Wenn nach dem Sport oder auch jeglicher anderer Bewegung Muskeln und Sehnen schmerzen, sollte man bei der Therapie genau hinsehen. Denn die beiden Strukturen haben sehr unterschiedliche Eigenschaften und Funktionen. Sie reagieren bzw. heilen bei Überbeanspruchung und Überlastung deshalb sehr unterschiedlich. Warum das so ist und welche Faktoren dabei eine Rolle spielen erklärt der Sportorthopäde PD Dr. Thilo Hotfiel, Oberarzt im Osnabrücker Zentrum für muskuloskelettale Chirurgie des Klinikums Osnabrück.

PD Dr. Thilo Hotfiel
© privat
Hotfiel ist Mitglied des Vorstands der Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin (GOTS) und Mitglied im Komitee Muskel/Sehne. Seine Schwerpunkte liegen in der Diagnostik und Behandlung von Fuß- und Sprunggelenksverletzungen, sowie von Muskel- und Sehnenverletzungen.
Medscape: Muskeln sind nicht so leicht überlastbar, werden oft sogar unterfordert. Wie ist das mit Sehnen?
Hotfiel: Trainierte Sportler verfügen im idealen Fall über Sehnen, die relativ gut an die Belastung angepasst sind. Doch auch sie können – wenn Sportler ihr Training zu stark steigern – Überlastungsreaktionen aufweisen. Grundsätzlich aber hat eher der Einsteiger oder Wiedereinsteiger ein höheres Risiko, seine Sehnen zu überlasten, da die zumeist jahrelange Anpassung noch nicht vorliegt
Die GOTS und wir als Sportmediziner setzen uns dafür ein, dass Menschen Sport treiben und ihre Muskeln beanspruchen. Der Muskel hat ein hohes regeneratorisches Potential. Er heilt schnell. Meist regeneriert er komplett und passt sich bei wiederkehrenden Belastungen an.
Sehnen aber haben einen anderen Stoffwechsel: Die Durchblutung ist recht gering, sie enthalten wenige Zellen, die Proteinsynthese verläuft wesentlich langsamer. Bei Läufern ist typischerweise die Achillessehne besonders häufig betroffen, Beschwerden der Achillessehne gehören gerade bei Laufeinsteigern mit zur häufigsten überlastungsbedingten Verletzung.
Medscape: Hat das Alter einen Einfluss auf das Überlastungsrisiko?
Hotfiel: Ein wenig schon. Denn mit steigendem Lebensalter sinkt die Stoffwechselrate noch weiter ab. Wenn jemand mit 40, 50 oder 60 Jahren mit Sport anfängt oder auch seine Alltagsbelastung steigert, dann reagiert eine Sehne viel empfindlicher darauf als z.B. bei einem Kind oder bei einem Jugendlichen. In jungen Jahren verläuft die Anpassung schneller.
Wer sein Training z.B. mit Hilfe eines Trainingsplans steigert oder mit Sport anfängt, sollte sein Training deshalb nicht nur von seiner Leistungsfähigkeit abhängig machen, also ob er beispielsweise eine Strecke in einer gewissen Zeit leicht bewältigt oder nicht. Stattdessen sollte man sein Trainingspensum langsam und schrittweise steigern und auch an das Sehnen- und Bindegewebe anpassen – als Faustformel gilt etwa eine Trainingssteigerung von 10% pro Monat nicht zu überschreiten.
Medscape: Und wenn jemand gut trainiert ist, gelten die 10% trotzdem?
Hotfiel: Ja. Der Gedanke, ich kann jetzt 10 km oder eine gewissen Zeit pro km problemlos laufen, deshalb kann ich im nächsten Training problemlos steigern, führt in die Irre. Denn die Beschwerden kommen häufig schleichend. Die Sehnen melden sich meist erst dann, wenn schon länger eine Belastungssituation vorliegt.
Lange Zeit merkt man das noch gar nicht, doch die Sehne ist zu dem Zeitpunkt schon verletzt und erkrankt - und plötzlich sind die Beschwerden da.
Anfangs denkt man, dass man eben ein bisschen weniger trainieren oder kurzzeitig das Training pausieren muss, aber eigentlich sind die Sehnenverletzungen ein Zeichen dafür, dass die Sehnen schon länger überlastet sind und man dringend etwas ändern muss.
Medscape: Woran erkennt man eine Überlastung des Muskels, woran eine Überlastung der Sehne?
Hotfiel: Weil der Muskel mit der Sehne verbunden ist und funktionell eine Einheit bilden, hängt beides schon zusammen. Typischerweise wird die Sehnenverletzung auch an der Sehne bemerkt. Anfangs tritt der Schmerz als Anlaufschmerz auf, wenn man mit dem Sport beginnt. Das kann dann aber so weit fortschreiten, dass man den Schmerz auch in Ruhe oder nach dem Sport merkt. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Verletzung der Sehne fortgeschritten ist.
Der Muskel hingegen lässt sich nicht so leicht überlasten. Wenn man den überlastet, tritt die bekannte Form von Muskelkater auf. Der Muskel ist aber in der Lage, nach ein paar Tagen wieder vollständig auszuheilen. Nach dem Muskelkater ist der Muskel auch angepasst, die Belastung, die den Muskelkater hervorgerufen hat, ruft dann keinen mehr hervor. Das ist ein Zeichen dafür, dass sich der Muskel relativ schnell anpassen kann.
Auf die Sehne hingegen trifft das nicht zu. Muskelgewebe macht rund 30 bis 40% des menschlichen Körpers aus. Unsere Muskeln haben vielfältige Funktionen. Wir haben im Körper über 300 verschiedene Muskeln. Nicht nur im Sport, sondern auch zur Aufrechterhaltung grundlegender Organfunktionen, zum Sitzen, Stehen und für die Bewegung.
Das Problem ist, dass sich unsere Lebensgewohnheiten in den letzten Jahrzehnten massiv verändert haben, wir bewegen uns viel zu wenig. Unser Muskel-Sehnen-System ist aber evolutionär darauf ausgelegt, dass es ständig - möglichst täglich - belastet wird. Dann geht es auch dem Gesamtorganismus gut. Muskeln bilden auch über 300 verschiedene Myokine, das sind Peptidhormone, die im Gehirn, im Darm und im Herz-Kreislaufsystem eine wichtige Rolle spielen. Myokine werden gebildet, wenn wir uns körperlich belasten und bewegen – und nicht wenn wir auf der Couch sitzen.
Medscape: Wie sieht die Therapie aus, wenn Muskeln überlastet sind?
Hotfiel: Man darf bei Muskelkater durchaus weiter trainieren, man sollte aber das Training anpassen und eher lockere Trainingseinheiten absolvieren. Etwa lockeres Schwimmen oder Radfahren, aber möglichst nichts Intensives, hoch Belastendes wie Sprünge, Bergabgehen oder etwas, das mit Erschütterungen zu tun hat, denn das ist für den Muskel immer anstrengend. Wärme hilft, z.B. in die Sauna gehen oder auch mal Kälte wie ein „Eisbad“ nach dem Sport. In der Regel ist Muskelkater harmlos und heilt nach ein paar Tagen aus.
Während des Muskelkaters sollte man keine schnell-kräftigen Belastungen durchführen wie z.B. ein Sprinttraining oder Ballsportarten wie Fußball spielen. Denn dann besteht die Gefahr einer echten Muskelverletzung und es kommt zu einem Muskelfaserriss. Der Grund ist, dass während des Muskelkaters der Muskeltonus zunimmt und sich nicht mehr so zielgerichtet ansteuern und kontrahieren lässt. Dadurch ist das Risiko erhöht, dass man sich eine „echte“ also höhergradige Verletzung zuzieht. Mit Muskelkater trotzdem Volleyball spielen - das sollte man nicht machen.
Medscape: Und wie ist das bei überlasteten Sehnen?
Hotfiel: Sehnenverletzungen oder schmerzhafte Sehnen sollten sehr ernst genommen werden. Der Sportler hat dabei eine hohe Selbstverantwortung, denn er ist die erste Instanz, um Beschwerden wahrzunehmen. Der Rat eines Orthopäden sollte möglichst früh eingeholt werden, sodass frühzeitig und stadiengerecht behandelt werden kann. Man muss die Belastung, die zur Überlastung geführt hat zunächst reduzieren. Sollte aber in dieser ersten Therapiephase alternative Sportarten oder Trainings wählen, die die Sehnen nicht so sehr belasten wie z.B. Radfahren und Schwimmen, also Belastungen, die keinen hohen Einwirkungsfaktor haben. Es wäre also gut die Sehne zu beanspruchen, aber sie muss richtig belastet werden.
Medscape: Wann ist die Unterstützung durch einen Physiotherapeuten sinnvoll?
Mit einer Trainingstherapie durch einen geschulten Physiotherapeuten werden die Sehnen ganz aktiv aber sehr langsam und zielgerichtet mit mehreren, langsamen Wiederholungen angesprochen. Das mag vielleicht widersprüchlich klingen und man sorgt sich häufig: Die Sehne ist überlastet, also sollte man sie erstmal ruhigstellen. Stattdessen sollte man sie gezielt langsam belasten, damit sich der Sehnen-Stoffwechsel anpassen kann.
Das führt dazu, dass auch die Proteinsynthese und die Synthese von neuen Kollagenen in der Sehne gesteigert wird, die Sehne sich an die Belastung anpasst und letztlich stärker wird. Vorsicht gilt allerdings bei frühzeitigen schnellkräftigen Sprüngen oder Stoßbelastungen – die würden vorliegende Überlastungsreaktionen eher verstärken.
Eine bewusste und qualitative Belastung der Sehnen kann man durch ein spezielles Training wie z.B. das exzentrische Training erreichen. Das wird in der Regel durch einen Physiotherapeuten angeleitet, dauert allerdings 10 bis 12 Wochen. Sehnenverletzungen gehen nicht innerhalb von wenigen Tagen wieder weg. Anschließend muss man wieder langsam mit dem Laufen beginnen und sich an die Belastung herantasten z.B. mit „Run & Walks“. Eine reine Sportpause führt unweigerlich dazu, dass das Ganze von vorne losgeht.
Die ersten 1 bis 2 Wochen des Trainings sollten unter Anleitung stattfinden um zu gewährleisten, dass die Bewegungen richtig ausgeführt werden und auch die Geschwindigkeit bei den Übungen eingehalten wird. Dann wird das Ganze von Woche zu Woche gesteigert. Es ist wichtig, dass der Patient das Training auch zuhause konsequent fortführt und in seinen Alltag einbaut. Das Training sollte man 2- bis 3-mal pro Woche für z.B. eine halbe Stunde absolvieren. Letztlich gibt es viele Trainingsprotokolle für Sehnenverletzungen. Welches man auswählt hängt auch damit zusammen, wie gut es sich in den Alltag integrieren lässt.
Medscape: Bei Überlastung der Sehne wird ja gerne Kortison gespritzt. Was halten Sie davon?
Hotfiel: Kortison ist relativ kurz wirksam, führt zu einer Schmerzlinderung und reduziert auch Entzündungsprozesse. Ob am Ellenbogen, an der Achillessehne oder an der Patellarsehne – Kortison wird in der täglichen Praxis leider sehr häufig eingesetzt. Wir stehen dieser Therapie sehr kritisch gegenüber.
Denn die gewünschte Anpassung der Sehne, die Steigerung der Proteinsynthese wird über Kortison nicht erreicht. Im Gegenteil: Kortison senkt die Stoffwechselrate. Das erklärt, dass die Beschwerden schnell wieder kommen können und sich sogar verschlechtern, weil auch der Funktionszustand der Sehne schlechter wird und der Zellstoffwechsel gehemmt wird. Kortison ruft eher negative Effekte wie Gewebeschädigungen hervor.
Stattdessen kann man kurzfristig Schmerzmittel einsetzen als Teil der Therapie im Anfangsstadium, aber auf Kortison sollte man verzichten. Infrage kommt auch eine Stoßwellenbehandlung oder andere Infiltrationstherapien; auf sehr einfachem Weg kann man auch durch eine Kälteapplikationen Schmerzen lindern. Das Wichtigste ist, die Trainingsbelastung anzupassen und die Sehne aber währenddessen gezielt und unter Anleitung zu trainieren.
Medscape: Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.
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Credits:
Photographer: © Dirima
Lead image: Dreamstime.com
Medscape © 2023
Diesen Artikel so zitieren: Schmerzen an Muskeln und Sehnen? Ein Sportorthopäde erklärt, wie unterschiedlich man sie behandeln sollte – ohne Kortison! - Medscape - 28. Aug 2023.
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