Wiesbaden – Die Referentin und die Referenten des DGIM-Talks zur elektronischen Patientenakte (ePA), einer Fortbildungsveranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), begrüßten zwar die Akte [1]. Aber sie sahen auch noch eine Menge Baustellen: Die Technik in den Praxen funktioniert nicht gut, die digitalen Bausteine passen nicht zusammen und es fehlt für die Patientinnen und Patienten ein praktischer und einfacher Zugang zur ePA.
Trotzdem: Die meisten Zuschauer des jüngsten DGIM-Talks hielten den Nutzen der Akte etwa in den Notaufnahmen in einer Spontanumfrage für „sehr groß“ (19%) oder für „groß“ (32%), wie eine spontane Umfrage ergab. Die Teilnehmer versprachen sich von der ePA, dass sie Wissenslücken über den Patienten schließen und das Notfallmanagement dadurch sicherer machen könnte. 28% hatten zu der Frage eine neutrale Haltung, und 19% fanden die ePA riskant, unter anderem, weil die Daten nicht immer aktuell waren.
Prof. Dr. Harald Dormann von der Notaufnahme am Klinikum Fürth erinnerte daran, wie anfällig neue digitale Systeme sein können, gerade wegen der technischen Raffinesse. Als in England die Arzneimittelsicherheitsanfragen in Pädiatrien eingeführt wurden, habe man die Erfahrung gemacht, dass Ärzte das System unter anderem deshalb nicht nutzten, weil es tatsächlich gefährliche Interaktionen anzeigen könnte, berichtete Dormann. Die an sich funktionierende Technik war einfach zu fremd. Es brauchte Jahre, bis die Ärzte das System akzeptierten und die Potenziale der Abfrage gehoben werden konnten, berichtete Dormann.
Die ePA ist „Riesenprojekt der Kommerzialisierung von Gesundheitsdaten“
Auch in Deutschland stehe man in Hinblick auf die ePA an einer Akzeptanzschwelle, so Dormann. Überschritten sei sie aber noch nicht. Kein Wunder – denn es sei viel über die Digitalisierung gesprochen, aber wenig umgesetzt worden, resümierte Dormann: „Wir sind im Gesundheitswesen noch nicht in der Digitalisierung angekommen.“
Das zeigt sich auch an den Patientinnen und Patienten. Verschiedene Kassen bieten ihren Versicherten bereits die ePA an, aber insgesamt nutzen sie derzeit nur 1% aller Versicherten.
Eine verbesserte Versorgung sei ursprünglich nicht der Hauptnutzen der ePA gewesen, begründete Dormann die Zurückhaltung. Triebfeder der ePA seien vielmehr „ganz klar ökonomische Aspekte“, denn die medizinischen Daten der ePA sollen gesammelt und verwertet werden. Den wirtschaftlichen Nutzen von Millionen von Patientendaten bezifferte Dormann auf „einen hohen zweistelligen Milliardenbetrag.“ Die ePA sei eben auch ein „Riesenprojekt der Kommerzialisierung von Gesundheitsdaten“. Gleichwohl setzt sich Dormann für die ePA ein.
Höhere Patientensicherheit durch ePA?
Der Arzt verwies in diesem Zusammenhang auf den – noch theoretischen – Nutzen der ePA in der Notaufnahme: „Wenn sie einen Patienten hereinbekommen, der vielleicht bewusstseinsgetrübt ist und bei dem keine Anamnese vorliegt – dann können Sie heute vielleicht den Hausarzt des Patienten anrufen, um die Anamnese zu klären. Aber 70 bis 80% der Notfälle kommen zwischen 16 Uhr und 8 Uhr morgens in die Notaufnahme, also außerhalb der Praxiszeiten. „So agieren sie schließlich in einem Feld von Wissenslücken, müssen aber zeitkritische Entscheidungen treffen“, sagte Dormann. „Dieser Zustand ist unhaltbar!“
Die ePA könnte hier die Patientensicherheit erhöhen, ohne dass man mit der Anamnese „bei Adam und Eva“ anfangen müsse. Alle beteiligten Kollegen in der Notaufnahme und auf den Stationen könnten auf die gleichen Quellen zurückgreifen.
Problem Infrastruktur
Die Herausforderung für die ePA indessen sei die funktionierende Interoperabilität. „Es muss gelingen, die Daten nicht einfach wie aus einem Leitz-Ordner in ein PDF zu übertragen, sondern die Daten selbst ins Klinikinformationssystem (KIS) oder in das Praxisverwaltungssystem (PVS) zu übertragen“, sagte Dormann. Allerdings ergebe sich das Problem, dass auch der Patient Daten wieder löschen kann, wenn er zum Beispiel seinen Alkoholkonsum nicht jedem Arzt präsentieren will.
Damit die ePA zukünftig ein zuverlässiges Bild abgebe, müsse man die Patienten für die Chance der ePA sensibilisieren, so Dormann. „Wir haben eine super Ausgangssituation, dass wir unsere Patientinnen und Patienten vorbereiten können. Aber das wird uns nur gelingen, wenn Vertrauen in die Infrastruktur aufgebaut werden kann.“
Bisherige Nutzung der ePA …
Auch Dr. Sibylle Steiner, Mitglied des Vorstands der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), stellte fest: Nur 690.000 User nutzen bundesweit die ePA. Damit bleibt die ePA weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. „Das Datenvolumen, das auf diesen ePA gespeichert ist, passt auf 10 Smartphones“, so Steiner.
89% des Publikums beim DGIM-Talk hat denn auch noch nie mit einer ePA gearbeitet, ergab die online-Befragung. Aber immerhin haben schon 21% der Befragten Informationen für Patienten in eine ePA eingestellt, und 76% haben schon einmal Informationen für ihre eigene Arbeit abgerufen. Mit anderen Worten: Es ist noch ein langer Weg bis zum Ziel der Digitalstrategie des Bundesgesundheitsministeriums. Denn das besagt: Bis 2025 sollen 80% der Patientinnen und Patienten eine ePA haben.
„Grundsätzlich finden wir das Ziel gut. Aber es fehlen Praktikabilität und funktionierende Technik“, sagte Steiner. „Die Kolleginnen und Kollegen in den Praxen müssen sich immer noch mit dysfunktionaler Technik auseinandersetzen.“
Die Forderung der KBV sei, dass die Medizin den digitalen Prozess führt und nicht umgekehrt, betonte Steiner. Die Technik einfach und handhabbar sein, namentlich in der Befüllung der Akte, die zukünftig unbedingt automatisch ablaufen müsse.
Ohne Opt-Out-Regelung wird die ePA nicht funktionieren
Michael Hübner, Leiter der Digitalen Versorgung bei der Barmer, sagte: „Wir möchten, dass die ePA zum Game-Changer wird. Wir haben ein Interesse daran, dass ePA genutzt wird. Aber: Das Authentifizierungsverfahren ist viel zu kompliziert.“ Kein Wunder, dass bisher nur wenige Versicherte eine ePA haben. So hätten zwar 2 Millionen von rund 8 Millionen Barmer-Versicherten ein elektronisches Zugangskonto bei ihrer Kasse. Aber für die ePA reichen diese technischen Voraussetzungen laut Gesetzgeber nicht.
Deshalb musste die Barmer mit einem Zwei-Faktoren-Authentifizierungs-System den Sicherheitsanspruch erhöhen und muss nun alle, die eigentlich schon ein Zugangskonto haben, von dem neuen System überzeugen.
Zum 1.1.2024 kommt darüber hinaus die neue digitale Gesundheits-Identifizierung, die Gesundheits-ID, was erneut eine Umstellung erfordert. Die ID wird auf dem Smartphone der Versicherten in einem geschützten Speicherbereich abgelegt und soll den Zugang zu den elektronischen Gesundheits-Dienstleistungen, wie zum Beispiel der ePA, sicherer und einfacher machen. Die Gesundheits-ID wird als eine Art Kombination von Personalausweis und Gesundheitskarte.
Womöglich werden die Versicherten durch die noch immer komplizierte Anmeldung für eine ePA abgeschreckt. Im vergangenen Jahr zählte man bei der Barmer nur rund 40.000 Nutzerkonten für die ePA. Im Mai 2023 waren es 66.645, so Hübner – und das bei Millionen von Versicherten.
Nicht zuletzt wegen der zögernden Patienten sprach sich Hübner für die Opt-out-Regel bei der ePA aus. Wer also in Zukunft keine ePA haben möchte, müsste sie aktiv ablehnen. Hübner: „Anders wird das nicht funktionieren!“
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Diesen Artikel so zitieren: Nur 1 von 100 hat sie schon: DGIM-Fortbildung erklärt Baustellen bei der ePA – Teilnehmer sehen aber “großen” Nutzen - Medscape - 19. Jul 2023.
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