Dr. Volker Eissing ist in einem Alter, in dem sich seine Kolleginnen und Kollegen zur Ruhe setzen. Stattdessen gibt der 62-Jährige Gas und führt eine hausärztliche Großpraxis im Nordwesten Niedersachsens – mit einem besonderen Werkzeug: Er beschäftigt 10 Physician Assistants, um den Patientenansturm zu bewältigen. Medscape sprach mit ihm über sein Papenburger Modell.

Dr. Volker Eissing
Medscape: Herr Dr. Eissing, während die Politik und die Selbstverwaltung noch debattiert, schaffen Sie in Papenburg Tatsachen. Mehrere Physician Assistants (PAs) arbeiten in Ihrer hausärztlichen Großpraxis und erledigen Aufgaben, die sonst nur Ärzte erfüllen dürfen. Wie funktioniert das eigentlich?
Eissing: Sie müssen die Ausgangslage bedenken: Wir stehen vor der Herausforderung, dass wir mit immer weniger Ärzten immer mehr Patienten versorgen müssen – und zwar mit einem immer größeren Versorgungsanspruch und -umfang. Und das wird jetzt und erst recht in Zukunft nur dann funktionieren, wenn man uns Ärzten auch erlaubt, ärztlich zu erbringende Leistungen an besonders qualifizierte Physician Assistants zu delegieren.
Medscape: Wie sieht dieses Modell in der Praxis bei Ihnen aus?
Eissing: Insgesamt arbeiten bei uns 7 Ärztinnen und Ärzte. Zusätzlich habe ich insgesamt 104 Medizinische Fachangestellte (MFA), 5 nicht-ärztliche Praxisassistentinnen (NäPA) und 10 PAs, die auf die ambulante Versorgung spezialisiert sind. Sie haben sich auf ganze bestimmte Untersuchungen spezialisiert und arbeiten mir zu. Nur so können wir die rund 20.000 Fälle im Quartal in unserer Praxis bewältigen.
Medscape: Wie arbeiten die Physician Assistants?
Eissing: Wir haben eine ganz brillante PA zur Versorgung unserer ungefähr 350 Patienten mit Multipler Sklerose (MS). Sie hat es geschafft, ihre Patienten besser für deren eigene Krankheit zu sensibilisieren.
So kam ich einmal in unseren Infusionsraum. Dort erhielt eine mir bekannte Patientin hoch dosiertes Kortison. Sie habe einen MS-Schub, erklärte sie mir. Da war ich überrascht, weil die Schübe bei ihr eigentlich ganz selten kamen. Und ich fragte meine PA, was da los sei. Und es stellte sich heraus, dass die Patientin vor einem halben Jahr noch keine Behandlung nach einem Schub bekommen hätte, weil sie sich nicht getraut habe, ihren Neurologen abends um 8 Uhr anzurufen. Stattdessen hätte sie die Doppelbilder, die sie gesehen hat, oder den etwas tauben Arm ignoriert.
Bei der Routineuntersuchung beim Neurologen ein halbes Jahr später wäre der Vorfall längst vergessen gewesen. Aber mit dem engen Kontakt zur PA in unserer Praxis wird sie auf Augenhöhe versorgt, kann die Fachkraft direkt anrufen und kann direkt am nächsten Morgen kommen. Da wird sie von der PA untersucht und der Befund wird an den Facharzt weitergegeben, der sofort die Therapie festlegen kann, die dann bei uns umgesetzt wird.
Wir haben so in jeder Woche 1 oder 2 MS-Schübe bei unseren Patienten entdeckt, die uns sonst entgangen wären. Den Neurologen haben wir in seiner Sprechstunde damit auch noch entlastet, er hat die Info erhalten die Befunde und musste nur die Therapie festlegen. Natürlich erhält der Neurologe einen Überweisungsschein.
Oder nehmen Sie die Patientin, die mit starken Oberbauchschmerzen zu uns kommt. Eine PA untersucht sie und beachtet dabei natürlich die „red flags“ und schließt Herzinfarkt und Embolie aus, veranlasst die Blutuntersuchung, die in unserem Labor nur 15 Minuten dauert, und macht eine Ultraschall-Untersuchung des Abdomens. Dabei stellt sie Gallensteine fest.
Erst dann werde ich dazu gerufen, schaue mir die Ergebnisse kurz an und überweise ins Krankenhaus zur Operation. Das Ganze kostet mich nur wenige Minuten. Aber im Krankenhaus wird die Patientin sagen: „Der Doktor hat sich eine ganze halbe Stunde für mich Zeit genommen!“
Medscape: Welche Aufgabe erledigen Ihre PAs noch?
Eissing: Wir haben mittlerweile für alle chronischen Krankheitsbilder spezialisierte Physician Assistants: Herzinsuffizienz, koronare Herzkrankheit (KHK), chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD), Wundversorgung, Dermatologie, Rheuma. Wenn man hier auf dem Land einen Hautarzttermin bekommen möchte, muss man nach einem halben Jahr noch mal anrufen, um nach einem weiteren halben Jahr einen Termin zu bekommen. Das geht doch gar nicht!
Unsere PAs haben die Abläufe internalisiert und sind absolut spezialisiert und können die allermeisten Herausforderungen in der Dermatologie auch mit Unterstützung von künstlicher Intelligenz managen.
Medscape: Da übernehmen bei Ihnen ja PAs die gleichen Aufgaben wie Weiterbildungsassistenten im Krankenhaus. Ist das nicht eine Art versteckte Substitution ärztlicher Leistungen?
Eissing: Nein, denn erstens gibt es kaum Weiterbildungsassistenten, und zweitens sind wir alle ein Team vom Arzt, Weiterbildungsassistenten, Physician Assistant, NäPA, VERAH (Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis) und MFA – alle zusammen erbringen die Leistung.
Medscape: Wie haben Sie die Haftungsfrage gelöst?
Eissing: Solange wir über Delegation reden, ist die Haftungsfrage geklärt.
Medscape: Haben Sie mit Ihrem Modell nicht viele Nachahmer?
Eissing: Ich wüsste jetzt keine Praxis, in der es so läuft wie bei uns, aber es gibt zunehmend mehr Nachfragen und Besucher.
Aber wir haben seit Januar dieses Jahres eine pädiatrische Sprechstunde. Die zuständige PA, eine 50-jährige ehemalige Kinderkrankenschwester, macht dort die komplette pädiatrische Versorgung. Jetzt haben wir einem größeren MVZ, so 40 km entfernt, angeboten, dass wir einmal die Woche nachmittags dort eine Kindersprechstunde durchführen. Dort sieht sie 20 Kinder, von denen 17 nichts haben. Sie sind da, weil Mama sich Sorgen gemacht hat. Und für die 3 Kinder, die wirklich krank sind, organisieren wir nach der Untersuchung direkt einen Termin beim mit uns vernetzten und kooperierenden Facharzt.
Außerdem haben wir ein tragbares Echokardiografie-Gerät und eine PA, die exzellent echokardiografiert. Mit dem Gerät fahren wir auch in andere Hausarztpraxen, wo die Kollegen schon ihre Herzpatienten einbestellt haben, und machen dort die Untersuchungen.
Die Befunde laden wir in eine Cloud, damit sie auch von Prof. Dr. Frank Edelmann von der Berliner Charité abgerufen werden und er die besten Therapien empfehlen kann.
Medscape: Wie finanzieren Sie die Arbeit Ihrer PAs?
Eissing: Im Moment finanziere ich die PAs aus den erwirtschafteten Honoraren. Wenn sie fertig ausgebildet sind, bekommen sie 4.500 Euro brutto. Aber bei der Bezahlung ist jetzt die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen (KVN) gefordert – wir stehen in Gesprächen. Als wir vor 3 Jahren mit dem Projekt angefangen haben, sagte die KVN: „Wenn ihr fertig seid, dann sprechen wir übers Geld.“ Inzwischen muss sie sich beeilen! Die PAs aus den Praxen haben jetzt sogar einen Verband gegründet für Physician Assistants in der ambulanten Versorgung und machen auch von dieser Seite bei den Kostenträgern Druck.
Inzwischen haben wir also ein paar Löcher in die sprichwörtlichen dicken Bretter gebohrt und haben viele Gäste: Die KV Niedersachen ist regelmäßig hier, die Bertelsmann-Stiftung guckt, was wir so machen. Der Niedersächsische Hausärzteverband war hier und findet das Modell überzeugend, Inhaber anderer Praxen haben sich informiert und so weiter und so fort.
Medscape: Wie sieht die Nachwuchssituation bei den PAs aus?
Eissing: Zusammen mit der Hochschule Anhalt mit Sitz in Köthen bilden wir selbst die auf die ambulante, hausärztliche Versorgung spezialisierten PAs aus. Wir sind ein kompletter Außenstandort der Hochschule. Seit 2020 werden hier pro Jahrgang 30 PAs auf einem eigens dafür errichteten Campus ausgebildet. Sie sollen am Ende ihr Handwerk verstehen. Deshalb braucht es neben der Wissenschaft auch einen großen Praxisanteil. Das erklärt, warum wir einen so großen Wert auf die Skills-Labs für die praktische Ausbildung legen. Auf dem Gelände einer ehemaligen Gießerei hier in Papenburg wird gerade der 4. Hörsaal unseres Hochschul-Ablegers fertig.
Medscape: Mal abgesehen von den PAs – wie haben Sie 7 Hausärztinnen und Hausärzte dahin gelockt, wo sonst niemand hin will – aufs platte Land?
Eissing: Die angestellten Ärztinnen und Ärzte nach Tarif zu bezahlen, das klappt nicht mehr. Ich musste da einiges drauflegen, auch in Form von mehr Urlaubstagen oder Vier-Tage-Wochen. Eine Kollegin ist sogar aus Frankfurt zu uns gekommen, weil sie das Modell so spannend fand. Außerdem kann sie ihre kleine Tochter morgens in unserem eigenen Praxiskindergarten abgeben. Unsere Erzieherin betreut bis zu 13 Kinder.
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Medscape © 2023
Diesen Artikel so zitieren: Geht nicht – gibt´s nicht: Ein Landarzt macht vor, wie mit Physician Assistants die Versorgung von 20.000 Patienten gelingt - Medscape - 16. Aug 2023.
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