Politisches Schlagwort oder neue Perspektive? Dr. Tanja Meyer, Sprecherin für Gesundheitspolitik und Pflege und frauenpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Niedersächsischen Landtag, fordert eine feministische Gesundheitspolitik. Was meint sie?
Medscape: Frau Dr. Meyer, sie wollen feministische Gesundheitspolitik machen. Was genau verstehen Sie unter dem Begriff?
Meyer: Nehmen Sie das Beispiel des Herzinfarktes. Die Medizin orientierte sich bei der Erforschung des Herzinfarktes am weißen, europäischen Mann. Aber dieses Modell wird der Breite der Gesellschaft in keiner Weise gerecht. So stellen sich der Herzinfarkt und seine Behandlung bei Frauen oder anderen Geschlechtern anders dar als bei Männern. Darauf wurde lange keine Rücksicht genommen.
Heute werden physiologische Unterschiede viel ernster genommen. Der Zusammenhang wird auch an anderer Stelle deutlich – bei der Endometriose. Die Erkrankung war lange schlecht erforscht. Dabei betraf und betrifft sie viele Frauen. Frauen mit Beschwerden wurden von ihren Ärztinnen und Ärzten in der Vergangenheit oft weggeschickt, sie möchten sich doch „bitte nicht so anstellen“. Inzwischen hat man auch hier dazugelernt.

Dr. Tanja Meyer
Ein weiteres Thema ist die Verhütung. Bisher ist die medikamentöse Verhütung nach wie vor ein Thema der Frau – unter oftmals großen gesundheitlichen Risiken für sie.
Oder denken Sie – ganz aktuell – an die Gefahr, dass in Niedersachsen die Geburtshilfe im Zuge der Krankenhausreform beinah ausgedünnt worden wäre. Die kleineren Häuser im Land sollten keine Kreißsäle mehr haben; es wären nur sehr wenige Geburtshilfestationen im Land übriggeblieben. Das wurde schließlich auch auf Betreiben von Niedersachsens Gesundheitsminister Andreas Philippi abgewendet.
Alle gesellschaftlichen Gruppen berücksichtigen
Medscape: Inwiefern sind die beschriebenen Positionen feministisch? Eine erreichbare Geburtshilfe zum Beispiel liegt doch auch im Interesse der Männer. Warum fordern Sie nicht einfach eine gerechtere und vernünftige Politik?
Meyer: Das stimmt, auch Männer sind betroffen. Aber körperlich, gesundheitlich betroffen sind bei der Geburtshilfe die werdenden Mütter. Es geht mir aber insgesamt nicht in erster Linie um Politik von Frauen für Frauen oder ausschließlich Frauenthemen, sondern um eine umfassende Perspektive.
Das bedeutet: Werden gesundheitspolitische Fragen mit einer vielfältigen Teilhabe beantwortet oder nicht? Frauen sollen beispielsweise an diesem Prozess genauso beteiligt sein wie Männer. Noch haben wir hier aber mehrere Gruppen nicht im Blick. Das sind weibliche Personen, das sind People of Color und bestimmt viele weitere, die wir eben gar nicht sehen. Auch die demographische Perspektive sollte hier berücksichtigt werden.
Ganz wichtig ist deshalb, dass auch bei der Vergabe von Fördermitteln die Geschlechterperspektive eingenommen werden. Zum Glück sind wir da auf einem guten Weg.
Oder nehmen Sie die Vereinbarkeit von ärztlichem Beruf und Familie. Feministische Gesundheitspolitik setzt sich dafür ein, dass 60 oder 70 Wochenstunden Arbeit nicht der Berufsalltag sind. Denn die langen Arbeitszeiten belasten das Familienleben. Und es ist heute bisher meistens noch die Frau, die dem arbeitenden Mann den Rücken freihält – mit medizinischen und gesellschaftlichen Folgen.
Wir brauchen für alle eine annehmbare Lösung, damit Eltern, die im medizinischen Sektor arbeiten, auch für die Kinder und die Familie Verantwortung übernehmen können. Zur feministischen Gesundheitspolitik gehört deshalb auch, dass die Öffnungszeiten der Klinik-Kitas mit den Schichten des medizinischen Personals abgestimmt werden beziehungsweise Schichten anderes gestaltet werden. Wir brauchen hier flexiblere Konzepte.
Ein weiteres wichtiges Thema ist Sexismus am Arbeitsplatz. Dafür darf es null Toleranz geben und das muss ernst genommen werden.
Medscape: Werden Sie in der gesundheitspolitischen Diskussion besser gehört, wenn Sie eine feministische Perspektive einnehmen?
Meyer: Nein, eher nicht. Im Moment würde ich sogar sagen, dass oft das Gegenteil der Fall ist. Die Herausforderungen in der Gesundheitspolitik sind sehr groß und wenn der Eindruck entsteht, dass jetzt noch eine weitere Dimension in der Fragestellung eingebracht wird, dann wird genau diese oftmals relativiert.
Aber gerade in dem Umgang mit den anstehenden Herausforderungen wäre es fahrlässig, die feministische Perspektive nicht mit einzubeziehen. Viele Menschen, die im medizinischen Sektor arbeiten, sind weiblich, besonders in der Pflege. Überdurchschnittlich viele Studierende sind weiblich. Aber viele dieser Personen verlassen den Gesundheitssektor wieder – aus vielfach diskutierten Gründen- und bei einem wachsenden Fachkräftemangel.
Zudem ist die Hälfte der Menschheit weiblich mit beschriebener eigener Physiologie. Es ist also keine Frage von besser gehört werden, sondern es ist ein Muss, endlich gehört zu werden.
Das medizinische System verändern
Medscape: Wie wollen Sie verhindern, dass feministische Gesundheitspolitik zum bloßen politischen Schlagwort verkommt?
Meyer: Es wäre dramatisch, wenn das geschähe! Erfolgreich wäre eine feministische Politik, wenn wir nur noch über Gesundheitspolitik sprechen würden und der Gerechtigkeitsfaktor eingelöst wäre, er im Denken und Handeln aller eine Selbstverständlichkeit wäre. Das wäre eine schöne Vision. Aber die Realität hat sich bei solchen Anforderungen bisher leider anderes dargestellt.
Nehmen wir nochmals als Beispiel den Wert von Arbeit und einen gerechten Lohn. Wieviel ist Pflege wert? Und warum bekommen Menschen nicht unabhängig vom Geschlecht das gleiche Geld für ihre Arbeit? Wer hat welche Aufstiegschancen? Und warum sind Arbeitsbedingungen so, wie sie sind? Darüber werden wir noch lange diskutieren und auch daran arbeiten, um hier für Besserung zu sorgen. Von Schlagwortpolitik sind wir hier weit entfernt.
Medscape: Was erwarten Sie mit Blick auf die feministische Politik von der jungen Ärztinnengeneration? Sehen Sie bei ihr Ansätze einer feministischen Handlungsperspektive, oder lassen sich die jungen Ärztinnen etwa in den Klinikbetrieb einspannen wie eh und je?
Meyer: Junge Ärztinnen haben meinen ganzen Respekt. Sie arbeiten in einem tradierten System, was sie so nicht geschaffen haben. Und sie müssen darin einerseits „mitspielen“, um Chancen zur beruflichen Entwicklung oder zum Aufstieg zu haben. Andererseits versuchen sie vielfach, das System mitzugestalten, zu verändern, damit es zeitgemäßer, familiengerechter und fairer wird: eine Aufgabe, bei der sie alle Unterstützung brauchen, egal ob aus der Politik oder aus dem System. Viele bilden Netzwerke und stärken sich so. Denn allein ist es viel schwieriger, etwas zu verändern als zusammen.
Langer Rede kurzer Sinn: Ja, ich sehe hier bei vielen einen feministischen Geist und viel Energie und Kraft. Bleibt dabei!
Credits:
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Diesen Artikel so zitieren: Faire Entlohnung, Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie und mehr – feministische Gesundheitspolitik unter der Lupe - Medscape - 30. Aug 2023.
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