Berlin – Die ambulante Versorgung ist am Limit: Um auf die dramatische Lage aufmerksam zu machen, trafen sich rund 700 Ärzte, Psychotherapeuten und Vertreter der 17 Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zur Krisensitzung in Berlin [1]. Sie sehen die flächendeckende ambulante Versorgung vor dem Zusammenbruch – wenn jetzt nicht schnell gehandelt wird.
KBV-Chef Dr. Andreas Gassen forderte Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach auf, „endlich eine ausreichende Finanzierung sicherzustellen“. KBV-Vize Dr. Stefan Hofmeister erinnerte daran, dass die Bundesregierung versprochen habe, die flächendeckende ambulante Versorgung zu stärken. „Dieses Versprechen hat sie jedoch mehrfach gebrochen“, sagte Hofmeister.
Ein Papier mit Forderungen und Lösungsvorschlägen an die Politik wurde auf der Krisensitzung einstimmig angenommen. Gassen und Hofmeister forderten Lauterbach im Namen der KBV und der KVen nun auf, bis zum 13. September 2023 Stellung zu dem Papier zu beziehen. Die 7 Kernforderungen sind:
tragfähige Finanzierung,
Abschaffung der Budgets,
Ambulantisierung,
sinnvolle Digitalisierung,
mehr Weiterbildung in Praxen,
weniger Bürokratie,
keine Regresse.
Umfassende Umstrukturierung des Honorarsystems notwendig
„Jedes Argument ist tausende Mal vorgetragen, jedes Problem hunderte Mal ausführlich geschildert und in zahllosen Gesprächen vor den Folgen für die Versorgung gewarnt worden“, hatte Dr. Marco Hensel, Vorsitzender des Hartmannbund-Arbeitskreises „Ambulante Versorgung“, schon im Vorfeld des Krisentreffens betont. Bei Politik und Kassen sei man dabei überwiegend auf taube Ohren gestoßen. Ein „weiter so“ – das machten die Vertreter der Ärzte- und Psychotherapeutenschaft auf der lebhaften Sitzung deutlich – werde es jetzt nicht mehr geben. „Die Politik steht in der Pflicht, diesen Zusammenbruch zu verhindern“, betonte Dr. Petra Reis-Berkowicz, Vorsitzende der KBV-Vertreterversammlung.
„Fachkräftemangel, steigender Bürokratie- und Arbeitsbelastung, wachsender Kostendruck – das in der Corona-Pandemie so oft gepriesene Fundament unseres Gesundheitssystems, die ambulante Versorgung, wankt. An allen Ecken und Enden bröckelt es – der Empfangstresen unbesetzt, die Zeit im Sprechzimmer knapp, jede Investition, sei es in Praxis, Mitarbeitende oder Versorgung, ein mühsames Hin- und Hergerechne“, zählt Dr. Markus Beier, Bundesvorsitzender des Hausärzteverbandes, die Probleme auf.
Die Lage werde sich noch weiter zuspitzen, wenn der ärztliche Nachwuchs abgeschreckt werde, betont Beier. Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) müsse jetzt handeln und die notwendigen Reformen anstoßen, forderte Beier. „Neben einem angemessenen Kosten- und Inflationsausgleich braucht es eine umfassende Umstrukturierung unseres Honorarsystems in der Regelversorgung, durch die wir endlich die Zeit für unsere Patienten gewinnen, die ihnen zusteht.“
60 Tage im Jahr nur für die Verwaltung arbeiten
„Der Frust der Kolleginnen und Kollegen ist groß“, konstatierte Gassen. Während der Corona-Krise hätten die niedergelassenen Kollegen die Hauptlast der Versorgung geschultert, in den Praxen einen Großteil der Erkrankten behandelt und viele Menschen gegen das Coronavirus geimpft. Kaum sei die Pandemie vorbei gewesen, sei es aber nur noch um Krankenhäuser, Apotheken und Gesundheitskioske gegangen. Das Versprechen, dass es mit ihm keine Leistungskürzungen geben werde, halte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach nicht, kritisierte Gassen. Jeden Tag fänden Leistungskürzungen statt.
So wies Dr. Jörg Böhme von der KV Sachsen-Anhalt darauf hin, dass Ärzte und Psychotherapeuten in Sachsen-Anhalt allein im Jahr 2022 Leistungen im Wert von 75 Millionen Euro aufgrund der Budgetierung nicht vergütet bekommen haben.
„Dabei arbeiten wir 60 Tage im Jahr nur für unsere Verwaltung“, erinnerte Dr. Eckart Lummert, Vorsitzender der Vertreterversammlung der KV Niedersachsen. Ein Hausbesuch beispielsweise wird mit gerade mal 23 Euro honoriert. Wenn man an der Budgetierung festhalte, dürfe man sich nicht über fehlende Ärzte, fehlenden ärztlichen Nachwuchs, lange Wartezeiten und weite Wege für die Patienten beklagen. Böhme forderte, die Budgetierung nicht nur für alle Hausärzte oder Pädiater, sondern für alle Fachgruppen zu beenden.
Zahl der Wirtschaftlichkeitsprüfungen steigt stetig
Mehrere Redner brachten das Thema Arzneimittelregresse zur Sprache. Dass die Anzahl der Prüfanträge im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfungen stetig zunimmt, darauf wies Peter Heinz, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der KV Bayern hin. In der Regel aber gehe es dabei nur um kleine Rückforderungssummen, die aber einen massiven organisatorischen und administrativen Aufwand für die Praxen verursachten.
Auch Karsten Braun von der KV Baden-Württemberg berichtete, dass viele Praxen mit Einzelfallprüfungen überzogen würden, bei denen es um Bagatellbeiträge gehe. Braun forderte Bundesgesundheitsminister Lauterbach auf, „diese Schikane“ zu beenden.
KBV-Vorstandsmitglied Dr. Sybille Steiner wies darauf hin, dass die Angst vor Regressen auch einen erheblichen Teil der Medizinstudierenden davon abhalte, sich niederzulassen. „Der Nachwuchs interessiert sich auch deshalb nicht mehr für die Niederlassung, weil eben die Rahmenbedingungen nicht stimmen“, betonte Steiner.
Dass der Stand der Digitalisierung weit davon entfernt ist, die ambulante Versorgung zu entlasten, machte Dr. Stefan Spieren von der KV Westfalen-Lippe, Hausarzt in Wenden, deutlich. „Wir Ärzte brennen für versorgungsverbessernde digitale Produkte. Aber viele digitale Anwendungen sind leider nicht ausgereift und entlasten uns nicht wirklich“, so Spieren. Bisweilen entstehe der Eindruck, „dass wir in den Praxen als Beta-Tester fungieren“. Die Ärzteschaft, so Spieren, sollte viel stärker als bisher in die Entwicklung neuer Anwendungen eingebunden werden.
Heutiger Tag nur ein erster Schritt
Längst an der Belastungsgrenze angelangt sind auch die Psychotherapeuten, machte Gebhardt Hentschel, Bundesvorsitzender der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung (DPtV), deutlich. Im Zug der Corona-Pandemie ist die Nachfrage nach psychotherapeutischer Behandlung um 40% gestiegen. „Das ist so nicht zu schaffen – es müssen mehr Psychotherapeuten zugelassen werden“, betonte Hentschel und verwies darauf, dass das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) einen weiteren Anstieg der Nachfrage um 25% für die kommenden Jahre prognostiziert hat.
„Was wir brauchen, ist ein Praxiszukunftsgesetz, das die erforderlichen Investitionen der Praxen in ausreichend getestete, nutzerfreundliche und funktionstüchtige Technik kostendeckend absichert“, forderte Steiner. Die Ärzteschaft sei Treiber der Modernisierung und nicht deren Bremser, wie es immer wieder kommuniziert werde.
„Wir dürfen jetzt nicht nachlassen, wir müssen den Druck aufrechterhalten“, appellierte Reis-Berkowicz am Ende der Krisensitzung. „Der heutige Tag ist nur ein erster Schritt. Die KVen bereiten weitere Maßnahmen vor“, versicherte Hofmeister. Gassen erwartet eine zeitnahe Rückmeldung vom BMG und einen klaren Fahrplan.
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Diesen Artikel so zitieren: Ambulante Versorgung vor dem Kollaps: Krisensitzung der Ärzteschaft in Berlin – 7 Kernforderungenlang - Medscape - 23. Aug 2023.
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