Menschen mit tumorbedingter Fatigue stoßen in ihrem Umfeld und mitunter selbst in der Ärzteschaft auf wenig Verständnis: „Schlaf dich doch mal richtig aus“ oder „Machen Sie mal ein bisschen Sport“ seien in diesen Fällen übliche, aber wenig hilfreiche Empfehlungen, wie Dr. phil. Irene Fischer vom Vorstand der Deutschen Fatigue Gesellschaft bei einer Veranstaltung anlässlich der German Cancer Survivors Week betonte [1].

Dr. phil. Irene Fischer
„Die tumorbedingte Fatigue hat nichts mit der ‚normalen Müdigkeit‘ gesunder Menschen zu tun“, erklärte die Psychologin, die auch wissenschaftliche Leiterin des Gemeinschaftsprojektes „Tumor-Fatigue-Sprechstunde“ der Bayerischen Krebsgesellschaft (BKG) ist und 2013 das Institut für Tumor-Fatigue-Forschung gegründet hat.
Fischer beschrieb die tumorbedingte Fatigue vielmehr als eine anhaltende, starke, unübliche Müdigkeit einhergehend mit Erschöpfung und Energiemangel, die auch mit ausreichend Schlaf nicht besser wird.
Bis zu 80% der Tumorpatienten sind betroffen
Während der Tumortherapie sind bis zu 80% der Patienten von tumorbedingter Fatigue betroffen, nach Abschluss der Therapie sind es noch 20 bis 50%. Besteht sie nach Therapieende länger als 3 bis 6 Monate, spricht man von einer chronischen tumorbedingten Fatigue.
Allerdings könne eine tumorbedingte Fatigue auch noch Jahre nach der Therapie beginnen, ergänzte Fischer. In diesen Fällen hänge die Fatigue nicht unbedingt mit der Krebserkrankung zusammen, könnte unter Umständen aber eine Spätfolge der Krebstherapie sein.
Die tumorbedingte Fatigue ist sowohl für die Patienten als auch ihr soziales Umfeld sehr belastend. Wichtig sei, sich klar zu machen, dass tumorbedingte Fatigue eine gesundheitliche Störung ist. „Die Patienten bilden sich die ständige Müdigkeit nicht ein, und sie wollen sich auch nicht vor Arbeit drücken“, betonte Fischer.
Mögliche Ursachen für die Fatigue gibt es viele
Aus dem Namen unschwer abzulesen, sind Tumorerkrankung und Tumortherapie die Hauptursachen für die tumorbedingte Fatigue. „Aber anders als man oft denkt, sind es nicht nur die Tumorerkrankung und die Tumortherapie“, betonte Fischer.
Auch seelische Belastungen (Angst, Sorgen, Depressionen), andere Krankheiten (Herz, Lunge, Leber, Nieren), eingenommene Medikamente, mangelnde Fitness, Ernährungsdefizite, Schlafstörungen und chronische Schmerzen können eine Rolle spielen. Diskutiert wird auch eine gestörte Immunregulation, das Vorhandensein bestimmter Entzündungsfaktoren sowie Störungen des Mikrobioms.
Es wurde mittlerweile eine Reihe von Faktoren identifiziert, die die Entstehung einer tumorbedingten Fatigue begünstigen können. Dazu gehören zum Beispiel Depressionen, Einsamkeit, eine Neigung zur Katastrophisierung, geringe körperliche Fitness, frühkindliche Traumatisierung, Schlafstörungen, Übergewicht, mehr als 2 chronische Erkrankungen und finanzielle Sorgen.
Es ist Detektivarbeit erforderlich
Fischer erläuterte: „Meistens wirken mehrere Faktoren zusammen und führen zur gemeinsamen Endstrecke tumorbedingte Fatigue.“ Voraussetzung für eine effektive Hilfe sei deshalb „Detektivarbeit“, die auf gründlicher Diagnostik und aktivem Zuhören basiere.
Detektivarbeit, die in der normalen hausärztlichen oder onkologischen Sprechstunde oft schon aus Zeitgründen nicht geleistet werden kann. „Deshalb haben wir unsere Tumor-Fatigue-Sprechstunde ins Leben gerufen“, so Fischer. Denn bislang herrsche eine Diskrepanz zwischen Leitlinien und Versorgungspraxis. Das machte auch die vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) durchgeführte Fix-Studie noch einmal sehr deutlich.
In der Publikation von 2020 ist nachzulesen, dass 58% der mehr als 2.500 befragten Tumorpatienten sich schlecht über tumorbedingte Fatigue informiert fühlten. 41% berichteten, nie von einem Arzt auf Fatigue angesprochen worden zu sein. Nur 7% wurden auf tumorbedingte Fatigue gescreent.
Evaluationsstudie untersucht die Wirksamkeit
Ob eine Tumor-Fatigue-Sprechstunde für (ehemalige) Krebspatienten die Versorgungssituation der betroffenen Patienten verbessern kann, wird in einer begleitenden Evaluationsstudie noch bis Februar 2024 untersucht. „Bisher wird die Sprechstunde sehr gut angenommen“, sagt BKG-Präsident Prof. Dr. Günter Schlimok, der das Evaluationsprojekt leitet. „Es gibt auch bereits Zuweisungen von Hausärzten, Onkologen und Ärzten anderer Fachrichtungen. Mehr darüber werden wir nach Abschluss der der Datenanalyse wissen.“

Prof. Dr. Günter Schlimok
In der Tumor-Fatigue-Sprechstunde der BKG erfolgt zunächst eine gründliche Anamnese im Arzt-Patientengespräch. Zur Anwendung kommt dabei ein Fatigue-Anamnese-Leitfaden, der von der Deutschen Fatigue Gesellschaft entwickelt wurde.
Erfragt werden Symptome, Häufigkeit und Intensität der tumorbedingten Fatigue, damit einhergehende Beeinträchtigungen sowie Beginn und Verlauf der tumorbedingten Fatigue. Auch das Wissen um die Art der Tumorerkrankung, das Vorliegen weiterer Erkrankungen und die Einnahme von Medikamenten sind von Bedeutung für die Diagnose, ebenso wie die Lebensumstände der Patienten sowie bestehenden psychosoziale Belastungen.
Darüber hinaus kommen in der Spezial-Sprechstunde verschiedene Screening-Fragebögen zum Einsatz, u.a. um Depressionen auszuschließen. „Und wir nehmen Einsicht in mitgebrachte Befunde wie Arztbriefe oder Blutbild“, sagte Fischer. Denn eigene Untersuchungen dürfen die Ärztinnen und Ärzte der Fatigue-Sprechstunde nicht durchführen.
Aufklärung ist der erste wichtige Therapieschritt
Bestätigt sich in der Sprechstunde die Diagnose einer tumorbedingten Fatigue, besteht der erste wichtige Therapieschritt Fischer zufolge darin, die Patienten aufzuklären. Ist jemand nach der Tumortherapie ständig müde und stößt in der Umgebung zudem auf wenig Verständnis, ist die Angst oft groß: „Ist etwa der Krebs zurück?“ fragen sich viele Betroffenen in dieser Situation.
„Erklärt man den Patienten, dass der Grund für ihre ständige Müdigkeit eine tumorbedingte Fatigue ist und dass diese zwar sehr unangenehm, aber nicht gefährlich ist, empfinden die Betroffenen das oft als große Erleichterung“, berichtete Fischer.
Der zweite Therapieschritt – für den die Patientinnen und Patienten wieder zurück zu ihrem Hausarzt oder Onkologen geschickt werden – ist die kausale Therapie von möglichen Ursachen und Einflussfaktoren. „Vielleicht ist es möglich, ein müdemachendes Medikament gegen eine Alternative auszutauschen oder die Schilddrüse besser einzustellen“, nannte Fischer 2 Beispiele.
Behandlung von Ursachen – oder Symptomen
Bringt die kausale Therapie keine oder nicht ausreichend Linderung, bleibt als letzter bzw. ergänzender Therapieschritt die symptomatische Behandlung der Müdigkeit. In Studien Wirkung gezeigt haben laut Fischer:
körperliche Aktivität (Ausdauer- und Krafttraining),
psychosoziale Therapie (Energiemanagement, psychoonkologische Begleitung, kognitive Verhaltenstherapie) sowie
Mind-Body-Praktiken wie Qigong, Yoga, Tai Chi oder Achtsamkeitsmeditation.
Aber auch die richtige Ernährung kann zur Besserung der tumorbedingten Fatigue beitragen: Besonders empfehlenswert sei die Fatigue Reduction Diet, die von Wissenschaftlern der University of Michigan entwickelt wurde. „Das ist im Grunde gesunde Ernährung, wie man sie kennt: viel Obst und Gemüse, Vollkornprodukte, Fisch für die Omega-3-Fettsäuren und gute Öle“, fasste Fischer die Ernährungsweise zusammen.
Zugelassene Medikamente für die Behandlung von tumorbedingter Fatigue gibt es nicht. Aber es gibt Medikamente, für die in Studien gezeigt wurde, dass sie tumorbedingte Fatigue lindern können. Beispiele sind Methylphenidat, Dexamethason und Ginseng-Präparate. Da diese Studien allerdings zu widersprüchlichen Ergebnissen kamen, „wird in Leitlinien und Übersichtsarbeiten empfohlen, Medikamente nur einzusetzen, wenn anderen Maßnahmen nicht ausreichend wirksam sind und nichts dagegenspricht“, betonte Fischer.
Ein Modell für ganz Deutschland?
Die Fatigue-Expertin hofft, dass das Projekt Modellcharakter auch für andere Bundesländer haben wird. Die in mehreren bayerischen Städten angebotene Tumor-Fatigue-Sprechstunde der BKG steht nämlich derzeit tatsächlich nur (ehemaligen) Tumorpatienten offen, die in Bayern wohnen.
In anderen Bundesländern gibt es nur vereinzelt Anlaufstellen für Patienten mit tumorbedingter Fatigue, etwa an der Charité in Berlin. Darüber hinaus gibt es telefonische Beratungsmöglichkeiten für Betroffene, z.B. durch die Deutsche Fatigue Gesellschaft und den Krebsinformationsdienst.
„Ganz neu ist, dass der Onkologische Arbeitskreis Walsrode (Niedersachsen) seit Juni 2023 eine Tumor-Fatigue-Sprechstunde anbietet, die an unserer Sprechstunde orientiert ist“, berichtet Schlimok.
„Patienten aus anderen Bundesländern würden wir empfehlen, sich an einen Psychoonkologen bzw. an die Landeskrebsgesellschaft im jeweiligen Bundesland zu wenden, in der Hoffnung, dass man dort jemanden hat oder kennt, der Fatigue-Patienten gut betreuen kann. Die Situation ist verglichen mit vor einigen Jahren auf jeden Fall besser geworden“, so Schlimok.
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Photographer: © Agenturfotografin
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Medscape Nachrichten © 2023
Diesen Artikel so zitieren: Nach Tumortherapie müde und erschöpft – niemand hat Verständnis? Spezialsprechstunde hilft bei tumorbedingter Fatigue - Medscape - 21. Jun 2023.
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