Ihr Patient klagt über Schwindel – diagnostisch eine Herausforderung. Was hinter zervikogenem Schwindel stecken kann…

Dr. Thomas Kron

Interessenkonflikte

25. August 2023

Schwindel zählt zu den häufigsten Symptomen. Mit 2,3% aller Konsultationen stehe er an 9. Stelle der 10 häufigsten Beratungsthemen in der Hausarztpraxis, berichtet Dr. Raphael Kunisch vom Institut für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Augsburg [1]. Das Spektrum möglicher Ursachen reicht von kardiovaskulären Erkrankungen über neurologische Leiden bis hin zu Störungen des Gleichgewichtsorgans und medikamentösen Therapien. 

Mit einer besonderen Form des Schwindels hat sich Prof. Dr. Stephan Klessinger (Neurochirurgie Biberach) befasst – und zwar mit dem zervikogenen Schwindel [2]. Auslöser seien, wie der Neurochirurg erläutert, degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule oder Schleudertraumata. 

Ob die Halswirbelsäule wirklich an der Genese von Schwindel beteiligt ist, gilt laut der Fachliteratur als umstritten. Und: Es sei noch nicht einmal eindeutig geklärt, ob das Krankheitsbild des zervikogenen Schwindels überhaupt existiere, so Klessinger. 

Ein häufiger Beratungsanlass

Der Eindruck von Schwindel entsteht laut Prof. Dr. Olaf Michel (Universität Köln und Vrije Universiteit Brussel), wenn Informationen aus dem peripheren Gleichgewichtsorgan, den Rezeptoren in Muskeln und Gelenken und dem visuellen System nicht übereinstimmen oder vom Gehirn nicht ausreichend koordiniert werden können. Schwindel sei ein umfassender und unscharfer Begriff, der für sich keine Diagnose, aber eine oftmals vorgebrachte Klage darstelle, schreibt Michel. 

Sprechen Patienten von „Schwindel“, lassen sich solche Beschwerden nicht einem einzigen Krankheitsbild oder Organsystem zuordnen. Unter den Sammelbegriff fallen zahlreiche Krankheitsbilder mit ähnlichen, aber abgrenzbaren Symptomen und Befunden, aus denen sich differenzialdiagnostisch im Idealfall die spezifische Gesundheitsstörung konkretisieren lässt.

Einen belegbaren Auslöser für Beschwerden zu finden, ist nicht einfach. Laut größeren Untersuchungen haben Ärzte ausgehend vom Symptom nur in 20-30% der Fälle eine organische Ursache gefunden. Bei 20-40% der Diagnosen waren es psychisch bedingte Gleichgewichtsstörungen. 

Schwindel – allein die Definition ist problematisch

Eine Herausforderung stellt auch der zervikogene Schwindel dar. Das Problem beginnt bereits damit, dass es für den zervikogenen Schwindel mehrere unterschiedliche Definitionen gibt.

So wird in manchen, aber nicht in allen Fällen zusätzlich zum Schwindel Nackenschmerz gefordert. Eine Definition des zervikogenen Schwindels lautet, dass es sich um ein vages Gefühl einer Gleichgewichtsveränderung mit Veränderung der räumlichen Orientierung handelt. Verursacht wird dies durch eine abnormale Aktivität zervikaler Afferenzen ohne vestibuläre Funktionsstörung. 

Einer anderen Definition zufolge ist der zervikogene Schwindel eine Kombination chronischer Nackenschmerzen und Schwindel (ohne Nystagmus) nach zervikaler Rotation bei zervikaler Arthrose und/oder Bandscheibendegeneration. Klare Kriterien fehlen. Die Diagnose werde daher häufig nach Ausschluss anderer Erkrankungen gestellt, schreibt Klessinger. 

Vaskuläre, traumatische oder degenerative Ursachen

Unterschieden wird zwischen vaskulären, traumatischen und degenerativen Auslösern. Ein Beispiel für eine vaskuläre Störung ist das Bow Hunter Syndrom (die symptomatische Einklemmung der Vertebralarterie bei Kopfdrehung). „Wird bei Kopfrotation eine dominante Vertebralarterie komprimiert, kann eine Minderversorgung im Endstromgebiet die Folge sein“, berichtet Klessinger. 

Da 25-50% aller Patienten nach einem Schleudertrauma außer über Nacken- und Kopfschmerzen auch über Schwindel klagten, gilt dies als häufige Ursache für zervikogenen Schwindel. Die möglichen Pathomechanismen: Durch die ausgeprägte Flexions- und Extensionsbewegung kann es auch zu einer Minderdurchblutung kommen. Zudem wird eine gestörte Propriozeption durch die mechanische Belastung von Gelenken, Sehnen und Muskeln vermutet. 

Als weitere diskutierte Ursache gelten degenerative HWS-Veränderungen, von denen auch die Facettengelenke betroffen sind. Von allen Gelenken der Wirbelsäule sind diese Gelenke am dichtesten innerviert. Durch entzündliche Prozesse kann es zu fehlerhaften oder abnormen afferenten Aktivitäten kommen, die insbesondere die Propriozeption beeinträchtigten. Häufig gehen die Schmerzen mit Muskelverspannungen einher, die auch die Muskelspindeln und Golgi-Sehnenorgane aktivieren könnten.

Zervikogener Schwindel – es bleibt bei der Ausschlussdiagnose

In den meisten Fällen ist die Diagnose des zervikogenen Schwindels eine reine Ausschlussdiagnose. Häufig werden Tests zur Durchblutung und zum Ausschluss eines vestibulären Schwindels durchgeführt. Eine radiologische Diagnostik der Halswirbelsäule gilt als weniger hilfreich. 

Hinweise auf einen zervikogenen Schwindel kann der zervikookuläre Reflex liefern. Die Durchführung des entsprechenden Tests sei aber schwierig, so Klessinger, da der Kopf fixiert werden müsse, während der Torso gedreht werde. Zudem sei der Reflex nur sehr schwach ausgeprägt. 

Als weitere diagnostische Möglichkeit gilt, Afferenzen der für die Propriozeption wichtigen Rezeptoren vorübergehend auszuschalten. Informationen aus der Peripherie erreichen das Rückenmark über die Radix posterior. Diese bildet zusammen mit der Radix anterior den Spinalnerven, der mehrere Äste bilden. Der Ramus dorsalis zieht nach hinten und verzweigt sich erneut. Der mittlere Ast („Medial Branch“) versorgt die Facettengelenke, die tiefe dorsale Nackenmuskulatur und die Bänder. Durch eine lokalanästhetische Blockade des „Medial Branch“ können die für die Propriozeption relevanten Afferenzen kurzzeitig stillgelegt werden. Auf diesem Weg lässt sich prüfen, ob der Schmerz von den Facettengelenken ausgeht. 

Wie kann behandelt werden?

Bei einer vaskulären Genese des zervikogenen Schwindels kommt eine chirurgische Therapie mit Dekompression des stenotischen Gefäßareals infrage. Nach einem Schleudertrauma und bei degenerativen Veränderungen der Halswirbelsäule ist die Therapie in der Regel konservativ und symptombezogen. Zudem scheinen Physiotherapie, manuelle Therapie, aber auch Patientenschulung effektive Behandlungsoptionen zu sein.

Nach positivem Ansprechen auf einen oder mehrere „Branch Blocks“ ist bei Nackenschmerzen die Radiofrequenzdenervation des Medial Branch eine Option. Laut einer in 2016 publizierten Studie hat diese Therapie bei fast 2 Drittel aller eingeschlossenen Patienten zu Schmerzfreiheit von mehr als 6 Monaten geführt. 

Auch für Patienten mit zervikogenem Schwindel ist die Radiofrequenzdenervation denkbar. In der Literatur gibt es nur wenige Fallbeispiele, jedoch mit gutem Ansprechen für mehrere Monate.

Der Beitrag ist im Original erschienen auf Univadis.de.

 

Kommentar

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