Patienten können auch nach der Genesung von COVID-19 eine Vielzahl an neuropsychiatrischen Symptomen entwickeln. Diese erfordern eine erhöhte Aufmerksamkeit von Ärzten der Neurologie und Psychiatrie. Das zeigt auch ein Patientenfall, der kürzlich veröffentlicht worden ist [1].
Der Patient und seine Geschichte
Ein Mann (Mitte 40) wird mit schwerem COVId-19 stationär behandelt. Zu diesem Zeitpunkt lagen gibt es keine psychologischen Auffälligkeiten.
Kurze Zeit nach der Entlassung aus der stationären Therapie fährt seine Frau mit ihm in das Krankenhaus und berichtete über Wesensveränderungen. Sein gestörtes Sexualverhalten äußerte sich, indem er etwa in der Nacht sexuell mit seiner Frau aktiv werden wollte, bevor er sich an die Anwesenheit der gemeinsamen Tochter erinnerte. Zudem masturbierte er tagsüber, obwohl ihn seine Frau davon abzuhalten versuchte. Im Wartezimmer der Notaufnahme tätigte er dann falsche Aussagen, wie „ich wurde gerufen“ und „jemand kam aus dem Untersuchungsraum“. Die Ärzte vermuteten bei ihm Halluzinationen und Wahnvorstellungen.
Bei der Einlieferung überprüft seine Frau sein Smartphone und stellt fest, dass er mehrfach nach sexuellen Inhalten gegoogelt und versucht hat, ein Auto zu kaufen.
Körperliche und apparative Untersuchungen
Das gesteigerte sexuelle Verlangen und der Wunsch, Dinge zu erwerben, legten eine Manie nahe. Jedoch fluktuiert die Symptomatik im Tagesverlauf.
Der Patient leidet an visuellen Halluzinationen, Enthemmung und Desorientierung, ohne, dass andere neurologische Befunde als die Myerson-Zeichen zu beobachten sind. Beim Myerson-Zeichen kann der Patient bei wiederholtem Tippen auf die Glabella, dem Bereich zwischen den Augenbrauen, nicht aufhören zu blinzeln. Die Ärzte vermuteten daher eine Enzephalopathie.
Sowohl Blutuntersuchung als auch kraniale Computertomografie (CT) sind unauffällig. Seine Zerebrospinalflüssigkeit (CSF) wird mittels Polymerase-Kettenreaktion (PCR) positiv auf SARS-CoV-2 getestet. Die kraniale Magnetresonanztomografie (MRT) ist unauffällig aus. Eine Single-Photon-Emissions-Computertomografie (SPECT) ergab ergibt einen erhöhten Blutfluss im Thalamus, in der Septumregion und im posterioren Gyrus cinguli.
Am 1. Tag des Krankenhausaufenthalts masturbiert der Patient während der Untersuchung ständig. Neben der sexuellen Enthemmung kommen Wortfindungs- und Aufmerksamkeitsstörungen, Beeinträchtigungen des Kurzzeitgedächtnisses sowie Dysgrafie hinzu.
Der Patient absolviert folgende kognitive Tests:
Mini-Mental-Status-Test (MMSE): 29/30 Punkte
Montreal Cognitive Assessment-Test (MoCA): 22/30 Punkte
Frontal Assessment Battery (FAB): 17/18 Punkte
Hasegawa Dementia Scale-Revised (HDS-R): 27/30 Punkte
Diagnose und Therapie
Wegen des Verdachts auf eine postakute COVID-19-Enzephalitis beginnen Ärzte mit einer Steroidinfusion. Der Patient erhält 1 g Methylprednisolon über 3 Tage, gefolgt von einer Nachbehandlung mit 60 mg oralem Prednisolon, wobei die Dosis wöchentlich um 10 mg verringert wird.
Am 3. Tag im Krankenhaus kann der Patient nachts wieder schlafen und hört auf, in Gegenwart anderer zu masturbieren.
Ab Tag 7 erhält er intravenöse Immunglobuline (IVIg) über 3 Tage. Nach einigen Tagen kann der Patient seine Impulse wieder besser kontrollieren; auch seine Sprache bessert sich.
Am Tag 22 verabreichten Ärzte aufgrund eines vermuteten Deliriums 2 mg Risperidon. Der Zustand des Patienten bessert sich allmählich, als die Steroiddosis auf 30 mg reduziert wird und weiterhin um 5 mg alle 3 Tage gesenkt wird.
Die Enthemmung ist behoben; eine normale Konversation gelingt wieder und die SPECT-Befunde sowie die psychologischen Testergebnisse verbessern sich. Die MMSE-, MoCA-, FAB- und HDS-R-Werte liegen nun bei 29/30, 29/30, 18/18 bzw. 28/30 Punkten.
Der Patient wird am 52. Tag entlassen. Nach der Entlassung steigt der MMSE-Wert auf 30 Punkte. Auch die SPECT-Befunde bessern sich.
Hier finden Sie den zeitlichen Verlauf der Symptome und der Behandlung.
Diskussion
Die Ärzte vermuteten eine Enzephalitis aufgrund einer direkten SARS-CoV-2-Infektion des Gehirns. Eine autoimmune paraneoplastische oder postinfektiöse Hirnstammenzephalitis nach Virusabbau können sie jedoch nicht ausschließen.
Die psychiatrische Diagnose lautete organische Katatonie in Verbindung mit einer Post-COVID-19-Enzephalopathie. Die Symptome des Patienten bessern sich unter der Behandlung, sodass sein Zustand schließlich auf das Ausgangsniveau zurückgeht.
In der Literatur sind mehrere Fälle von Erstmanie und Delirium nach COVID-19 verzeichnet, und in systematischen Übersichten stellten Wissenschaftler fest, dass die Auswirkungen von COVID-19 unterschätzt würden. Im vorliegenden Fall ist eine Steroidpsychose unwahrscheinlich, da die Steroiddosis nach einigen Tagen reduziert wird.
Der Patient zeigte katatonische Symptome wie Verleugnung, Gleichgültigkeit, katatonische Körperhaltung und sexuell abweichendes Verhalten. Mittlerweile gibt es einige Berichte zu COVID-19-bedingten Delirium-Symptomen bei Menschen ohne bipolare Störung in der Vorgeschichte. Die Autoren des Fallberichts vermuteten hier ein klinisches Syndrom, das charakterisiert ist durch einen fluktuierenden Verlauf mit katatonischen und manischen Merkmalen. Dabei schränkten sie den Kreis der möglichen Diagnosen auf eine Enzephalopathie im Rahmen eines post-akuten COVID-19-Syndroms mit Manie ein.
Patienten mit COVID-19-bedingtem Delirium entwickeln in der Regel eine Enzephalopathie aufgrund des Zytokinsturms. Dieser Zytokinsturm kann zu Neuroinflammation, Endothelzellaktivierung und Beeinträchtigung der Blut-Hirn-Schranke führen. Dies triggert neuroinflammatorische Prozesse, die zur Aktivierung von Mikroglia und Astrozyten führt und sowohl Zytokinproduktion, oxidativen Stress und Immunzellrekrutierung als auch die Beeinträchtigung der Blut-Hirn-Schranke weiter fördern – ein Teufelskreis.
Erhöhte Interleukin (IL)-6-Werte lassen sich in Serumproben von Patienten mit COVID-19 und Delirium nachgewiesen, nicht aber bei Menschen mit COVID-19 ohne Delirium. Bei dem vorliegenden Fall finden sie ebenfalls erhöhte IL-12- und IL-13-Spiegel. Die starke Produktion von entzündungsfördernden Zytokinen kann eine systemische Entzündung und Neuroinflammation nach sich ziehen, da bestimmte Immunzellen, Zytokine sowie Antikörper in das Gehirnparenchym wandern.
Die COVID-19-bedingte Enzephalopathie beeinträchtigt die mikrogliale Signalübertragung, die Aktivierung von Astrozyten und die exzitatorischen neuronalen Synapsen, was dann zu neurogenen Störungen führen kann.
Der Patient in diesem Fall erhält eine Steroidtherapie, eine IVIg-Therapie sowie Antipsychotika. Er spricht gut auf die Behandlung an und erholt sich. Dies deute darauf hin, dass die für eine bipolare Störung nach COVID-19 typischen psychotischen Symptome mit einem post-akuten Covid-19-Syndrom (PACS) in Verbindung stehen könnten, spekulieren die Autoren.
Im Fall des Patienten führt der Krankheitsverlauf zur Diagnose eines PACS mit Psychose in Zusammenhang mit einer post-akuten COVID-19-Enzephalopathie. Überraschenderweise wird die COVID-19-Enzephalitis nicht nur durch direkte Hirnverletzungen verursacht, sondern es kann auch eine autoimmune, paraneoplastische oder postinfektiöse Enzephalitis nach der viralen Clearance auftreten.
Bekannt ist, dass PACS innerhalb von 4-12 Wochen nach Ausbruch von COVID-19 zu Delirium, Hirnnebel und Depression führen kann. Im Gegensatz zum Delirium, welches klar mit COVID-19 in Verbindung stehe, werde die Enzephalopathie aufgrund fehlender Tests oft übersehen, so die Autoren.
Der Beitrag ist im Original erschienen auf Coliquio.de.
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Diesen Artikel so zitieren: Fall: Ein Mann mit unangemessenem Sexualverhalten und Sprachstörungen nach COVID-19 – wie hängt das zusammen? - Medscape - 15. Jun 2023.
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