Die US-amerikanische Arzneimittelbehörde (FDA) hat den monoklonalen Antikörper Aducanumab des Unternehmens Biogen zur Therapie von Patienten mit Alzheimer-Erkrankung in einem beschleunigten Verfahren zugelassen. Besonders bemerkenswert an diesem Vorgang ist unter anderem, dass die FDA nicht der Negativ-Empfehlung ihres externen Beratergremiums gefolgt ist.
Die FDA-Wissenschaftler selbst hatten die Studiendaten zu dem vielfach als „Hoffnungsträger“ eingeschätzten Antikörper zwar insgesamt als positiv bewertet. Aber 10 von 11 Mitgliedern des externen und unabhängigen Beratergremiums kamen im November des vergangenen Jahres zu einem entgegengesetzten Urteil. Es gebe nicht genügend Belege dafür, dass der Anti-Amyloid-Antikörper tatsächlich den kognitiven Abbau bremse. Nur eine von zwei relevanten Studien (EMERGE und ENGAGE) habe positive Daten geliefert. Eine Zulassung könne daher nicht empfohlen werden. Ein Mitglied des Gremiums enthielt sich der Stimme.
Kein ein externer Wissenschaftler hat sich für die Zulassung ausgesprochen. Insofern kann man die FDA-Entscheidung in der Tat als „Meilenstein“ bezeichnen. Ob der nun zugelassene Antikörper allerdings in der Realität hält, was er in Studien zu versprechen scheint und was von ihm erhofft wird, bleibt daher vorerst ungewiss; die FDA hat den Hersteller daher dazu verpflichtet, das Arzneimittel in einer Phase-4-Studie zu prüfen.
Berater verlasen das sinkende Schiff
Inzwischen haben sogar 3 der 11 Mitglieder dieses Gremium aus Protest gegen die FDA-Entscheidung verlassen. „Dies könnte die schlechteste Zulassungsentscheidung der FDA sein, an die ich mich erinnern kann“, wird Prof. Dr. Dr. Aaron Kesselheim (Harvard Medical School und Brigham and Women's Hospital) in der New York Times zitiert.
Kesselheim reichte nach 6 Jahren im Ausschuss den Rücktritt ein. Seiner Ansicht nach sei die Zulassung des Medikamentes aus mehreren Gründen falsch. Dass es keine guten Wirksamkeitsbeweise gebe, sei nur ein Grund.
Ein weiter Kritikpunkt der Gremiumsmitglieder wie auch anderer Wissenschaftler ist die Tatsache, dass die FDA das Medikament für eine viel breitere Gruppe von Alzheimer-Patienten zugelassen hat, als viele Experten erwartet hatten. In den relevanten klinischen Studien wurde das Medikament nur bei Patienten mit der Alzheimer-Krankheit im Frühstadium oder mit leichter kognitiver Beeinträchtigung getestet.
Darüber hinaus gebe es, so die Kritiker der FDA-Entscheidung, keine ausreichenden Belege dafür, dass eine Reduktion der Amyloid-Belastung, wie sie der Antikörper bewirken soll, tatsächlich mit relevant verbesserten kognitiven Fähigkeiten der behandelten Patienten einhergeht. „Das ist ein großes Problem“, so der Neurologe Dr. Joel Perlmutter (Washington University School of Medicine in St. Louis), der das Beratergremium ebenfalls verlassen hat. Die Zulassung eines Medikamentes, dessen Wirksamkeit nicht bewiesen sei, berge die Gefahr, die zukünftige Forschung zu neuen Therapien zu beeinträchtigen, so Perlmutter in der New York Times .
Klinische Studien mit anderen Amyloid-reduzierenden Medikamenten hätten in mehr als 2 Jahrzehnten keine Beweise dafür geliefert, dass diese Medikamente den kognitiven Verfall verlangsamten.
„Eine Biomarker-Rechtfertigung für die Zulassung in Ermangelung eines konsistenten klinischen Nutzens nach 18 Monaten der Behandlung ist nicht zu rechtfertigen“, so dem Bericht zufolge der Neurologe Dr. David Knopman von der Mayo Clinic in einer E-Mail an die FDA-Offiziellen. Laut Knopman habe die Zulassung den beratenden Ausschuss zum Gespött gemacht.
Hohe Kosten der Therapie
Verärgerung löst auch der Preis aus: Die Jahres-Therapiekosten sollen immerhin 56.000 US-Dollar (50.800 Euro) betragen. Hinzu kommen die Kosten für die notwendigen Untersuchungen, etwa MRTs.
Da davon auszugehen ist, dass die vorgesehene Postmarketing-Studie mehrere Jahre dauern könnte, bis vielleicht aussagekräftige Ergebnisse vorliegen, werden die Kostenträger lange recht tief in ihre Taschen greifen, um eine Therapie zu bezahlen, deren Wirksamkeit als bislang nicht belegt gilt. Und ob die Antikörper-Therapie in Relation zur üblichen Therapie einen relevanten Zusatznutzen hat, wird möglicherweise nie endgültig geklärt sein.
Auch Medizinethiker sind vermutlich nicht alle begeistert über die FDA-Entscheidung, denn schließlich könnte man die geplante Phase-4-Studie als ein wissenschaftlich schlecht begründetes Real-World-Experiment mit Patienten – und Angehörigen – bezeichnen, die teilweise nach jedem therapeutischen Strohhalm greifen, und sei er noch so dünn.
Die Kernfrage: Was haben die Patienten von der Therapie?
Nun sind kontroverse Diskussionen über Studiendaten zu Antidementiva nicht neu und eher die Regel als die Ausnahme, wobei sich im aktuellen Fall von Aducanumab die Gelehrten allerdings eher einig zu sein scheinen. Zur Erinnerung: Auch bei den Acetylcholinesterase-Hemmern und beim Ginkgo-biloba-Extrakt hat es kontroverse Diskussionen gegeben, etwa zum Design der Studien, zur statistischen Signifikanz der Ergebnisse, zur Verträglichkeit und immer wieder auch zu der Kernfrage: Welche Bedeutung haben die mit unterschiedlichen Methoden gemessenen Effekte für die Patienten?
Das ist auch die zentrale Frage, um die es bei der Diskussion der Studien-Daten zu Aducanumab geht. Schon nach der Präsentation der relevanten Studien-Resultate vor 2 Jahren monierte der US-amerikanische Alzheimer-Forscher Professor Lon Schneider (Keck School of Medicine of the University of Southern California, Los Angeles) in Lancet Neurology : Es sei zum Beispiel unklar, welche klinische Relevanz der statistisch signifikante Effekt von 0,39 beim primären Endpunkt CDR-SB in der EMERGE-Studie habe.
Der kleinste für Patienten relevante Unterschied
Worum es Schneider hier im Kern geht, ist in der Terminologie der Wissenschaftler die so genannte MCID („minimum clinically important difference“), also der kleinste Unterschied bei Ergebnissen psychometrischer Tests, den Patienten (oder Angehörige, Pflegekräfte und Ärzte) als vorteilhaft – bei akzeptablen Nebenwirkungen – wahrnehmen.
Trotz ihrer Bedeutung für Patienten, Kostenträger und Wissenschaftler werde diese Größe in klinischen Studien mit Antidementiva nicht ausreichend berücksichtigt, monieren die Neurowissenschaftlerin Kathy Y. Liu (University College London) und ihre Mitautoren Lon Schneider sowie Robert Howard in The Lancet Psychiatry .
Die MCID zu ermitteln, ist bei Demenz-Erkrankten allerdings kein leichtes Unterfangen. Schließlich können sich Patienten bei stark fortgeschrittener Erkrankung nicht mehr so klar äußern, wie dies notwendig wäre. Außerdem handelt es sich um ein höchst subjektives Urteil: Was der eine Alzheimer-Kranke als relevant bezeichnet, ist für einen anderen Betroffenen möglicherweise ohne jede Bedeutung. Das gilt natürlich auch für Angehörige oder Pflegekräfte. Hinzukommt, dass Antworten auf die Frage, welcher Effekt eines Alzheimer-Wirkstoffes als klinisch relevant angesehen wird, auch von sozioökonomischen und kulturellen Faktoren abhängt - und sich zudem im Laufe der Zeit ändern kann.
Gleichwohl gibt es Ansätze, die MCID zu bestimmen. Autoren einer 2019 publizierten Studie zum Beispiel ermittelten die MCID mit Hilfe von so genannten ankerbasierten Ansätzen (Veränderungen des Ergebnisses in Verbindung mit der klinischen Meinung) und verteilungsbasierten Ansätzen (MCID-Kalibrierung basierend auf der Variation zwischen den Teilnehmern). Dieser Methode zufolge liegt eine klinisch bedeutsamer Effekt für Patienten mit leichter kognitiver Beeinträchtigung (mild cognitive impairment) und leichter Alzheimer-Erkrankung dann vor, wenn Unterschiede von 0,98 und 1,63 Punkten beim CDR-SB sowie 1,26 und 2,32 Punkte beim MMSE gemessen werden.
In Relation zu diesen Schwellenwerten ist das Ergebnis der Aducanumab-Studien eher ein Flop: Denn weder die CDR-SB-Differenz („Clinical Dementia Rating-Sum of Boxes“; CDR-SB-Score) mit -0-39 Punkten noch der MMSE mit 0,6 Punkten erreichten diese MCID-Schwellenwerte. Allerdings schneiden auch andere Wirkstoffe - gemessen an diesen MCID-Werten - nicht übermäßig überzeugend ab, wie ein Vergleich der Studiendaten durch Kathy Y. Liu und ihre Mitautoren zeigt:
Hoch dosiertes Aducanumab (EMERGE-Studie) bei MCI und Patienten mit leichter Alzheimer-Erkrankung: -0,39 (CDR-SB-Differenz) und plus 0,6 (MMSE-Differenz)
Donezepil (10 mg) bei leichter bis schwerer Erkrankung: -0,53 und plus 1,05
Solanezumab (EXPEDITION 3) bei leichter Erkrankung: -0,34 und plus 0,49
Donanemab bei MCI und leichter Erkrankung: -0,36 und plus 0,64.
Liu und ihre Kollegen betonen allerdings, dass es keine Goldstandard-Methode zur Bestimmung der MCID gebe; außerdem habe jede Methode Grenzen. Dennoch sollten Studien zu modernen Antidementiva Angaben zur MCID enthalten. Dies könnte die Klarheit und das Vertrauen in die Ergebnisse von solchen Studien erhöhen, was den Patienten, ihren Familien und Betreuern sowie den Gesundheitssystemen erheblich zugutekäme.
Außerdem könnte es behandelnden Ärzten die Antwort auf die Frage von Patienten und Angehörigen erleichtern, was denn diese oder jene neue Therapie ihnen tatsächlich nützt. Das Wissen um statistisch signifikante Effekte in psychometrischen Tests hilft in solchen Alltagssituationen kaum weiter.
Der Beitrag ist im Original erschienen auf Univadis.de.
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Diesen Artikel so zitieren: FDA lässt Aducanumab bei Alzheimer zu – Gutachter kehren der Behörde den Rücken. Profitieren Patienten wirklich? - Medscape - 13. Jul 2023.
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