Die Internationale Krebsforschungsagentur (IARC) der WHO hat den Süßstoff Aspartam jetzt als „möglicherweise krebserregend“ eingestuft. Zeitgleich kommt der WHO- und FAO-Sachverständigenausschuss für Lebensmittelzusatzstoffe (JECFA) zu dem Schluss, dass es „keine überzeugende Evidenz“ dafür gebe, dass Aspartam Nebenwirkungen aufweise[1]. Der JECFA hält deshalb an der bislang gültigen Tagesdosis von 40 mg Aspartam pro kg Körpergewicht fest. Die Ergebnisse der IARC erscheinen außerdem in The Lancet Oncology [2].
Der Süßstoff Aspartam ist am häufigsten in Diät-Erfrischungsgetränken, in Obstkonserven und Fertig-Desserts, Kaugummis und Light-Marmelade enthalten. Seit den 1980er-Jahren gilt der synthetische Süßstoff innerhalb gewisser Grenzen als sicher und ist in der EU seit vielen Jahren zum Verzehr zugelassen.
2022 hatte eine Studie aus Frankreich mit mehr als 100.000 Teilnehmern einen hohen Aspartam-Konsum mit einem erhöhten Krebsrisiko in Verbindung gebracht. Die IARC bezog in ihre Sicherheitsprüfung neben dieser Arbeit 3 weitere Humanstudien aus Europa und den USA und zahlreiche tierexperimentelle Studien ein.
Die insgesamt 1.300 ausgewerteten Studien lieferten nach Einschätzung der IARC eine „begrenzte Evidenz“ für einen Zusammenhang zwischen Aspartam und der Entstehung des hepatozellulären Karzinoms.
Der JECFA hingegen beurteilt menschliche Gesundheitsrisiken nach dem Verzehr bestimmter Stoffe. Er kommt zu dem Schluss, dass es keine überzeugende Evidenz gibt, dass Aspartam schädliche Wirkungen hat. Damit bestätigt der Ausschuss die Tagesdosis von 0 bis 40 Milligramm Aspartam pro Kilogramm Körpergewicht. Ein 70 Kilogramm schwerer Erwachsener müsste demnach mehr als 9 bis 14 Dosen Diät-Softdrinks pro Tag konsumieren, um diesen Wert zu überschreiten.
IARC: 4 Stufen der wissenschaftlichen Evidenz zum Krebsrisiko
Die IARC-Klassifizierungen spiegeln die Stärke der wissenschaftlichen Evidenz dafür wider, ob ein Stoff beim Menschen Krebs verursachen kann. Sie spiegeln aber nicht das Risiko wider, ab einer bestimmten Dosis Krebs zu entwickeln, stellen PD Dr. Bettina Wölnerhanssen und PD Dr. Anne Christin Meyer-Gerspach gegenüber dem Science Media Center (SMC) klar. Sie sind Co-Leiterinnen metabole Forschung St. Clara Forschung am St. Claraspital in Basel. „Die dritte Stufe, in die nun neu Aspartam aufgenommen wurde, ist noch sehr vage: Es gibt Hinweise aus Tierstudien, aber noch keine klaren Beweise und wenige Humanstudien mit ebenfalls limitierter Aussagekraft.“
„Die IARC sieht im Konsum von künstlich gesüßten Getränken einen Näherungswert für die Aufnahme an Aspartam – dafür gibt es aber meiner Ansicht nach keine Evidenz“, kommentiert Prof. Dr. Jürgen König, Leiter des Departments für Ernährungswissenschaften der Universität Wien, die Einstufung. Insgesamt, so König, stehe die Bewertung der IARC „auf eher schwachen Beinen“.
Nach Einschätzung von Dr. Stefan Kabisch, Studienarzt in der Klinik für Endokrinologie und Stoffwechselmedizin (Deutsches Zentrum für Diabetesforschung) der Charité Berlin, ändert die Einstufung „an unserem täglichen Gebrauch sehr wahrscheinlich nichts“. Die Einstufung sei „sehr zurückhaltend“, ein Krebsrisiko „keinesfalls sicher und nicht einmal besonders wahrscheinlich“. Da es aber aus Zell- und Tierstudien sowie Beobachtungsstudien am Menschen gewisse Hinweise auf ein mögliches Krebsrisiko gebe, „ist eine gewisse Beschreibung des Risikos nötig“, erläutert Kabisch. Er verweist auf eine Metastudie aus 2019, die zu dem Ergebnis kam, dass Aspartam nicht mit einem erhöhten Krebsrisiko beim Menschen in Verbindung steht.
Die IARC unterscheidet zwischen 4 Stufen der wissenschaftlichen Evidenz zum Krebsrisiko:
definitiv krebserregend: zum Beispiel Tabakrauch, Asbest, radioaktive Strahlung, Alkohol;
wahrscheinlich (‚probably‘) krebserregend: zum Beispiel heiße Getränke über 65 Grad Celsius, rotes Fleisch, Glyphosat;
möglicherweise (‚possibly‘) krebserregend: zum Beispiel Aloe Vera, Nickel, niederfrequente Magnetfelder – in diese Kategorie fällt Aspartam;
zu wenig Evidenz, um eine Aussage machen zu können.
Nach Einschätzung von Wölnerhanssen und Meyer-Gerspach möchte die IARC/WHO ein Zeichen setzen und Konsumenten dazu anregen, möglichst Wasser und ungesüßte Tees zu trinken, den Zuckerkonsum drastisch zu reduzieren, Süßstoffe aber nur in Maßen zu konsumieren. Allerdings könne die Klassifikation Verbraucher auch dazu verleiten, „mehr Zucker zu konsumieren, anstatt zuckerfreie oder zuckerarme Alternativen zu wählen, die nach wie vor gemäß der aktuellen Datenlage insgesamt immer noch gesünder sind.“
Heterogene Datenlage und Studien mit methodischen Schwächen
Wölnerhanssen und Meyer-Gerspach betonen, dass die Datenlage zu Süßstoffen und Krebsrisiko ziemlich heterogen ist. Es gibt mehrere Übersichtsstudien zum Thema künstliche Süßstoffe/Krebsrisiko. Viele dieser Übersichtsstudien haben keinen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Konsum von künstlichen Süßungsmitteln und einem erhöhten Krebsrisiko gefunden.
In der erwähnten französischen Studie zeigte sich ein Zusammenhang zwischen dem Konsum von künstlichen Süßstoffen und einem leicht erhöhten Krebsrisiko. Ein direkter kausaler Zusammenhang konnte aber nicht nachgewiesen werden. So ist z.B. nicht klar, ob ein erhöhter Süßstoffkonsum im Zusammenhang steht mit einer insgesamt ungesünderen Lebensweise.
Kabisch erinnert daran, dass klar beschrieben werde, dass alle zugrundeliegenden Studienarten nur sehr begrenzte Belege für ein Krebsrisiko liefern, da all diese Studien methodische Schwächen aufweisen. Auch würden hohe Dosierungen verwendet, die Menschen nicht erreichen können. Hinzu kommt: Beobachtungsstudien am Menschen unterliegen typischerweise starken Confoundern, also Krankheitsfaktoren wie Rauchen, Alkoholkonsum oder Adipositas, die parallel mit dem Süßstoffkonsum korrelieren. Die eindeutige Kausalität zu Süßstoffen sei dadurch fraglich.
Zudem finde man gerade bei Süßstoffen eine „reverse causality“: Nicht die Süßstoffe verursachen Folgeerkrankungen, sondern Patienten mit bereits bestehenden metabolischen Erkrankungen nutzen gezielt (mehr) Süßstoffe, um abzunehmen oder den Blutzucker zu optimieren. „In methodisch wirklich guten Studien am Menschen, den randomisiert-kontrollierten Studien, zeigen Süßstoffe wie Aspartam einen moderaten, aber signifikanten Nutzen zur Gewichtsabnahme. Dieser fällt kleiner aus, als man erwarten möchte, aber ein Schadenspotenzial ist nicht zu erkennen“, erklärt Kabisch.
Experten hoffen, dass die Bewertung besonnen aufgenommen wird
Für König ist die neue Bewertung von Aspartam durch die IARC „sehr überraschend“, zumal sich die die Evaluierung im Wesentlichen auf die Ergebnisse von 3 Studien stütze, die zudem „nur“ positive Assoziationen zwischen dem Konsum von künstlich gesüßten Getränken und dem Krebsrisiko ermittelten.
Kabisch sagt, es sei zu hoffen, dass die neue Einstufung besonnen aufgenommen werde und nicht dazu führe, dass Konsumenten von Süßstoffen auf Zucker umsteigen. „Es gibt keinen soliden Grund, Süßstoffe aktiv zu vermeiden, aber auch keinen Grund, Süßstoffe aktiv zu empfehlen. Der Nutzen ist gering, der Schaden nicht klar nachweisbar.“ Für Zucker sei hingegen deutlich klarer belegt, dass er neben Karies auch Adipositas und Typ-2-Diabetes fördere und zum Krebsrisiko beitrage. „Ein Umstieg von Süßstoffen auf Zucker würde sicherlich Krankheitsrisiken verstärken“, sagt Kabisch.
„Für die Konsumenten gilt es, den Zuckerkonsum möglichst gering zu halten und vor allem zuckerfreie, ungesüßte Varianten wie Wasser und ungesüßte Tees zu trinken und Süßstoffe nur in Maßen zu konsumieren“, so Wölnerhanssen und Meyer-Gerspach. Die Wissenschaft sei nun aufgefordert, mehr Studien zu den Auswirkungen von Süßstoffkonsum ganz allgemein – nicht nur Aspartam – beim Menschen durchzuführen.
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Diesen Artikel so zitieren: WHO: Süßstoff Aspartam „möglicherweise krebserregend“ – Sachverständigenausschuss hält trotzdem an gültiger Tagesdosis fest - Medscape - 17. Jul 2023.
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