Wirken CGRP-Medikamente bei Männer-Migräne nicht? US-Mediziner bezweifeln Wirksamkeit – DMKG-Präsident widerspricht

Nadine Eckert

Interessenkonflikte

10. August 2023

Die große Mehrheit der Migränepatienten sind Frauen – das spiegelt sich auch in den klinischen Studien wider. Ein Pharmakologe und ein Neurologe aus den USA argumentieren deshalb, dass die Wirksamkeit von auf CGRP basierenden Migränetherapien zwar bei Frauen, nicht aber bei Männern nachgewiesen sei – worüber diese aufgeklärt werden sollten.

PD Dr. Tim Jürgens
Quelle: Thomas Leidig, KMG Kliniken

PD Dr. Tim Jürgens, Präsident der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DKMG), kritisiert diese Forderung: „Das wäre wissenschaftlich und ärztlich falsch. Die von den US-Kollegen vorgebrachte Evidenz reicht nicht aus, um daraus abzuleiten, dass auf CGRP basierende Therapie bei Männern nicht wirken“, betont der Chefarzt der Klinik für Neurologie am KMG Klinikum Güstrow im Gespräch mit Medscape.

US-Autoren zweifeln an Wirksamkeit bei Männern

Die beiden Autoren, Dr. Frank Porreca vom Department of Pharmacology der University of Arizona, Tucson, USA, und Dr. David W. Dodick von der Mayo Clinic Arizona in Phoenix, USA, beziehen sich in ihrem in JAMA Neurology veröffentlichten Meinungsartikel auf Medikamente, die das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) bzw. dessen Rezeptor adressieren [1]. CGRP ist ein inflammatorisches Neuropeptid, das wesentlich zur Entstehung von Migräneattacken beiträgt.

Während Antikörper wie Fremanezumab, Galcanezumab und Eptinezumab direkt CGRP angreifen, adressiert Erenumab den CGRP-Rezeptor, ebenso wie die sogenannten Gepante. Bei dieser erst 2022 in der EU zugelassenen Wirkstoffklasse handelt es sich um Small Molecules, die als Antagonisten am CGRP-Rezeptor wirken.

 
Die von den US-Kollegen vorgebrachte Evidenz reicht nicht aus, um daraus abzuleiten, dass auf CGRP basierende Therapie bei Männern nicht wirken. PD Dr. Tim Jürgens
 

Das orale Rimegepant ist zur Akutbehandlung als auch zur Prophylaxe indiziert. 2023 kam das ebenfalls orale Atogepant hinzu, welches eine Zulassung für die Prophylaxe der Migräne besitzt. In den USA ist zudem der Wirkstoff Ubrogepant zugelassen.

Hinweise vor allem aus Studien zu Gepanten

Porreca und Dodick stützen ihre Argumentation, dass auf CGRP basierende Therapien, insbesondere die neue Wirkstoffklasse der Gepante, bei Männern schlechter wirken als bei Frauen, zum einen auf präklinische Daten. Diese zeigten:

  • Bei Mäusen führt die Injektion von CGRP direkt in die Dura mater zu migräneartigen Kopfschmerzen; bei weiblichen Tieren sind dafür sehr viel geringere Dosen erforderlich als bei männlichen Tieren.

  • CGRP-Antikörper lindern migräneartige Schmerzen bei weiblichen Mäusen sehr viel besser als bei männlichen Mäusen.

Aber auch einige Humanstudien ziehen die beiden US-Autoren in ihrem Meinungsartikel heran:

  • Eine Studie mit 7 Frauen und einem Mann zeigt: Bei Frauen waren die CGRP-Level während einer Migräneattacke erhöht und ließen sich durch Sumatriptan normalisieren. Bei Männern (bzw. dem einen Mann) waren sie dagegen weder erhöht, noch ließen sie sich durch Anwendung des Triptans senken.

  • Provokationsstudien, in denen Migränekopfschmerzen durch die Infusion von CGRP ausgelöst wurden, um dessen Rolle in der Entstehung der Migräne zu beweisen, wurden fast ausschließlich bei Frauen durchgeführt.

  • Gepoolte Daten zu Ubrogepant und Rimegepant zeigen keinen therapeutischen Benefit bei Männern: Während Ubrogepant bei Frauen im Vergleich zu Placebo einen Therapiebenefit von 8,3% (Schmerzfreiheit) und 12,4% (belastendstes Symptom nach 2 Stunden) zeigte, war bei Männern nur ein Benefit von 0,2% bzw. 0,7% über Placebo zu beobachten. Ähnliches war in den Studien zu Rimegepant zu beobachten.

Porreca und Dodick räumen zwar ein, dass der therapeutische Benefit möglicherweise aufgrund der unzureichenden statistischen Power der Studien nicht nachgewiesen werden konnte. Dennoch sind sie sich sicher: „Die klinischen Daten decken sich mit den präklinischen Studien und die Schlussfolgerung ist eindeutig. Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Evidenz für den klinischen Benefit dieser Medikamente zur kurzfristigen Migränetherapie bei Männern mangelhaft.“

Studien können Unwirksamkeit nicht zeigen

Für Jürgens erlaubt aber eben diese Einschränkung keine solche Schlussfolgerung: „Diese Untersuchungen waren vom Design her nicht dazu gedacht, die Effekte getrennt nach Männern und Frauen zu untersuchen, dafür waren sie auch nicht gepowert“, betont er. „Das ist sicherlich etwas, dass man in größeren Kohorten untersuchen sollte. Aber daraus Konsequenzen für die klinische Praxis zu ziehen, sehe ich als nicht haltbar an.“

 
Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Evidenz für den klinischen Benefit dieser Medikamente zur kurzfristigen Migränetherapie bei Männern mangelhaft. Dr. Frank Porreca und Dr. David W. Dodick
 

Auch die Forderung nach einer entsprechenden Aufklärung männlicher Migränepatienten sieht der Kopfschmerzspezialist sehr kritisch. Porreca und Dodick raten, dass männliche Patienten darüber aufgeklärt werden sollten, dass „experimentelle Studien bei Tieren und Menschen ganz eindeutig gezeigt haben, dass CGRP bei Frauen eine Rolle bei Migräne spielt und dass die Evidenz aus klinischen Studien die Wirksamkeit von CGRP-Rezeptor-Antagonisten bei Frauen stützen – aber noch nicht für Männer“.

Aufklärung könnte Nocebo-Effekt verursachen

„Das widerspräche allen wissenschaftlichen Prinzipien“, so Jürgens. „Wenn man männlichen Patienten – ohne ausreichende Evidenz dafür – einen solchen Kontext mit auf den Weg gibt, befördert man am Ende noch einen Nocebo-Effekt. Es ist bekannt, dass die Erwartungshaltung der Patienten einen großen Einfluss auf den Therapieerfolg hat.“

Zudem verursachten CGRP-Antikörper und auch Gepante Nebenwirkungen auf Placeboniveau. Man könne somit auch nicht argumentieren, dass man den Männern ein hohes Risiko bei potenziell geringer Wirksamkeit zumute. „Wir sehen im klinischen Alltag keinen Unterschied bei den Ansprechraten von Männern und Frauen“, sagt der DKMG-Präsident. „Auch in den Zulassungsstudien ist nichts dergleichen aufgefallen.“

 
Wenn man männlichen Patienten – ohne ausreichende Evidenz dafür – einen solchen Kontext mit auf den Weg gibt, befördert man am Ende noch einen Nocebo-Effekt. PD Dr. Tim Jürgens
 

Kein Grund, das ärztliche Handeln zu ändern

„Es ist ein interessanter Aspekt, der in Zukunft mehr Beachtung verdient“, ergänzt Jürgens. Auch der Forderung der beiden Autoren nach klinischen Studien, die es erlauben, die Effektivität bei Männern gezielt zu untersuchen, schließt er sich an.

 
Wir sehen im klinischen Alltag keinen Unterschied bei den Ansprechraten von Männern und Frauen. PD Dr. Tim Jürgens
 

„Aber ich sehe keine Notwendigkeit, unser ärztliches Handeln jetzt zu verändern. Würden wir uns die Empfehlung der US-Kollegen zu eigen machen und die männlichen Patienten darüber aufklären, dass die Datenlage mäßig ist, dann wäre das zum einen ein Vorgehen, das die Daten aus den Zulassungsstudien nicht hergeben, und zum anderen auch ärztlich falsch, weil wir womöglich einen Nocebo-Effekt induzieren würden – und dies bei Medikamenten, die bei richtiger Anwendung kein relevantes Risiko darstellen. Man würde einem Großteil der Patienten schlicht eine effektive Therapie vorenthalten.“

 
Es ist ein interessanter Aspekt, der in Zukunft mehr Beachtung verdient. Aber ich sehe keine Notwendigkeit, unser ärztliches Handeln jetzt zu verändern. PD Dr. Tim Jürgens
 

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