Frankreich – Maler, Erfinder und Ingenieur: Universalgenie Leonardo da Vinci ist berühmt für seine vielen Talente. Eine aktuelle Ausstellung widmet sich nun Leonardos Arbeit als Erforscher des menschlichen Körpers und seiner Geheimnisse.
Die Ausstellung im Schloss Clos Lucé in Amboise an der Loire, welches da Vincis letzte Residenz und Sterbeort war, lädt Besucher und Besucherinnen dazu ein, eine neue Seite Leonardos zu entdecken und widmet sich dem Mann, der Kunst und Wissenschaft meisterhaft vereinte.
Die Kuratoren der Ausstellung, Prof. Dr. Dominique Le Nen, Chirurg an den Universitätskliniken von Brest, und Pascal Brioist, Historiker aus Tours, zeigen in ihrer Ausstellung, dass Leonardo da Vinci neben seinen vielen anderen Talenten visionärer Anatom, Vorreiter der modernen medizinischen Bildgebung und Begründer moderner Dissektionstechniken war. Das dringende Bedürfnis, den menschlichen Körper zu verstehen, führte den toskanischen Meister dazu, neue Dissektionstechniken zu entwickeln. „Leonardo ist in die Tiefe gegangen, wo andere Künstler an der Oberfläche geblieben sind“, erklärt Brioist.
Erfolgreiche Verbindung von Wissenschaft und Kunst

Eine Reise wert: Das Schloss Clos Lucé in Amboise an den Ufern der Loire
Über 30 Jahre verbrachte das Universalgenie Leonardo da Vinci auf der Suche nach Antworten über den menschlichen Körper und erforschte die Mechanik des menschlichen Körpers, dessen Bewegungsabläufe und organische Funktionen. Seine anatomischen Studien zeichnen sich durch wissenschaftliche Präzision und eine außergewöhnliche Ästhetik aus.
Der Maestro, der selbst kein studierter Arzt war, entwickelte völlig neuartige Techniken beim Sezieren von Leichen, indem er schichtweise oder scheibchenweise vorging. Dabei näherte er sich dem Objekt von allen Seiten und arbeitete sich gleichmäßig in tiefere anatomische Schichten vor. Diese Herangehensweise erinnert stark an ein anderes Talent da Vincis, die Bildhauerei.
Im Laufe seines Lebens knüpft Leonardo Kontakte zu verschiedenen Ärzten und führt in mehreren Krankenhäusern Sektionen durch. Zwischen 1500 und 1507 forscht er zusammen mit den Ärzten Antonio Benivieni und Andrea Cattaneo im Krankenhaus Santa Maria Nuova in Florenz. Im Jahr 1508 arbeitet er im Krankenhaus San Matteo in Pavia und im Großen Krankenhaus von Mailand mit dem Anatomen Marcantonio della Torre (1481–1511) zusammen.
Leonardo da Vinci führte seine Sektionen also nicht, wie oft angenommen, heimlich durch, sondern „im Herzen der Krankenhäuser und in voller Übereinstimmung mit den politischen und religiösen Autoritäten“, betont Historiker Brioist. Ein Beweis dafür ist die Zusammenarbeit um 1515 mit dem Leibarzt des Papstes, Francesco Dantini. In Rom setzt Leonardo seine anatomischen Untersuchungen in Santa Maria della Consoliazione und dem damaligen Hospiz Santo Spirito fort.
Zwar zieht der Gelehrte den Zorn des Papstes auf sich, jedoch nicht wegen seiner Leichensektionen, sondern aufgrund von unterschiedlichen Vorstellungen über den Ursprung der Seele. Leonardo vermutet eine Übertragung durch die Mutter bei der Geburt, die Kirche ist sich sicher, die Seele eines Menschen stammt von Gott.
Vorreiter der Magnetresonanz- und Computertomografie
Laut Le Nen ist da Vinci sogar der Begründer der Schichtdissektion, also der Entfernung aufeinanderfolgender Schichten, die bestimmte Körperteile bilden. Diese Methode erlaubte ihm beispielsweise die Darstellung der anatomischen Strukturen der Hand.
Bereits 1487 dissezierte Leonardo da Vinci ein Bein, indem er es mit einer Säge in mehrere Abschnitte zerteilte. Eine Reihe von Zeichnungen zeigt, was Leonardo durch eine leicht schräge Schnittführung entdeckte: Muskelfächer, die durch Trennwände voneinander abgegrenzt um den Oberschenkel angeordnet sind. „Leonardo dachte in 3D“, sagt der Chirurg Le Nen. „Er hat mit 5 Jahrhunderten Vorsprung Bilder vorausgeahnt, die heutzutage mit einem CT-Scan oder einer MRT erstellt werden. Die aktuelle medizinische Bildgebung führt dieselben Schnitte (frontal, sagittal usw.) durch, die auch Leonardo in seinen Zeichnungen darzustellen versuchte. Auf dieser Basis wurde die Technik weiterentwickelt und kann heute Bilder in verschiedenen Ebenen rekonstruieren, sie modellieren und in 3D animieren.
Anatomie-Künstler

Leonardo da Vinci, Nachbildung eines Codex Windsor. Credit: Léonard de Serres
Durch die Vielfalt der anatomischen Ansichten vermittelt Leonardo da Vinci eine dynamische – und daher sehr moderne – Sicht auf den menschlichen Körper. Dies zeigen 2 Tafeln, welche insgesamt 8 Perspektiven des rechten oberen Arms und des Halses darstellen. (Die Abbildung zeigt 4 davon.)
„Diese Serie von Zeichnungen, bei der sich Leonardo um das Objekt zu drehen scheint, erinnert stark daran, wie Künstler der Renaissance, unter anderem Michelangelo, beim Modellieren vorgingen. In der Bildhauerei folgte nach den Zeichnungen ein Modell aus Ton. Anschließend wurden die Kunstwerke in Lebensgröße und mit dem gewünschten Material erstellt“, erklärt Le Nen.
Eine weitere Innovation des Gelehrten war die Extraktion bestimmter Strukturen, um deren Anatomie und Funktion besser zu verstehen. Leonardo vergleicht den menschlichen Körper mit einer Maschine, die aus „abnehmbaren Teilen“ besteht. Eine in der Ausstellung präsentierte Zeichnung von Leonardo stellt die „Extraktion“ des Schlüsselbeins dar. Der Künstler deutet den Knochen nur durch feine Linien an, um darunterliegende Strukturen besser sichtbar zu machen.
„Heutzutage ist es durch Informatik möglich, bestimmte anatomische Elemente verblassen oder verschwinden zu lassen, um andere Strukturen besser darzustellen. Diese sogenannte Subtraktionstechnik ist heute eine Standardmethode von 3D-Scannern und ähnelt stark den Techniken von Leonardo da Vinci“, erklärt der Chirurg Le Nen.
Beachtenswert ist auch eine der schönsten Tafeln, die man im Museum sehen kann, auf der Leonardo da Vinci die Wirbelsäule darstellt. „Nie zuvor wurde die Wirbelsäule so gut dargestellt“, schwärmt Le Nen.

Leonardo da Vinci, Nachbildung eines Codex Windsor. Credit: Léonard de Serres
Ein zu Lebzeiten unveröffentlichtes Werk
Eine imposante Sammlung handschriftlicher Dokumente belegt, dass Leonardo neben Wirbeln und Muskeln unzählige andere Körperstrukturen untersuchte. Darunter Gelenke, das Harnsystem von Frauen, Männern und Kindern, das Gehirn und die Herzkammern. Obwohl er sich rund 30 Jahre dem Studium des menschlichen Körpers widmete – von 1487 bis ins Jahr 1516 – sind seine anatomischen Arbeiten wenig bekannt.
Die herausragende Forschungsarbeit da Vincis wurde zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht, obwohl Quellen nahelegen, dass der Künstler die Absicht dazu hatte. Erst nach seinem Tod begann sein Schüler Francesco Melzi, unzählige Zeichnungen, Skizzen und handschriftliche Notizen des Meisters zusammenzutragen. 1690 wurden die anatomischen Tafeln von der Royal Library in Windsor erworben und gehören noch heute der britischen Krone. Dennoch ermöglichen zahlreiche hochwertige originalgetreue Nachbildungen den Besuchern und Besucherinnen der Ausstellung einen besonderen Einblick in das Werk Leonardo da Vincis.
„Léonardo da Vinci und die Anatomie: die Mechanik des Lebens“

Von den ersten Studien, die sich auf die oberflächliche Anatomie beschränkten, bis zu den Leichensektionen Anfang des 16. Jahrhunderts stellen die anatomischen Studien von Leonardo da Vinci einen der wichtigsten Beiträge zur anatomischen Forschung der Renaissance dar. Diese wenig bekannte Facette vom Talent des Universalgenies kann im Schloss Clos Lucé entdeckt werden. Besucher und Besucherinnen der Ausstellung erwartet ein didaktischer und multidisziplinärer Rundgang, der historische Bücher, Faksimiles, anatomische Modelle, Dissektionsinstrumente, Installationen und animierte 3D-Videos miteinander verbindet. Ein Highlight der Ausstellung ist zudem die Nachbildung eines Sezierraums.
9. Juni bis zum 17. September 2023, Schloss Clos Lucé, Amboise (37400, Frankreich)
Dieser Artikel erschien im Original auf francais.medscape.com und wurde übersetzt von Johanna Gottschling und Loïc Lemonnier.
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Photographer: © Cogent
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Diesen Artikel so zitieren: Eine Visite beim Visionär Leonardo da Vinci: Wie er im Hospiz Leichen sezierte und die Anatomie voranbrachte - Medscape - 19. Jul 2023.
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