Chicago – Der oral applizierbare IDH1/2-Hemmer Vorasidenib senkte bei Patienten mit einem IDH1/2-mutierten Gliom vom Grad 2 das Risiko für eine Progression signifikant um 61% im Vergleich zu Placebo und verlängert signifikant die Zeitspanne, bis eine weitere Behandlung erforderlich wird.
Die Substanz erwies sich als gut verträglich, am häufigsten wurden Transaminasen-Erhöhungen beobachtet. Mit Vorasidenib konnte in der Phase-3-Studie INDIGO damit nach mehr als 20 Jahren erstmals ein großer Fortschritt in der Behandlung von niedrigmalignen Gliomen erreicht werden.
Prof. Dr. Ingo Mellinghoff, Memorial Sloan Kettering Cancer Center, New York, hat diese viel beachteten Ergebnisse in der Plenarsitzung bei der Jahrestagung der American Society of Clinical Oncology (ASCO) 2023 vorgestellt und parallel im New England Journal of Medicine publiziert [1,2].
„Die potenzielle Zulassung von Vorasidenib bei IDH-mutiertem Gliom könnte den Einsatz aggressiverer Therapien verzögern und einen Paradigmenwechsel bei dieser Krankheit bedeuten“, sagte der Neuroonkologe. „Es ist wirklich ein wichtiger Schritt hin zu einer weniger toxischen und präziseren Krebstherapie für diese jungen Patienten.“
Auch Diskutant PD Dr. Rimas Vincas Lukas, Northwestern University, Chicago, ist der Meinung, dass sich mit diesen Ergebnissen Vorasidenib als ein neuer Standard für diese Patienten etabliert hat. „Das ist eine wirklich beeindruckende Leistung. Im Großen und Ganzen wird Vorasidenib unsere klinische Praxis verändern und wird eine fantastische Ergänzung unseres therapeutischen Armamentariums für Patienten mit niedriggradigen Gliomen sein.“
Gliome und ihre bisherige Behandlung
Gliome sind die häufigsten malignen Hirntumoren bei Erwachsenen. Bei fast allen diffusen Gliomen vom Grad 2 liegen Mutationen in den Genen vor, die für Isocitratdehydrogenase 1 und 2 (IDH1, IDH2) kodieren.
Das mutierte Enzym katalysiert die Bildung von 2-Hydroxyglutarat (2-HG), das sich im Gliomgewebe ansammelt und dort verschiedene Stoffwechselvorgänge hemmt. Hierdurch kommt es zu Veränderungen z.B. der DNA-Hydroxymethylierung, der Genexpression, der Zelldifferenzierung und der Mikroumgebung des Tumors.
Gliome mit IDH1- oder IDH2-Mutationen werden nach der aktuellen WHO-Klassifikation als Oligodendrogliome definiert, wenn sie eine 1p/19q-Kodeletion aufweisen. Ohne diese Kodeletion werden sie als Astrozytome bezeichnet.
IDH-mutierte Grad-2-Oligodendrogliome und Astrozytome wachsen langsam, aber kontinuierlich, sie infiltrieren normales Hirngewebe und werden schließlich zu aggressiven Tumoren mit beschleunigtem Tumorwachstum und Neovaskularisation.
Eine kombinierte Strahlen- und Chemotherapie ist bei IDH-mutierten Gliomen vom Grad 3 und von Grad 2 bei hohem Progressionsrisiko derzeit Standard. Sie geht allerdings mit toxischen Wirkungen einher, die die meist jungen Patienten erheblich belasten können. Daher wird häufig zunächst eine Watch-and-Wait-Strategie gewählt, bei der die Patienten regelmäßig überwacht werden.
IDH1/2-Hemmer Vorasidenib
Vorasidenib hemmt IDH1 und IDH2. Es wurde speziell so entwickelt, dass es die Blut-Hirn-Schranke überwinden und ins ZNS penetrieren kann. Als Folge der Enzymhemmung wird in Gliomen weniger 2-Hydroxyglutarat (2-HG) gebildet.
Die Senkung der 2-HG-Spiegel geht mit einer verminderten Tumorzell-Proliferation, einer Umkehrung von Mutations-assoziierten Genexpressions-Programmen, einer Erhöhung von DNA-5-Hydroxy-Methylcytosin und einer Erhöhung von Tumor-infiltrierenden Lymphozyten einher [3].
INDIGO: Vorasidenib versus Placebo in der Beobachtungsphase
In der von Servier finanzierten, randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten Phase-3-Studie INDIGO (Investigating Vorasidenib in Glioma) wurden Wirksamkeit und Sicherheit der täglichen Gabe von 40 mg Vorasidenib bei Patienten mit IDH1/2-mutierten Oligodendrogliom oder Astrozytom Grad 2 untersucht.
Aufgenommen wurden Patienten ab einem Alter von 12 Jahren, die zuvor operiert sein durften. Außerdem bestand kein unmittelbarer Bedarf für eine Chemotherapie oder Bestrahlung. Sie wurden nach 1p/19q-Status und Tumorgröße zum Ausgangspunkt stratifiziert.
„Die INDIGO-Studie konzentrierte sich auf Patienten, die sich vor Beginn der Bestrahlung und Chemotherapie in der Beobachtungs- und Wartephase befanden. Dieses Zeitfenster der Krankheit ermöglichte es uns, eine Placebo-kontrollierte Einzelwirkstoffstudie durchzuführen und ein sehr klares Signal der Arzneimittelaktivität zu identifizieren. Das ist ein völlig anderes Design als die meisten aktuellen Studien zu Gliomen, die sich auf das Krankheitsbild wiederkehrender Erkrankungen oder auf Kombinationen mit etablierten Therapien konzentrieren“, erläuterte Mellinghoff.
Randomisiert erhielten 168 Patienten täglich 40 mg Vorasidenib oral, 163 Patienten Placebo. Bei bestätigter Progression war eine Entblindung und Cross-over aus der Placebo- in die Verumgruppe erlaubt.
Primärer Endpunkt war das progressionsfreie Überleben (PFS), wichtiger sekundärer Endpunkt die Zeit von der Randomisierung bis zum Beginn einer weiteren Antitumor-Therapie oder bis zum Tod (TTNI).
Bei der 2. vordefinierten Zwischenanalyse nach etwa 123 PFS-Ereignissen im September 2022 hatte die Studie den primären Endpunkt erreicht, sie wurde damit zur finalen Analyse.
In 77 Zentren in 10 Ländern waren die Patienten in der Vorasidenib-Gruppe im Median 14,0 Monate, in der Placebo-Gruppe 14,3 Monate nachbeobachtet worden. Aus der Placebo-Gruppe hatten 52 Patienten (31,9%) in die Vorasidenib-Gruppe gewechselt.
Das mediane Alter der Patienten lag bei etwa 40 Jahren. 52% hatten ein Oligodendrogliom und 48% ein Astrozytom. Im Mittel hatte es von der letzten Operation bis zur Randomisierung 2,4 Jahre gedauert.
Progressionsrisiko um 61% gesenkt
Im Vorasidenib-Arm betrug das mediane PFS 27,7 Monaten, im Placebo-Arm 11,1 Monate, das Progressionsrisiko wurde damit um 61% gesenkt (HR: 0,39; p = 0,000000067). Dieser Effekt auf das PFS war in allen Subgruppen konsistent und war z.B. unabhängig von der Zeit seit der letzten Operation, von der Zahl der Eingriffe und vom Vorliegen einer 1p/19q-Kodeletion.
Die Zeit bis zur nächsten Antitumor-Therapie wurde durch Vorasidenib signifikant verlängert. Der mediane TTNI-Wert ist mir Vorasidenib noch nicht erreicht, unter Placebo betrug er 17,8 Monate (HR: 0,86; p = 0,000000019). Die Wahrscheinlichkeit, innerhalb von 24 Monaten keine weitere Behandlung zu benötigen, betrug unter Vorasidenib 83,4%, unter Placebo 27,0%.
Mellinghoff betonte, dass dies für die meist jüngeren Patienten von großer Bedeutung sei. Sie seien ansonsten gesund und wollten trotz der Diagnose ein normales Leben führen, aktiv bleiben, arbeiten und für ihre Familien da sein.
Bei 38 Patienten (22,8%) in der Vorasidenib-Gruppe und bei 22 (13,5%) in der Placebo-Gruppe wurden Nebenwirkungen vom Schweregrad ≥ 3 registriert. Mit Vorasidenib waren Transaminasen-Anstiege am häufigsten. Sie sind nach Aussage von Mellinghoff reversibel.
Diskutant Lukas hofft, dass nach längerer Follow-up-Zeit noch Daten zur Wirkung auf das Gesamtüberleben vorliegen werden. Dies sei jedoch ein schwieriger Endpunkt, weil die Patienten glücklicherweise lange lebten.
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Diesen Artikel so zitieren: Hirntumor ausgebremst: Neue Vorasidenib-Tablette senkt Progressionsrisiko eines Glioms deutlich – ein „Paradigmenwechsel“? - Medscape - 6. Jun 2023.
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