EU-Kommission veröffentlicht Leitlinie zum Schutz von medizinischem Personal vor gefährlichen Arzneimitteln

Miriam Davis

Interessenkonflikte

21. Juni 2023

Als Reaktion auf ein Problem, das zunehmend medizinisches Personal betrifft, veröffentlichte die Europäische Kommission eine Leitlinie. Sie enthält praktische Schritte, um die Exposition während der Herstellung, des Transports, der Verabreichung, der Lagerung und der Entsorgung von medizinischen Gefahrenquellen zu vermeiden. Dazu gehören vor allen Medikamente [1]

Berufliche Exposition kann zu Krebs oder zu Fehlgeburten führen

Laut einer in der Leitlinie zitierten Studie aus dem Jahr 2021 verursacht die berufsbedingte Exposition gegenüber gefährlichen Arzneimitteln schätzungsweise fast 70 Brustkrebsfälle oder Fälle hämatopoetischer Krebserkrankungen pro Jahr. Die Studie prognostiziert bis 2070 einen Anstieg der Fallzahlen für Brustkrebs und hämatopoetische Krebserkrankungen sowie nahezu eine Verdoppelung der aktuellen Rate von 1.300 Fehlgeburten pro Jahr.

Gefährliche Arzneimittel sind solche, die karzinogen, mutagen und/oder toxisch für das Fortpflanzungssystem sind, basierend auf starken Belegen aus Studien beim Menschen oder bei Tieren. Die häufigsten therapeutischen Arzneimittelklassen, für die diese Kriterien gelten, sind Antineoplastika, Immunsuppressiva und Antiviralia, die zur Anwendung in der Human- oder Veterinärmedizin bestimmt sind.  

Die Exposition des Personals erfolgt am häufigsten über die Haut – andere Wege können jedoch ebenso von Bedeutung sein, wie z. B. durch Einatmen oder Verschlucken.

Gefahren während des gesamten Lebenszyklus eines Medikaments

Grundlage für diese neue, nicht bindende Leitlinie bildeten mehrere EU-Richtlinien und -Vorschriften, insbesondere der Strategische Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2021–2027. Die rund 200 Seiten der Leitlinie decken den „Lebenszyklus“ gefährlicher Arzneimittel und der damit verbundenen Expositionsgefahren ab – von der Herstellung bis hin zur Entsorgung im Feststoffabfall oder im Abwasser. 

Die Anleitung sei für „jeden Mitarbeiter bestimmt, der mit einem gefährlichen Medikament in Kontakt kommt“, heißt es darin. Es sind mindestens 25 unterschiedliche Arbeitskategorien aufgeführt – von Apothekern über Krankenpflegekräfte, Ärzte und anderes medizinisches Personal bis hin zu Mitarbeitern in Leichenhallen und Wäschereiarbeitern. 

Die Ziele, die mit der Leitlinie verfolgt werden, sind vielfältig. In erster Linie geht es darum, das Bewusstsein für Gefahren zu schärfen und die Praktiken zu verbessern, die die Exposition des Personals reduzieren. Zudem sollen die Gute-Praxis-Verfahren in den europäischen Mitgliedsstaaten harmonisiert werden. 

Eine der Tabellen in dem Bericht enthält Links zu existierenden Listen und Datenbanken, die von Regulierungsbehörden erstellt wurden und Dutzende von Gefahren in ganz Europa oder in bestimmten Ländern abdecken. So erfahren Fachkräfte, dass weit verbreitete Arzneimittel wie Tamoxifen zur Behandlung von Brustkrebs und Azathioprin, ein Immunsuppressivum, bekanntermaßen krebserregend sind. 

Weniger bekannte Gefahren stellen die Reproduktionstoxine Divalproex-Natrium (ein Antiepileptikum, das in der Psychiatrie eingesetzt wird) und das urologische Medikament Dutasterid (das bei gutartiger Hypertrophie der Prostata verwendet wird) dar.

Umsetzung der Leitlinie in die Praxis

Doch woher wissen medizinische Fachkräfte, ob ein Arzneimittel gefährlich ist? In der Leitlinie werden mehrere Methoden genannt: 

  • Prüfung der bestehenden Listen und Datenbanken, 

  • Prüfung des Warnhinweises auf einem Produktetikett, 

  • Durchsicht des Sicherheitsdatenblatts,

  • Lektüre von Zusammenfassungen der Eigenschaften eines Produkts.

Im Leitfaden unbeantwortet bleibt die Frage: Was ist zu tun, wenn eine Gefahr für Mensch oder Tier noch nicht bekannt ist? 

Hinweise für den Arbeitsplatz

Der Leitfaden betont die Bedeutung einer sicheren Arbeitsumgebung. Er richtet sich in 1. Linie an den Arbeitgeber, der für die Sicherstellung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Mitarbeiter verantwortlich ist. Dem Arbeitgeber wird empfohlen, ein ausreichendes Budget für Aktivitäten zur Risikominderung bereitzustellen und spezifische Ziele für die Überwachung festzulegen.  

Der Leitfaden empfiehlt Arbeitgebern beispielsweise, eine Risikoüberprüfung aller neuen und ausscheidenden Mitarbeiter durchzuführen. Die Überprüfung sollte bei Mitarbeitern, die als stark gefährdet gelten, 1-mal pro Jahr, bei Mitarbeitern mit mittlerem Risiko alle 2 Jahre und bei Mitarbeitern mit geringem Risiko alle 3 Jahre durchgeführt werden. 

Arbeitgeber sollten auch dafür sorgen, dass für den Fall, dass gefährliche Arzneimittel verschüttet werden, stets ein Notfall- und Reinigungsset vorhanden ist, einschließlich der Bereitstellung von tragbaren Notfall- und Reinigungssets für Arzneimittel, die außerhalb des Arbeitsplatzes verabreicht werden, z. B. durch eine Krankenpflegekraft, die Hausbesuche macht. 

Wenn gefährliche Arzneimittel per Injektion verabreicht werden, sollten Arbeitgeber die Exposition des Personals minimieren, indem sie ein Luer-Lock-System bereitstellen, bei dem die Nadel in die Spritze eingeführt und verdreht wird, um eine verriegelte Verbindung herzustellen. Bei der Applikation von gefährlichen Medikamenten, die fliegende Partikel, Staub oder Aerosole freisetzen können, wird ein Augen- und Gesichtsschutz empfohlen. Das sorgfältige Risikomanagement erstreckt sich auch auf die Entsorgung der Ausscheidungen (Urin, Stuhl, Erbrochenes und Schweiß) und des Blutes von Patienten bis zu 7–14 Tage nach der Verabreichung.

Nicht nur auf Unfälle reagieren

Dem Arbeitgeber wird auch dringend empfohlen, eine arbeitsplatzweite Sicherheitskultur zu schaffen, die proaktiv statt reaktiv ist. Eine Sicherheitskultur betont beispielsweise Hygienemaßnahmen wie das Vermeiden von Lebensmitteln, Getränken, Zigaretten, Schmuck, Medikamenten für den persönlichen Gebrauch oder das Kauen von Kaugummi an Arbeitsplätzen, die gefährlichen Arzneimitteln ausgesetzt sind.

Der Leitfaden rät Arbeitgebern, die Verantwortung für die Risikobewertung jeder medizinischen Gefahr zu übernehmen. „Risikobewertung“ ist ein weit gefasster Begriff, der in diesem Rahmen die Schulung der Mitarbeiter, die Expositionsbeurteilung (durch Überprüfung am Arbeitsplatz oder durch Biomonitoring), die Gesundheitsüberwachung sowie die Maßnahmen zum Risikomanagement umfasst. Diese Funktionen sind im Allgemeinen gesetzlich vorgeschrieben, die Gesetze sind jedoch von Land zu Land unterschiedlich. Die Einhaltung der Leitlinie ist freiwillig.

Maßnahmen zum Schutz sind unterschiedlich effektiv

Die Beispiele für das Verhindern einer Exposition durch das Risikomanagement am Arbeitsplatz reichen von am effektivsten bis am wenigsten effektiv. Am effektivsten ist die physische Entfernung der Gefahr vom Arbeitsplatz, während die Verwendung persönlicher Schutzausrüstungen als der am wenigsten wirksame Ansatz angeführt wird, weil er keine Risikominderung an der Quelle selbst – dem Produkt – beinhaltet. 

Die Leitlinie unterstreicht, dass eine physische Entfernung angesichts des Bedarfs der Patienten möglicherweise technisch nicht umsetzbar ist. Sie fordert die Arbeitgeber jedoch dringend dazu auf, die Exposition des Personals so stark wie möglich zu minimieren, z. B. durch die Verwendung eines geschlossenen Systems wie einer Luer-Lock-Injektionsspritze zur Verabreichung gefährlicher Arzneimittel. 

Die Leitlinie empfiehlt zudem, die Verabreichung gefährlicher Medikamente auf einen speziellen Bereich zu beschränken und von entsprechend geschulten und über die Gesundheitsrisiken aufgeklärten Mitarbeitern durchführen zu lassen.

Wer am stärksten gefährdet ist

Am stärksten gefährdet sind männliche und weibliche Mitarbeiter, die eine Familiengründung in Betracht ziehen, schwangere oder stillende Mitarbeiterinnen und junge Mitarbeiter.

Der Beitrag ist im Original erschienen auf Univadis.de.

 

Kommentar

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