wird das Fach und die Rolle des Arztes stark verändern, überflüssig machen wird sie die Kardiologen nicht. Darin waren sich sowohl Hindricks, als auch Dr. Folkert Asselbergs vom Amsterdam Heart Center und Dr. Harriette Van Spall von der McMaster University in Hamilton, Kanada, einig. Wenngleich die Referenten die Chancen und Risiken von KI durchaus unterschiedlich bewerteten.
Asselbergs sieht in der KI weniger eine Bedrohung als eine Bereicherung. Ein Kardiologie-spezifisches Sprachmodell ließe sich seiner Einschätzung nach zum Vorteil von Patienten und Arzt einsetzen. Ein medizinischer Chatbot könnte Patienten Q&A und Lesetipps bieten, eine Autoanamnese und medizinische Zusammenfassungen für Laien erstellen.
Für Ärzte ließe sich ein medizinischer Chatbot zur Erstellung von Patientenberichten, zur Auswahl relevanter Literatur, zur automatisierten Laborbestellung, zur Durchsicht klinischer Entlassungsberichte, zu Konsultationen und zur Aufarbeitung vor der Konsultation und zur Einhaltung von Leitlinien nutzen.
In der Nutzung von KI sieht Asselberg vor allem einen Zeitvorteil der dann „für komplexe Interventionen, Palliativversorgung und die akute Versorgung genutzt werden kann“.
Vorteile der KI:
Effizienz und Umfang der KI in der Datenanalyse
Automatisierung
KI wird ermüdet nicht und ist nicht voreingenommen
Vorausschauende Gesundheitsversorgung und Frühintervention
Senkung der Gesundheitskosten
bleibt auf dem neuesten Stand des Wissens
Nachteile:
menschlicher Kontakt fehlt, Empathie, Arzt/Patienten-Beziehung
ethische Implikationen und Herausforderungen
das Potenzial von KI, Fehldiagnosen zu stellen, oder durch Verzerrungen in den Trainingsdaten beeinflusst zu werden
KI kann ohne ärztliche Aufsicht nicht funktionieren
Für Van Spall ist die KI deshalb in erster Linie ein Hilfsmittel. Eine generative KI könne nützliche Inhalte erstellen: Bilder, Videos, Text, Ton, 3D-Modelle, virtuelle Umgebungen, Notizen zu klinischen Besuchen, medizinische Zusammenfassungen, Antworten auf klinische Fragen. Aber: „Der Einsatz von KI kann zu Fehlinformationen führen, Patienten einem Risiko aussetzen und es gibt keine Gesetze, die die Haftung regeln.“
Van Spall hebt hervor, dass KI die Effizienz deutlich steigern kann. So könne in der Echokardiographie Kammervolumen und -funktion automatisch quantifiziert werden. EKGs können automatisch interpretiert werden. „Auch die Arbeitsbelastung beim Ablesen von Bildschirmen lässt sich im Vergleich zum ungestützten Ablesen verringern.“ Sie betont aber, dass der KI-Einsatz ärztliche Aufsicht erfordere: „KI kann ohne Kardiologen nicht funktionieren“, denn sie habe „enorme Grenzen“. Van Spall sieht „keine Möglichkeit, die Lücke zu schließen, die Kardiologen in Bezug auf Fachwissen, Service und Kommunikation hinterlassen würden“.
Laut des American College of Cardiolgy sind 26% der 32.000 Kardiologen in den USA älter als 61 Jahre. „Das ist ein Nettoverlust von 546 Kardiologen pro Jahr. Wir müssen KI einsetzen, um Kardiologen zu unterstützen, nicht um sie zu ersetzen“, sagte Van Spall.
Wird der Kardiologe zum Supervisor?
Asselbergs sieht KI auch als Mittel um mehr Gleichheit herzustellen. „Nahezu alle Leute haben heute ein Smartphone. Nehmen wir das Beispiel Sonographie über KI. Es gibt ländliche Gebiete, die keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung haben. Wenn dort Krankenschwestern oder Diätassistenten eine Echobasis auf KI erstellen und die Bilder für eine medizinische Analyse senden können, wird das den Menschen wirklich helfen.“
Hindricks geht davon aus, dass maschinelles Lernen und KI im Bereich der seltenen Krankheiten einen großen Unterschied machen werden. Das Ausmaß von Unterdiagnose von seltenen Erkrankungen sei erheblich, eben weil diese Krankheiten so selten sind und es eine große Erfahrung erfordere, sie zu erkennen. „Digitale Elemente können das wesentlich unterstützen“, betonte Hindricks.
Nach Einschätzung von Van Spall kann KI die Pflege und Versorgung sicherer machen, auch in der Ausbildung werde es mehr digitale Tools und virtuelle Module geben. „Ich denke, der Kardiologe wird – kommunikationsbezogen und prozessorientiert – weiterhin eine wichtige Rolle einnehmen. Ich sehe nicht, dass diese Rolle verschwindet.“ So wichtig Effizienz und Präzision seien: „Um gute Entscheidungen zu treffen, wollen wir auch mit der Person in Kontakt treten, der wir vertrauen“, sagte Van Spall.
Asselsbergs Einschätzung nach wird sich die Rolle der Kardiologen in Richtung eines Supervisors verändern: „Mehr gemeinsame Entscheidungsfindung, mehr Diskussion mit unseren Patienten – ich denke, darauf bewegen wir uns zu.“
Fanden Sie diesen Artikel interessant? Hier ist der Link zu unseren kostenlosen Newsletter-Angeboten – damit Sie keine Nachrichten aus der Medizin verpassen.
Credits:
Photographer: © Daniil Peshkov
Lead Image: Dreamstime
Medscape Nachrichten © 2023 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: „Das wahrscheinlich wichtigste Thema des Kongresses“: Ersetzt KI den Kardiologen und macht ihn zum Supervisor? - Medscape - 30. Aug 2023.
Kommentar