Die Personalsituation an Kliniken ist schwierig. Kitas und familienfreundliche Arbeitsbedingungen sind ein wichtiges Instrument zur Mitarbeiterbindung und könnten dem Fachkräftemangel entgegenwirken, meint Dr. Astrid Bühren, Ehrenpräsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes (DÄB), der das Thema seit Jahrzehnten am Herzen liegt.

Dr. Astrid Bühren
© Privat
Bühren, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, engagiert sich seit vielen Jahren für die Chancengleichheit und die Karriereförderung von Frauen und für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Im April 2006 hatte sie als Präsidentin für den DÄB eine Umfrage zu Kinderbetreuungseinrichtungen an allen deutschen Krankenhäusern einschließlich Universitätskliniken gestartet – die Ergebnisse waren ernüchternd. Wie ist die Situation heute? Ist die Einrichtung einer Kita für die Klinik tatsächlich ein Verlustgeschäft? Worauf sollte man achten, wenn man ein familienfreundliches Arbeitsumfeld sucht?
Medscape: Sie wollten wissen, wie sich die Kinderbetreuung an Kliniken und Krankenhäusern entwickelt hat und haben im Verein „Die Chirurginnen e.V.“, dessen Ehrenmitglied Sie sind, eine kleine Umfrage gestartet. Was kam bei diesem Stimmungsbild heraus?
Bühren: Der Verein hat inzwischen 1.700 Mitglieder. Ich habe in den Chats nach Erfahrungen der Mitglieder mit Kinderbetreuung an ihren Kliniken gefragt, binnen 2 Tagen antworteten 34 Chirurginnen.
Ein Resultat der Antworten war, dass die Kinderbetreuung aus Sicht der Chirurginnen mit früh beginnenden und nicht garantiert pünktlich endenden Arbeitszeiten – oft auch an Wochenendtagen – in Ostdeutschland tendenziell besser ist als im Westen. Vermutlich, weil die Berufstätigkeit von Frauen in Ostdeutschland schon lange selbstverständlich ist.
Insgesamt ist Kinderbetreuung aber immer noch immer eine frauenspezifische Angelegenheit. Väter bringen die Kinder in Kita oder in die Schule und für den Rest des Tages sind sie meist raus. Was dann den Tag über an Care-Arbeit anfällt, ist noch häufig Sache der Mütter. Der Tenor in den Antworten war deshalb auch, dass die männlichen Ärzte viel mehr angesprochen werden müssen – schließlich sind sie als Väter genauso verantwortlich.
Medscape: Können Sie Beispiele für Erfahrungen der antwortenden Chirurginnen geben?
Bühren: Eine der Befragten ist seit 20 Jahren Chirurgin und war in 4 Kliniken. 3 davon hatten überhaupt keine Kinderbetreuung; ein Maximalversorger kooperierte mit einer Kita, so dass die Kinder von Klinikmitarbeitern zu einem gewissen Prozentsatz bevorzugt in der Kita aufgenommen wurden. Diese Kollegin schreibt aber auch, dass viele Ärztinnen nur Teilzeit arbeiten (können), weil die Kinder in dieser Kita um 15 Uhr abgeholt werden müssen. Dies wiederum reduziert die verfügbaren Arztstunden und verstärkt so den Ärztemangel.
Weitere Antworten waren: „Ich arbeite in einem Klinikverband, Kinderbetreuung nicht vorhanden“, „Vor der Klinik eine Kita, die hat aber keine Plätze für Klinikmitarbeitende reserviert, weil sich irgendwann ergeben hätte, dass dafür kein Bedarf vorhanden ist“, „keine Kinderbetreuung“, „weder Kinderbetreuung noch Ferienbetreuung“.
Eine andere Kollegin hat berichtet, dass es an den Kliniken Villingen zwar 115 Kitaplätze gibt, sie aber trotzdem keinen Platz für ihren Sohn bekommen hat. Am Uniklinikum Mainz gibt es zwar 40 Plätze in der Kita und 60 Plätze im Hort – für ein ganzes Uniklinikum ist das aber zu wenig. Und zu den Universitäten in Köln, Bonn und Düsseldorf wurde mir von jeweils weniger als 100 Kita-Plätzen bei mindestens 1.500 Mitarbeitern berichtet. Einen Platz zu bekommen gleiche einem Lottogewinn – das wurde mir mehrfach geantwortet.
Ein anderes Beispiel: Die Universität Lübeck wirbt mit Kinderbetreuung und Familienfreundlichkeit. Dennoch berichtet eine Oberärztin, dass sie keines ihrer 6 Kinder in dieser Kita untergebracht hat, obwohl sie und ihr Mann im Uniklinikum arbeiten. Hinzu kommt: Wer im Uniklinikum arbeitet, aber nicht direkt in Lübeck wohnt, bekommt in der Kita ebenfalls keinen Platz.
Medscape: Ihre Umfrage für den DÄB aus 2006 hatte ergeben, dass nur 7% der von Ihnen befragten Kliniken eine Kinderbetreuung anboten. Ihre Schilderungen klingen nicht so, als ob sich viel verändert hätte …
Bühren: Ja, leider hat sich noch nicht wirklich Entscheidendes verändert, das haben auch viele der jetzt von mir Befragten geäußert. Ich schätze – meine Umfrage ist allerdings nicht repräsentativ –, dass jetzt 10% bis maximal 20% für ihr Kind auch einen Platz an der Kita der Klinik bekommen haben.
Veränderungen brauchen Zeit. 2002, als ich im Vorstand der Bundesärztekammer war, haben wir das Thema „Ärztinnen: Zukunftsperspektive für die Medizin“ beim Deutschen Ärztetag in den Fokus gerückt. Viele fanden das völlig übertrieben. Inzwischen ist es die Realität, mindestens 2 Drittel der Medizinstudierenden sind weiblich. Vor 21 Jahren war das Thema aber geradezu revolutionär.
Es ist ja nicht so, dass man heute etwas sagt und morgen damit den großen Erfolg einfährt. Man muss das wieder und wieder in den Fokus rücken und einen langen Atem haben. Und ja, wir haben noch einen langen Weg vor uns. Die Frauen müssen sich vernetzen, wie das die Chirurginnen hier auch tun, und das Thema Familienfreundlichkeit in ihren Fachgesellschaften thematisieren.
Medscape: Gab es auch positive Beispiele bei Ihrer Umfrage?
Bühren: Ja, es gab schon ein paar Lichtblicke. So schrieb eine Chirurgin, die in einer Universitätsklinik arbeitet: „In Magdeburg werden wir verwöhnt, alles wunderbar.“ Auch das Klinikum Neumarkt wurde mehrfach positiv hervorgehoben. Mir wurde berichtet, dass es dort kein Problem sei, wenn es im OP mal eine halbe Stunde oder Stunde später würde.
Medscape: Eine familienfreundliche Arbeitssituation an Kliniken könnte dem Fachkräftemangel entgegenwirken. Sie sagen, dass dazu nicht nur Kitas gehören. Was gehört noch dazu?
Bühren: Ich nenne mal ein paar Beispiele. Da gehört z.B. dazu, über die Klinik haushaltsnahe Dienstleistungen gegen Bezahlung anzubieten – wie Bügelservice, Einkaufsservice, Babysitter- und Haushaltshilfen-Börse, Unterstützung bei der Betreuung kranker oder pflegebedürftiger Angehöriger, Notfall- und Hausaufgabenbetreuung. Das nimmt wirklich Arbeit ab und entlastet.
Eine Ferienbetreuung der jüngeren Schulkinder ist etwas ganz Wesentliches. Die Schulferien sind so lang, das kann man als berufstätige Eltern kaum abdecken. Eine weitere wichtige Möglichkeit ist, dass Schulkinder in die Klinik-Mensa zum Essen kommen können. Wäre das möglich, dann kann ich als Mutter und Vater abends nach der Brotzeit mit den Kindern gemeinsam spielen oder eine Fahrradtour unternehmen – statt zu kochen und die Küche wieder aufzuräumen. Was solche Angebote für die Mitarbeitenden angeht – da sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt.
Medscape: Wird der Aspekt Kinderbetreuung und familienfreundliche Arbeitsbedingungen von den Kliniken gerade im Hinblick auf den Fachkräftemangel zu wenig beachtet?
Bühren: Ja, ich denke schon. Knapp 70% der Medizinstudierenden sind weiblich. Und auch die männlichen Studierenden haben in Umfragen deutlich mehr Interesse daran, Zeit mit ihrer Familie zu verbringen, als karrieremäßig durchzustarten.
Medscape: Wenn es um die Einrichtung von Kitas in Kliniken geht, kommt auch der Einwand, es bestehe kein Bedarf bzw. das lohne sich nicht. Wie sehen Sie das?
Bühren: Die Frage ist, welche Rechnung diesem „lohnt sich nicht“ zugrunde liegt. Oft ist die Begründung, dass das bei kostengünstigen Elternbeiträgen zu teuer sei.
Eine betriebseigene Kita ist besonders sinnvoll für alle Berufsgruppen, die im Schichtdienst und zu Zeiten arbeiten, die von öffentlichen Kitas nicht abgedeckt werden. Das sind in einer Klinik die Pflegekräfte und die Ärztinnen und Ärzte, aber auch die Putzkräfte, die z.B. abends den OP reinigen.
In der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Murnau, an der ich damals konsiliarisch gearbeitet habe, mussten die Eltern nicht viel zahlen, für den Krippenplatz 175 Euro und für den Hort 125 Euro im Monat, der Kindergarten lag dazwischen. Wenn man nur diese Einnahmen rechnet, dann schlägt eine Kita finanziell natürlich negativ zu Buche.
Ich habe 2004 vorgeschlagen, eine rechnerische Darstellung der Kosten-Nutzen-Gegenüberstellung zu erarbeiten. Diese ergab einen signifikanten Gewinn für das Unternehmen. Die Nutzenzuwächse waren: geringere Personalfluktuation mit entsprechend geringeren Kosten für Anwerbung, Einstellung und Einarbeitung von neuem Personal sowie frühere Rückkehr aus der Elternzeit und geringere Ausfallzeiten der Eltern.
Wenn also beispielsweise eine OP-Schwester oder eine Intensivschwester erst nach 3 Jahren wieder kommen kann, weil sie vorher keinen Kitaplatz findet, dann hat sich in ihrem Arbeitsbereich so viel Neues getan, dass diese Mitarbeiterin am Anfang gar nicht voll einsatzfähig ist. Hinzu kommt: Man braucht noch eine weitere Kraft, die die Mitarbeiterin nach der Elternzeit wieder anleiten muss. Das sind alles Kosten.
Eine zweite Kosten-Nutzen-Analyse 2008, nachdem die anfangs 47 Kita-Plätze auf 100 ausgeweitet worden waren, ergab einen Gewinn von ca. 136.720 Euro für das Unternehmen. Danach stand das Thema in dieser Klinik nie mehr zur Debatte. Die betriebseigene Kinderbetreuung ist geöffnet an 7 Tagen die Woche, für Kinder von 6 Monaten bis 10 Jahren, von 5.30 Uhr bis 21.30 Uhr. Zudem ist eine der Betreuerinnen dort eine Kinderkrankenschwester, die auch bei leichten und chronischen Erkrankungen und Medikamentengaben fachlich kompetent ist, also die Eltern nicht vom Arbeitsplatz wegmüssen.
Medscape: Was raten Sie Ärztinnen und Ärzten, die eine Klinik mit guter Kinderbetreuung und familienfreundlichen Arbeitszeiten suchen?
Bühren: Das Wichtigste für die eigene Karriere als Frau in Verbindung mit einer Familie ist die richtige Partnerwahl. Nicht glauben: „Wenn er mich liebt, dann ändert er sich schon und kümmert sich auch um die Kinder, hält mir den Rücken frei etc.“ Wenn Väter die Zeit mit ihren Kindern als etwas Wertvolles ansehen, dann wird man als Paar auch Wege finden, sich die Betreuung fair aufzuteilen.
Und außerdem: Ich rate allen, sich die infrage kommende Klinik nicht nur im Internet anzuschauen, sondern dort hinzufahren und mit Menschen zu sprechen, die dort arbeiten. Wenn man nicht selbst hinfahren kann, sollte man sich umhören, ob jemand jemanden kennt, der dort arbeitet, und fragen, wie dort die Arbeitssituation ist. Beispiel Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Campus Lübeck: Das EU geförderte Projekt FamSurg (family and surgery) klingt super, aber tatsächlich ist es nicht so leicht, wirklich einen Kitaplatz zu bekommen.
Der genauere Blick ist auch aus einem anderen Grund wichtig. Nämlich auf das Klima in dieser Klinik: Wird dort ein Wir-Gefühl vermittelt, wird Solidarität gelebt? Für ein familienfreundliches Arbeitsumfeld ist es wichtig, dass der Chef, die Chefin das Team zusammenruft und klar macht: Wir überlegen jetzt gemeinsam, wie wir das alle zusammen hinbekommen, dass die Familienfreundlichkeit also Teil der Unternehmenskultur ist.
Aus mutterschutzrechtlichen Gründen z.B. darf eine schwangere Kollegin bestimmte ärztliche oder pflegerische Tätigkeiten nicht mehr machen – wie teilen wir das gerecht auf? Wichtig ist: Keiner darf das Gefühl haben, dass Stimmung gegen die Schwangere zu machen irgendwelche Vorteile bringt. Wenn z.B. ein männlicher Kollege nach einem Sportunfall ausfällt, müssen ja auch alle andere schauen, wie sich das kompensieren lässt.
Da geht es um die Stimmung in einer Klinik, gibt es ein Wir-Gefühl und wird versucht, miteinander alles bestmöglich zu regeln.
Medscape: Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.
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Credits:
Photographer: © Oksun70
Lead image: Dreamstime.com
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Diesen Artikel so zitieren: Kita-Platz für Klinikmitarbeiter? Fehlanzeige! Expertin schildert, wie familien(un)freundlich die Arbeitssituation für Ärzte ist - Medscape - 9. Aug 2023.
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