Vielfältige Veränderungen im Gehirn bei psychischen Erkrankungen – Kartierung neuronaler Netze als neuer Therapieansatz?

Megan Brooks

Interessenkonflikte

25. August 2023

Eine große Studie zur Bildgebung des Gehirns von Erwachsenen mit 6 verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen zeigt, dass regionale Volumenabweichungen der grauen Substanz (gray matter volume, GMV) ein Merkmal psychischer Erkrankungen sind. Wissenschaftler fanden heraus, dass diese heterogenen Bereiche häufig in gemeinsame funktionelle Schaltkreise und Netzwerke eingebettet sind, wie sie jetzt in Nature Neuroscience berichten [1].

Viel deute darauf hin, dass die gezielte Behandlung bestimmter Verschaltungen – und eben nicht bestimmter Hirnregionen – ein wirksamerer Weg zur Entwicklung neuer Behandlungen sei, erklärte Ashlea Segal gegenüber Medscape. Sie ist Doktorandin an der Monash University, Australien.

Auswertung mit neuer statistischer Technik

Für ihre Studie verwendeten die Forscher neue statistische Verfahren, um die Heterogenität im Volumen der grauen Substanz zu charakterisieren. Eingeschlossen wurden 1.294 Personen, bei denen Ärzte eine von 6 psychiatrischen Erkrankungen diagnostiziert hatten. Hinzu kamen 1.465 gesunde Kontrollpersonen.

Entwickelt wurden die Verfahren von Dr. Andre Marquand, Mitarbeiter des Donders Institute for Brain, Cognition, and Behavior in Nijmegen und Leiter des Projekts.

 
Diese Techniken ermöglichen es uns, die Größe von über 1.000 verschiedenen Hirnregionen (…) zu messen. Ashlea Segal
 

„Diese Techniken ermöglichen es uns, die Größe von über 1.000 verschiedenen Hirnregionen bei einer bestimmten Person im Vergleich zu dem, was wir in der Allgemeinbevölkerung erwarten, zu messen. Auf diese Weise können wir für jede Person Hirnregionen identifizieren, die ungewöhnlich kleine oder große Volumina aufweisen“, erklärt Segal gegenüber Medscape.

Doch warum hat dieser Durchbruch so lange auf sich warten lassen? Schließlich kartieren Forscher seit Jahrzehnten Hirnareale, die ein verringertes Volumen der grauen Substanz bei psychischen Erkrankungen aufweisen. Aber diese Karten seien bislang nur anhand wenig geeigneter Durchschnittswerte erstellt worden, erklärt Segal.

Design der Studie

Die klinische Stichprobe umfasste 202 Personen mit Autismus-Spektrum-Störung, 153 mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), 228 mit bipolarer Störung, 161 mit schwerer depressiver Störung, 167 mit Zwangsstörung und 383 mit Schizophrenie.

Die Forschenden konnten frühere Befunde bestätigen: Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen zeigen mehr GMV-Abweichungen als gesunde Kontrollpersonen. Auf individueller Ebene seien die Abweichungen, gemessen an Durchschnittswerten der Bevölkerung, jedoch „sehr heterogen“; sie seien bei weniger als 7% der Patienten mit der gleichen Diagnose im gleichen Bereich lokalisiert gewesen, sagen die Forscher.

 
[Dieses Ergebnis] könnte erklären, warum Menschen mit derselben Diagnose eine große Variabilität in ihren Symptomprofilen und Behandlungsergebnissen aufweisen. Alex Fornito
 

„Dieses Ergebnis bedeutet, dass es schwierig ist, Behandlungsziele oder kausale Mechanismen zu bestimmen, wenn man sich nur auf Gruppendurchschnitte konzentriert“, schreibt Alex Fornito von der Monash University in einer Erklärung. „Es könnte auch erklären, warum Menschen mit derselben Diagnose eine große Variabilität in ihren Symptomprofilen und Behandlungsergebnissen aufweisen.“

Unterschiede nicht in der gleichen Region – aber oft im gleichen Netzwerk

Trotz der beträchtlichen Heterogenität auf regionaler Ebene zwischen den verschiedenen Diagnosen waren die Abweichungen bei bis zu 56% der Fälle in gemeinsame neuronale Schaltkreise und Netzwerke des Gehirns eingebettet.

So war beispielsweise das Salienz- oder ventrale Aufmerksamkeitsnetzwerk, das eine zentrale Rolle bei der kognitiven Kontrolle, der interozeptiven Wahrnehmung und dem Wechsel zwischen interner und externer Aufmerksamkeit spielt, bei allen psychischen Erkrankungen beteiligt. Andere neuronale Netzwerke waren selektiv bei Depression, bei bipolaren Störungen, Schizophrenie oder ADHS involviert.

„Der von uns entwickelte Rahmen ermöglicht es uns, die Vielfalt der Hirnveränderungen bei Menschen mit psychischen Erkrankungen auf verschiedenen Ebenen zu verstehen, von einzelnen Regionen bis hin zu umfassenderen Hirnschaltkreisen und Netzwerken“, schreibt Fornito. Dies biete „einen tieferen Einblick in die Art und Weise, wie das Gehirn bei einzelnen Menschen beeinträchtigt wird.“

Therapien individuell auswählen

Die Ergebnisse deuteten auch darauf hin, es sei unwahrscheinlich, dass es nur eine einzige Ursache oder einen einzigen Mechanismus für eine bestimmte Störung gebe, erklärt Segal.

„In der Tat passt One-Size-Fits-All eben nicht für alle. Wahrscheinlich passt dies nicht einmal für die meisten“, kommentiert Segal. „Wenn wir uns auf Veränderungen des Gehirns auf individueller Ebene konzentrieren, können wir besser auf den Einzelnen zugeschnittene Behandlungen entwickeln.“

Regionale Heterogenität der GMV biete eine plausible Erklärung für die gut beschriebene klinische Heterogenität, die bei psychiatrischen Störungen beobachtet werde, resümieren die Autoren.

Der Beitrag ist im Original erschienen auf Medscape.com .

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Kommentar

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