Budapest – Eine neues europäisches Konsensus-Dokument unterstützt Ärzte bei der Entscheidung, welche Biomarker sie bei Patienten mit kognitiven Beschwerden verwenden können.
Unter der Leitung von Dr. Giovanni B. Frisoni, Labor für Neuroimaging des Alterns an der Universität Genf, Direktor der Memory Clinic am Universitätsspital Genf, hat eine multidisziplinäre Arbeitsgruppe einen Patienten-orientierten diagnostischen Workflow für den rationalen und kosteneffizienten Einsatz von Biomarkern entwickelt. Ihr Vorschlag richtet sich an Kliniken, die Patienten mit neurokognitiver Symptomatik betreuen.
Der Algorithmus ist Teil einer Konsensus-Erklärung, die jetzt auf dem 9. Kongress der European Academy of Neurology (EAN) 2023 vorgestellt wurde [1]. Eine Zwischenbilanz haben die Forscher bereits im Juni in Alzheimer's and Dementia veröffentlicht.
Systematische Sichtung wissenschaftlicher Veröffentlichungen
Um einen Vorschlag für die ärztliche Routine zu entwickeln, machten sich 22 Experten aus 11 europäischen wissenschaftlichen Fachgesellschaften sowie der Exekutivdirektor der wissenschaftlichen Dachorganisation „Alzheimer Europe“ daran, einen multidisziplinären Konsensus-Algorithmus für die Biomarker-basierte Diagnose neurokognitiver Störungen zu entwickeln.
Sie arbeiteten mit der Delphi-Methode: Nach systematischer Durchsicht der Literatur haben die Experten Stellungnahmen verfasst und einem Gremium vorgelegt. Falls es bei Aussagen zu einer bestimmten Fragestellung einen Mehrheitskonsens gab, galten sie als gesetzt. Fragen, bei denen kein Konsens erzielt werden konnte, wurden überarbeitet und dem Gremium erneut präsentiert. Alle Teilnehmer haben diese Schritte so lange wiederholt, bis schließlich ein Konsens erreicht werden konnte.
Welcher Biomarker eignet sich in der klinischen Routine?
Viele Biomarker könnten bei der Diagnose neurokognitiver Erkrankungen hilfreich sein, sagte Frisoni. Die Herausforderung bestehe darin, den richtigen Biomarker für einen einzelnen Patienten auszuwählen. Die Arbeitsgruppe habe festgestellt, dass In-vivo-Biomarker eine frühe ätiologische Diagnose neurokognitiver Störungen ermöglichten. „Sie haben zwar eine gute analytische Validität, ihre klinische Validität und ihr Nutzen sind jedoch unklar“, sagte der Forscher.
„Wenn man einen Patienten vor sich hat, weiß man beispielsweise nicht, ob er wirklich die Alzheimer-Krankheit hat“, erklärte Frisoni. „Man muss Differenzialdiagnosen stellen und hat eine Reihe von Biomarkern – eine Reihe von Waffen im Arsenal – zur Auswahl. Man kann nicht alle verwenden. Wir würden es gerne, aber wir können es nicht.“
Es sei unmöglich, über Literaturrecherchen herauszufinden, welcher Biomarker angesichts der individuellen klinischen Bedingungen und angesichts unzähliger Kombinationen am besten geeignet sei. „Sie werden keine Belege für den diagnostischen Wert eines Tests im Vergleich zu einem anderen finden“, sagte Frisoni. „Ist etwa CSF (cerebrospinal fluid, Liquor) in einer bestimmten Situation besser als die Amyloid-PET (Positronenemissionstomografie)? Was bringt mir der positive und negative prädiktive Wert in allen möglichen klinischen Situationen?“
Die Realität sei, dass Ärzte Biomarker bestimmen, die auf ihren jeweiligen Möglichkeiten in der Klinik basierten. „Wenn Sie zum Beispiel einen erfahrenen Nuklearmediziner haben, verwenden Sie häufig PET“, sagte Frisoni. „Wenn man dagegen einen kompetenten Labormediziner hat, werden Liquormarker bevorzugt.“ Dies habe zu großen Unterschieden bei der Diagnostik in Europa geführt.
Algorithmus für die Harmonisierung der klinischen Diagnostik
Mit der jetzt vorgelegten Konsensus-Erklärung sollen Abläufe in der Diagnostik mit Biomarkern in der Klinik harmonisiert werden. Insgesamt 56 Aussagen wurden in 6 Diskussionsrunden erörtert. Eine abschließende Online-Sitzung führte zur Entwicklung eines diagnostischen Algorithmus für Patienten, die wegen kognitiver Beschwerden eine Gedächtnisklinik aufsuchen.
Der Algorithmus umfasst 3 potenzielle Bewertungswellen.
Welle 1 definiert 11 klinische Profile, die auf Ergebnissen klinischer und neuropsychologischer Beurteilungen, Blutuntersuchungen, bildgebender Verfahren des Gehirns und in bestimmten Fällen der Elektroenzephalographie beruhen.
In Welle 2 werden auf der Grundlage der klinischen Profile der Welle 1 Biomarker der 1. Linie definiert.
In Welle 3 wird der Biomarker für die 2. Linie auf der Grundlage der Ergebnisse der Biomarker der Welle 2 definiert.
Wie sieht dies in der Praxis aus? 3 Beispiele:
Sollte das klinische Profil eines Patienten auf die Alzheimer-Krankheit hindeuten, werden vorrangig Liquor-Biomarker zur weiteren Diagnostik herangezogen. Sollten sie keine eindeutigen Ergebnisse liefern, kommt als Zweitliniendiagnostik die 18-Fluordesoxyglucose-Positronenemissionstomografie (FDG-PET) zum Zuge.
Wenn das klinische Profil auf eine frontotemporale lobäre Degeneration oder auf eine motorische Tauopathie hindeutet, ist die FDG-PET die 1. Wahl, gefolgt von Liquor-Biomarkern als 2. Wahl bei Patienten mit atypischen metabolischen Mustern.
Wenn das klinische Profil auf eine Lewy-Körperchen-Krankheit hindeutet, ist die Dopamin-Transporter-SPECT die 1. Wahl und die MIBG-Szintigrafie (Metaiodbenzylguanidin-Szintigrafie) die 2. Wahl.
Das Gremium empfehle die Durchführung von Biomarker-Tests für Patienten unter 70 Jahren dringend, betonte Frisoni. Für Patienten im Alter von 70 bis 85 Jahren raten die Experten nur bei Patienten mit bestimmten klinischen Merkmalen zu Biomarker-Tests. Und bei Patienten, die älter als 85 Jahre seien, würden Biomarker-Tests nur noch in Ausnahmefällen empfohlen, heißt es weiter.
Einschränkung der Empfehlungen
Allerdings habe das Konsensus-Papier auch eine Reihe von Einschränkungen, sagte Frisoni. „Zunächst einmal konnten wir nicht alle theoretisch möglichen Kombinationen potenzieller Diagnosen und relevanter Biomarker-Tests erfassen. Es gibt so viele, dass dies praktisch unmöglich ist.“
Er erklärte auch, dass die Zustimmung des Gremiums zur Verwendung einiger Marker mit „kaum 50%“ relativ gering gewesen sei, während die Zustimmung bei anderen etwa 70% betragen habe.
Das Konsensus-Papier gehe auch nicht explizit auf Patienten mit gemischten Pathologien ein, die häufig vorkämen. Außerdem seinen keine neuen Biomarker, wie zum Beispiel leichte Neurofilament-Polypeptide – ein Indikator für eine axonale Schädigung –, aufgenommen worden. Zu guter Letzt bedürfe das Konsenspapier noch einer Validierung, sagte der Forscher.
„Dies ist eine Übung mit Papier und Bleistift. Wir als selbsternannte Experten können empfehlen, was immer wir wollen, aber wir müssen prüfen, ob das, was wir schreiben, anwendbar und durchführbar ist“, erklärte Frisoni. Es müsse festgestellt werden, ob die „reale Patient-Journey“ mit der „idealen Patient-Journey“ übereinstimme, die in dem Konsensus-Papier festgelegt worden sei.
Diese Art der Validierung werde normalerweise bei dieser Art, Empfehlungen zu erstellen, nicht durchgeführt, aber in diesem Fall wolle man das tun, sagte Frisoni.
Stärken und Schwächen der Empfehlungen
Dr. Bogdan Draganski, Facharzt für Neurologie an der Abteilung für klinische Neurowissenschaften und Direktor des Neuroimaging Research Laboratory am Universitätskrankenhaus Lausanne, der die Sitzung beim EAN-Kongress mit geleitet hat, erklärte gegenüber Medscape, dass er bei der Beurteilung des Konsensus-Dokuments zwischen 2 Extremen schwanke.
„Einerseits birgt der Ansatz, ein komplexes Thema mit der Delphi-Methode auf einen Algorithmus herunterzubrechen, die Gefahr einer subjektiven Verzerrung”, sagte Draganski. Maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz könnten einige der Aspekte und damit auch die im Delphi-Prozess enthaltenen Aussagen bewerten, indem sie die verfügbaren Daten objektiver analysierten.
Andererseits sei es pragmatisch gesehen ein guter Ansatz, mit dem aktuellen Algorithmus Optionen, die Ärzten bei einer Differentialdiagnose zur Verfügung stünden, zu reduzieren. Hier berge maschinelles Lernen die Gefahr, nicht die Verantwortung für Entscheidungen zu übernehmen; dies bleibe beim Arzt.
Draganski begrüßte die Idee, eine einheitlichere Patientenbeurteilung in ganz Europa zu ermöglichen. Er vermutet jedoch, „dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben“, bevor Versprechen der personalisierten Medizin eingelöst werden könnten.
Wie Frisoni wies auch Draganski auf die Tatsache hin, dass Patienten mit potenziellen neurokognitiven Störungen oft an mehreren Krankheiten litten, darunter Herz-Kreislauf-Problemen, Depressionen und Krebs. All dies könne die Auswahl geeigneter diagnostischen Biomarker beeinflussen.
Das 2. Problem sei die Umsetzung des Konsensus-Dokuments: eine politische Entscheidung, bei der es darum gehe, „wie Politiker ‚Einheitlichkeit‘ und gleichen Zugang zu technologischen oder nicht technologischen Plattformen definieren werden“. Um Einheitlichkeit zu erreichen, sei eine überregionale Zusammenarbeit erforderlich, sagte Draganski.
Der Beitrag ist im Original erschienen auf www.medscape.com .
Der Beitrag ist im Original erschienen auf www.medscape.com . anden Sie diesen Artikel interessant? Hier ist der Link zu unseren kostenlosen Newsletter-Angeboten – damit Sie keine Nachrichten aus der Medizin verpassen.
Credits:
Photographer: © Yee Xin Tan
Lead Image: Dreamstime
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Diesen Artikel so zitieren: Kognitive Defizite: Welche Biomarker eignen sich zur Diagnose in der täglichen Praxis? Konsensus-Papier hilft beim Entscheiden - Medscape - 16. Aug 2023.
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