Blutdruck senken – wann und für wen? Wieder streiten Kardiologen auf dem ESC-Kongress über Zielwerte – die Pros und Cons

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

28. August 2023

Amsterdam – Seit Veröffentlichung der SPRINT-Studie hält die Diskussion um Grenzwerte und Behandlungsziele bei arterieller Hypertonie an. Manche Ärzte nahmen SPRINT zum Anlass, eine deutliche Senkung des Blutdrucks auch unabhängig vom Alter zu favorisieren, andere blieben skeptisch, ob eine radikale Senkung auch tatsächlich einen Nutzen aufweist. 

Dass der Blutdruck so weit als möglich gesenkt werden sollte, befürwortet auch Prof. Dr. Karem Rahimi von der Universität Oxford. Er ist an der Blood Pressure Lowering Treatment Trialists' Collaboration (BPLTTC) beteiligt und ist Studienleiter der 2021 erschienenen BPLTTC-Meta-Analyse. Auf dem Kongress der European Society of Cardiology (ESC) 2023 machte sich Rahimi für niedrigere Zielwerte stark [1]

In einer Metaanalyse war eine Blutdrucksenkung bei Ausgangswerten von <120 mmHg bis ≥170 mmHg um 5 mmHg mit einer relativen Senkung um etwa 10% für Schlaganfallhäufigkeit, Herzinsuffizienz und CV-Mortalität verbunden. 

Die Autoren folgern aus ihren Ergebnissen, den Blutdruck unabhängig von Schwellenwerten zur Verhinderung kardiovaskulärer Ereignisse zu therapieren. „Die Regel sollte sein: Bieten Sie Patienten mit hohem CVD-Risiko eine antihypertensive Behandlung an, weitgehend unabhängig von ihrem Blutdruck“, so Rahimi. Das heiße nicht, dass jeder behandelt werden sollte, denn jede Regel habe ihre Ausnahmen. „Diese Ausnahmen sollten aber als Ausnahmen betrachtet werden und nicht die Regel in Frage stellen“, sagte Rahimi.

 
Die Regel sollte sein: Bieten Sie Patienten mit hohem CVD-Risiko eine antihypertensive Behandlung an, weitgehend unabhängig von ihrem Blutdruck. Dr. Karem Rahimi
 

Blutdruck so stark wie möglich senken? Nein!

Eine andere Auffassung vertritt Prof. Dr. Reinhold Kreutz, Direktor des Instituts für Klinische Pharmakologie und Toxikologie der Charité-Universitätsmedizin, Berlin. Er ist Mitherausgeber der ESH-Leitlinien 2023

Kreutz verwies auf eine kürzlich erschienene Analyse der VALUE-Studie, die schlechte Ergebnisse bei behandelten Hypertonikern mit LVH und niedrigem Blutdruck zeigt. Die Autoren hatten Outcomes von Patienten mit LVH und ohne LVH verglichen, bei denen eine systolische Blutdrucksenkung von <130 mmHg erreicht werden konnte. Hier zeigte sich, dass Patienten ohne LVH mit einem durchschnittlichen SBP <130 mmHg eine signifikant niedrigere Inzidenz mehrerer kardiovaskulärer Endpunkte aufwiesen. Anders sah das aber bei den Patienten mit LVH und einem SBP <130 mm Hg aus: Sie zeigten eine höhere kardiale Mortalität (HR 1,98, p=0,032) und Gesamtmortalität (HR 1,74, p=0,007).

„Unsere Ergebnisse können als ein Signal gesehen werden, dass bei der Behandlung von Patienten mittleren Alters und älteren Patienten mit elektrokardiographischer oder echokardiographischer LVH mit einem SBP <130 mmHg Vorsicht geboten ist“, schreiben die Autoren. Kreutz wies darauf hin, dass mehrere Analysen gezeigt hätten, dass ein niedriger Blutdruck schädlich sein kann, insbesondere bei Personen mit hohem kardiovaskulärem Risiko, möglicherweise auch bei Patienten mit LVH. 

 
Bei der Behandlung von Patienten mittleren Alters und älteren Patienten mit elektrokardiographischer oder echokardiographischer LVH mit einem SBP <130 mmHg ist Vorsicht geboten. Autoren der Studie
 

Nicht an der Hypertonie-Definition rütteln

Die Definition von Bluthochdruck mit Werten ≥140 mmHg sollte, so Kreutz, nicht geändert werden. Er verweist auf 3 Aspekte: 

  • In RCTs und Metaanalysen, in denen über eine Verringerung der kardiovaskulären Folgen bei Personen ohne Bluthochdruck mit hohem Normalblutdruck zu Studienbeginn berichtet wurde, standen alle oder viele Patienten bereits unter antihypertensiver Behandlung. Sie hatten daher einen höheren Blutdruck als in den Studien gemessen. 

  • Eine Metaanalyse von 13 RCTs (n= 21.128) aus 2017 mit geringem bis mittlerem CV-Risiko und unbehandeltem Ausgangsblutdruck im hochnormalen oder normalen Bereich zeigte keinen Effekt der blutdrucksenkenden Behandlung auf CV-Ergebnisse. 

  • Die HOPE-3-Studie hat ergeben, dass eine blutdrucksenkende Behandlung das Risiko von Herz-Kreislauf-Ereignissen bei Menschen mit mäßigem Herz-Kreislauf-Risiko und SBP-Werten im hohen Normalbereich nicht verringert. 

Schwere methodologische Probleme der BPLTTC-Meta-Analyse

In den aktuellen europäischen Leitlinien liegt die Schwelle für eine medikamentöse Behandlung bei 140 mmHg oder darüber. Ausgenommen sind Patienten mit sehr hohem Risiko. 

In der BPLTTC Meta-Analyse hingegen hatten Rahimi und Kollegen für eine Blutdrucksenkung um 5 mmHg eine Risikoreduktion von 10% für schwere kardiovaskuläre Ereignisse berechnet. Ihrer Einschätzung nach gibt es keine verlässlichen Hinweise auf die Heterogenität der Behandlungseffekte nach Baseline-SBP-Kategorien. Die Wirkung ist unabhängig vom Vorliegen einer kardiovaskulären Erkrankung, sie gilt auch für Menschen bis 84 Jahre oder älter. Rahimi und Kollegen gehen auch davon aus, dass eine Blutdrucksenkung auch bei Menschen mit normalem oder hochnormalem SBP bis zu einem Baseline-SBP von weniger als 120 mmHg von Vorteil ist. 

„Schaut man sich die BPLTTC-Meta-Analyse an und die Studien, die ausgeschlossen wurden, sieht man, dass die HOPE-3-Studie zusammen mit mehreren anderen wichtigen Studien nicht einmal in die Analyse aufgenommen wurde“, kritisierte Kreutz. In HOPE-3 hatte sich eine signifikante Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse nur dann gezeigt, wenn der Ausgangsblutdruck >143,5 mmHg war.

In einer kürzlich erschienenen kritischen Auseinandersetzung mit den BPLTTC-Meta-Analysen hatten Kreutz und Kollegen auf schwere methodologische Probleme hingewiesen. Kritisiert wird darin der unbegründete Ausschluss mehrerer großer prospektiver, randomisierter Interventionsstudien, deren Ergebnisse in starkem Widerspruch zu den Befunden der BPLTTC-Metaanalyse stehen.

Kritisch wertete Kreutz auch, dass Nebenwirkungen der Senkung wie Hypotonie, Synkopen, Stürze, Elektrolytstörungen oder Funktionsverschlechterungen der Nieren in der Metaanalyse nicht untersucht wurden, obwohl sie für den klinischen Alltag eine große Rolle spielen.

Der Experte wies daraufhin, dass die in die BPLTTC-Metaanalyse eingeschlossenen Patienten ein sehr hohes Risiko hatten: „Das kann nicht auf die Allgemeinbevölkerung extrapoliert werden.“ Als weiteres großes Problem nannte er die Einbeziehung von Vergleichsstudien wie LIFE. In der LIFE-Studie war der AT-II-Antagonist Losartan mit dem Betablocker Atenolol verglichen worden. „Die LIFE-Studie wurde aber nicht zur Untersuchung von Blutdruckzielen konzipiert“, betonte Kreutz. 

STEP: Für Patienten über 80 Jahre fehlen Belege für niedrige Zielwerte

Die STEP-Studie wiederum lieferte 2018 neue Belege für verbesserte Ergebnisse mit einem SBP-Zielwert <130 mmHg bei älteren Patienten unter 80 Jahren.

Eingeschlossen waren 8.511 chinesische Patienten mit Bluthochdruck. Sie waren 60 bis 80 Jahre alt; das Durchschnittsalter lag bei 66 Jahre. Bei älteren Patienten mit Bluthochdruck führte eine intensive Behandlung mit einem systolischen Blutdruckziel von 110 bis unter 130 mmHg zu einer geringeren Inzidenz kardiovaskulärer Ereignisse als die Standardbehandlung mit einem Ziel von 130 bis unter 150 mmHg.

Allerdings seien häufige Komorbiditäten bei den älteren Patienten ein Ausschlusskriterium gewesen, was die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse einschränkte, so Kreutz. Auch fehlen für Patienten über 80 Jahre Belege für niedrigere Zielwerte. Insgesamt gibt es nur begrenzte Belege für sehr gebrechliche Patienten und Patienten mit relevanten Komorbiditäten im Alter zwischen 60 und 80 Jahren. Die Schlussfolgerung, dass eine intensive Blutdrucksenkung auf systolische Zielwerte von 110–130 mmHg für Patienten über 60 eine Schutzwirkung habe, dürfe somit nicht als wissenschaftlich zweifelsfrei gesichert betrachtet werden, betonte Kreutz. 

In den ESH-Leitlinien 2023 zur Behandlung der arteriellen Hypertonie für die Allgemeinbevölkerung (18 bis 79 Jahre) wird empfohlen:

  • Bei den meisten Patienten ist zunächst einen Blutdruck von <140/80 mmHg anzustreben, da dies den größten Teil der schützenden Wirkung der Blutdrucksenkung ausmacht.

  • Wird die medikamentöse Behandlung gut vertragen, sollte eine Senkung der SBP-Werte bei den meisten Patienten bis zu 79 Jahren auf 130 mmHg oder weniger angestrebt werden. 

  • Ein niedriger Blutdruck (<120 mmHg systolisch und <70 mmHg diastolisch) sollte – wie schon in den ESC/ESH-Leitlinien 2018 beschrieben – vermieden werden (Beweise für zusätzliche Schutzwirkung nicht konsistent, Risiko Schaden anzurichten besteht, erhöhtes Risiko von Nebenwirkungen, Behandlungsabbruch und Rebound-Anstieg von Ereignissen).

Kreutz erinnerte an die schlechte Hypertoniekontrolle bei behandelten Patienten weltweit: Basierend auf dem Schwellenwert von <140/90 mmHg werden 43% der Patienten in westlichen Ländern mit hohem Einkommen kontrolliert. Noch weniger – nur 16% – sind es in Zentralasien, im Naher Osten und in Nordafrika. 

„Ich schlage vor, dass wir uns auf die schwierige Aufgabe konzentrieren, die Zahl der Patienten zu verringern, deren Blutdruck wir unter 140/90 senken müssen, anstatt uns auf sehr niedrige Blutdruckwerte zu fokussieren, deren Nutzen meiner Meinung nach nicht erwiesen ist“, sagte er.  

 
Ich schlage vor, dass wir uns auf die schwierige Aufgabe konzentrieren, die Zahl der Patienten zu verringern, deren Blutdruck wir unter 140/90 senken müssen, anstatt uns auf sehr niedrige Blutdruckwerte zu fokussieren (…). Prof. Dr. Reinhold Kreutz
 

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Kommentar

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