Am 19. Juli 2023 ist in Nature ein bahnbrechender, überzeugender Artikel zu genomische Ursachen, warum manche Menschen keine Symptome von COVID-19 entwickeln, erschienen [1]. Im Juli wurden auch 2 Beiträge über die Genetik von Long-COVID als Preprints veröffentlicht [2,3]. In den Publikationen geht es um genetische Marker für die Extreme des klinischen Spektrums: Menschen, die nach SARS-CoV-2-Infektionen keine Symptome zeigen bis hin zu Menschen, die eine chronische Erkrankung entwickeln.
In dieser Ausgabe von Ground Truths werde ich die 3 neuen Studien besprechen und ihre Bedeutung in den Kontext einordnen.
Menschen ohne COVID-19-Symptome: Was verrät das Genom?
Seit Beginn der Pandemie habe ich mich besonders für asymptomatisches COVID-19 interessiert, da es eine zentrale Rolle bei der Verbreitung von Infektionen spielt. Außerdem besteht hier die Wahrscheinlichkeit, dass die Genetik des Wirts bestimmte Individuen davor schützt, jemals zu erkranken.
Mein Kollege Danny Oran und ich haben uns ausführlich mit diesem Thema befasst und Übersichtsarbeiten in den Annals of Internal Medicine veröffentlicht, wobei wir davon ausgehen, dass insgesamt etwa 30% keine Beschwerden haben.
Wir haben uns alle gefragt, warum manche Menschen selbst nach engem und längerem Kontakt mit Infizierten, die an einer schwerem COVID-19 leiden, nie Symptome entwickeln.
Um die genomischen Varianten zu ermitteln, die bei klinischen Phänotypen eine Rolle spielen, werden genomweite Assoziationsstudien (GWAS) durchgeführt. Im Idealfall werden Tausende von Personen, die gut charakterisiert sind (asymptomatisch vs. symptomatisch, Long-COVID oder vollständig genesen), genau definiert. Ein Genchip, der mehr als 1 Million Varianten im gesamten Genom untersucht, wird verwendet, um eine Assoziation aller Varianten mit dem Phänotyp zu finden.
Wenn eine genomweite Signifikanz vorliegt, d. h. nach einer Bonferroni-Korrektur für die große Zahl statistischer Vergleiche, stellt das Ergebnis eine Assoziation, aber keine kausale Beziehung dar. Um Ursache und Wirkung nachzuweisen, ist es notwendig, aber nicht ausreichend, funktionelle Studien durchzuführen, welche die Biologie einer bestimmten Variante direkt bewerten.
In dem Nature-Artikel von Jill Hollenbach und Kollegen wurden 3 Kohorten untersucht.
Eine Kohorte stammt aus einer Smartphone-App-Studie, in der COVID-19-Symptome und -Ergebnisse („Citizen Science“) für fast 30.000 Teilnehmer (über 1.400 asymptomatische mit positivem Test) verfolgt wurden.
In 2 weiteren Kohorten haben Forscher bestätigt, dass ein Locus des humanen Leukozytenantigens (HLA) mit Immunfunktion, HLA-B*15:01, stark mit dem Ausbleiben von Symptomen assoziiert ist.
Die Odds Ratio für asymptomatische zu symptomatischen Patienten für dieses Allel betrug das zirka 2,5-Fache. Dies gilt auch nach Bereinigung um Komorbiditäten sowie Geschlechts- und Altersunterschiede. Die Größenordnung und der Trend waren in allen 3 Kohorten gleich.
Personen mit 2 Kopien des HLA-B*15:01-Allels hatten eine mehr als 8-fache Wahrscheinlichkeit hatten, asymptomatisch zu bleiben, was die Bedeutung dieses Ergebnisses in Form einer Dosis-Wirkungs-Beziehung unterstreicht.
Die Assoziation des HLA-Allels wurde im Rahmen von Studien zur T-Zell-Funktionalität (TCR-T-Zell-Repertoire) weiter untersucht. Im Fokus standen gesunde Personen mit dem schützenden Allel, die nicht mit SARS-CoV-2 infiziert waren (präpandemische Proben), aber zuvor anderen Coronaviren ausgesetzt waren, die genetische Sequenzen mit SARS-CoV-2 teilen (insbesondere homologe NQK-Q8-Epitope). Daher ist es wahrscheinlich, dass die T-Zell-Kreuzreaktivität die biologische Erklärung für den Schutz vor COVID-19-Erkrankungen ist.
Diese Hypothese wurde anhand von Kristallstrukturen von HLA-B*15:01 weiter untersucht. Sie zeigten, dass das Peptid NQK-Q8 aus SARS-CoV-2 die gleiche Fähigkeit wie NQK-A8 (aus anderen Coronaviren) zur Stabilisierung des HLA-Allelmoleküls besitzt und die gleiche Bindungsbestätigung aufweist (siehe Abbildung unten). Dies brachte das Thema Kreuzreaktivität von Gedächtnis-T-Zellen einen Schritt weiter.
Eine wesentliche Einschränkung ist, dass sich die Ergebnisse auf Personen europäischer Abstammung beschränken, wobei die geringe Zahl der untersuchten schwarzen Personen darauf hindeutet, dass sich Resultate auch auf andere Ethnien übertragen lassen.
Asymptomatisches COVID-19 ist als Phänotyp schwer zu definieren, da manche Personen derart leichte Symptome haben, dass diese nicht erkannt werden. Andere wiederum entwickeln erst spät Symptome. Aber die Autoren haben alles getan, um sicher zu gehen, dass der selbst angegebene Status tatsächlich korrekt ist.
Die Ergebnisse der aktuellen Veröffentlichung weisen bemerkenswerte Parallelen zu früheren Studien über HIV und Hepatitis-B- und -C-Viren auf, so dass bestimmte HLA-Allele mit der Kontrolle der Viruslast in Verbindung gebracht werden. Mehr Wissen über Grundlagen der T-Zell-Kreuzreaktivität und des Schutzes vor COVID-19 hat ebenfalls Auswirkungen auf bessere Impfstoffe und auf bessere Therapien in der Zukunft.
Die Genomik von Long-COVID
Als Preprint veröffentlichten Lammi und Kollegen GWAS-Ergebnisse von über 6.400 Personen mit Long-COVID und mehr als 1 Million Kontrollen, die aus 24 Studien aus 16 Ländern stammen.
Nur der FOXP4-Genlocus auf Chromosom 6 erreichte statistische Signifikanz. Die Autoren analysierten Assoziationen der Genetik mit Long-COVID sowohl anhand weiter gefasster (Patientenangaben bzw. Symptomen) als auch strenger (Tests) Kriterien. Derselbe Locus wurde bereits früher mit schwerem COVID-19, mit der Lungenfunktion, mit Krebs und mit anderen wichtigen Phänotypen in Verbindung gebracht.
Das Risiko für Long-COVID war bei der Schlüsselvariante des FOXP4-Lokus mit einer Allelhäufigkeit von 4,2% insgesamt 1,6-fach erhöht. Die Allelhäufigkeit variierte je nach Abstammung und ethnischer Zugehörigkeit, beträchtlich (bis zu 36% bei Ostasiaten), aber die signifikante Assoziation blieb in allen Fällen bestehen.
Das FOXP4-Gen, ein Transkriptionsfaktor, wird im Körper in fast allen Geweben exprimiert, und die interessierende Variante war mit einer erhöhten Expression in der Lunge und im Hypothalamus assoziiert.
Die Untersuchung der Datenquellen für die Einzelzellsequenzierung und für regulatorischen Komponenten des Genoms unterstrich die potenzielle Bedeutung der FOXP4-Variante weiter. Eine Analyse mit Mendel'scher Randomisierung half, den störenden Einfluss des Schweregrads von COVID-19 auf den Phänotyp von Long-COVID und damit auf die Assoziation mit FOXP4 auszuschließen.
Es gibt immer noch Menschen, die daran zweifeln, dass es Long-COVID gibt (das ist schwer zu glauben, aber wahr). Doch manche Tatsachen lassen sich nicht verleugnen. Denn es gibt die Möglichkeiten, diese Erkrankung zu verhindern (mit Impfungen, Paxlovid und Metformin). Nun kommt ein eindeutiges GWAS-Ergebnis mit hinzu. Selbst bei dem Mosaik an Symptomen und Subphänotypen konnten Forscher einige der biologischen Anfälligkeiten von Long-COVID identifizieren.
Die Tatsache, dass Long-COVID eine Grundlage im Genom hat und dass es mehrere Möglichkeiten gibt, der Krankheit vorzubeugen, sagt uns unwiderlegbar, dass es die Krankheit gibt. Falls weitere Studien den FOXP4-Signalweg replizieren und erste funktionelle Studien dies bestätigen, könnte dies einen rationalen Weg zu einer wirksamen Behandlung ebnen.
Die andere genomische (GWAS-)Studie zu Long-COVID liegt ebenfalls als Preprint vor; sie wurde von Krystyna Taylor und Kollegen, Mitarbeiter des britischen Unternehmens PrecisionLife, veröffentlicht.
Im Gegensatz zur FOXP4-Studie gibt es hier keine Loci, die ein hohes statistisches Signifikanzniveau erreichen. In dieser Studie wurden Personen mit schwerem COVID-19 und mit Long-COVID untersucht; für letztere gab es nur 477 Fälle und 909 Kontrollen.
Dennoch deutet sie darauf hin, dass 73 Varianten mit Long-COVID assoziiert sein könnten, von denen die meisten bereits früher mit neurologischen oder kardio-metabolischen Erkrankungen in Verbindung gebracht wurden. 9 der Varianten überschnitten sich mit einer Assoziation mit myalgischer Enzephalomyelitis bzw. mit dem Chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Es handelt sich um eine viel schwächere Studie als die zu FOXP4, was dazu beiträgt, die erstere als echte GWAS zu bezeichnen.
Kontext der Forschungsergebnisse
Mehr als 3 Jahre nach Beginn der Pandemie sehen wir entscheidende Fortschritte beim Verständnis der Gründe, warum manche Menschen selbst nach einer Infektion nicht an COVID-19 erkranken, während andere einen langwierigen, oft sehr geschwächten Zustand entwickeln.
Unser Verständnis der Biologie des Schutzes vor COVID-19 bzw. der erhöhten Anfälligkeit für Long-COVID ist noch lückenhaft, aber wir sehen einige wichtige Fortschritte. Die Entdeckung des schützenden HLA-B*15:01-Allels ist besonders bemerkenswert. Weitere Experimente zur Funktion der T-Zellen könnten dazu beitragen, Ursache und Wirkung zu entschlüsseln. Interessant sind auch Auswirkungen von 2 Kopien dieser Variante, die eine über 8-fache Chance bieten, asymptomatisch zu bleiben.
Andererseits wurde die Bedeutung der FOXP4-Variante aus der Zusammenfassung vieler Studien abgeleitet. Hier zeigt sich, dass das Risiko für Long-COVID um 60% erhöht ist. Diese Erkenntnis ist derzeit nur eine Assoziation, keine Kausalität.
Solche Studien sind nicht einfach durchzuführen, denn sie erfordern eine genaue Phänotypisierung einer großen Anzahl von Teilnehmern. Beide Phänotypen, hier asymptomatisches COVID-19 und Long-COVID, sind nicht einfach zu definieren. Weitere Herausforderungen sind die Beschaffung von Bioproben und die Untersuchung ihrer Genomdaten sowie die Durchführung von Funktionsstudien, um Genvarianten zu untersuchen, die statistisch signifikant sind.
Die Arbeiten haben uns jedoch geholfen, Ursachen dieser Erkrankungen zu ergründen, und bei asymptomatischen COVID vielleicht sogar bessere Behandlungen und Impfstoffe zu entwickeln.
In Zukunft wird es weitere genomische Loci geben, die für beide Erkrankungen validiert werden, wenn mehr GWAS und funktionelle Genomstudien veröffentlicht werden. Es ist spannend zu entschlüsseln, warum unsere Reaktion auf dieses Virus so unterschiedlich ist, und hoffentlich wird uns der stetige Fortschritt mehr darüber verraten, wie wir Menschen helfen können, niemals krank zu werden oder die chronische Erkrankung durch dieses Virus zu verhindern.
Der Beitrag von Eric Topol erschien ursprünglich auf Ground Truths (hier auch mit Grafiken und Tabellen) auf der Plattform Substack und wird mit Genehmigung hier veröffentlicht. Er wurde von Michael van den Heuvel aus Medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Credits:
Photographer: © Anna Illarionova
Lead Image: Dreamstime
Medscape Nachrichten © 2023 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Nur leicht COVID-krank oder Long-COVID – alles eine Frage der Gene: Eric Topol erklärt „bahnbrechenden“ Nature-Artikel - Medscape - 21. Jul 2023.
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