Die Entscheidung für eine Bluthochdrucktherapie sollte nicht allein von den Messergebnissen in der Arztpraxis abhängig gemacht werden. Das ist das Fazit einer Übersicht von Rita Rubin, die im JAMA erschienen ist [1].
Starke Blutdruckschwankungen von Arztbesuch zu Arztbesuch
Eine Kohortenstudie aus den USA mit mehr als einer halben Million Erwachsenen und mehr als 7,7 Millionen Blutdruckmessungen zeigt, wie stark der Blutdruck von Arztbesuch zu Arztbesuch schwanken kann. „Die Ergebnisse „stellen die Art und Weise, wie wir Blutdruck messen und was wir daraus ableiten, infrage“, sagt der Hauptautor Dr. Harlan Krumholz, ein Kardiologe, der das Center for Outcomes Research and Evaluation an der Yale University leitet.
Krumholz und Kollegen hatten herausgefunden, dass die durchschnittliche absolute Veränderung zwischen 2 aufeinanderfolgenden Blutdruckmessungen beim Arzt etwa 12 mmHg betrug. Das ist höher als die typische Senkung durch blutdrucksenkende Medikamente. „Es ist schon bemerkenswert, dass es keine Patientenuntergruppe mit einer außergewöhnlich geringen Blutdruck-Variabilität gab“, schreiben die Autoren.
Verordnungen oft nach einmaliger Messung
Krumholz Einschätzung nach legen die Ergebnisse der Studie nahe, dass die hohe Variabilität Ärzte dazu verleiten könne, unnötigerweise blutdrucksenkende Medikamente zu verschreiben oder deren Dosis zu erhöhen.
Denn obwohl die US Preventive Services Task Force und das American College of Cardiology (ACC) und die American Heart Association (AHA) davon abraten, „ist für die meisten von uns die Blutdruckmessung in der Praxis immer noch die wichtigste Information“, sagt Krumholz.
Seiner Einschätzung nach ist das problematisch, denn: Indem „wir uns auf die Messung in der Praxis verlassen, reagieren wir möglicherweise eher auf das Rauschen als auf das Signal“, fügt er hinzu.
Ein kürzlich in JAMA Network Open veröffentlichter Forschungsbericht stützt Krumholz' Einschätzung, dass sich Ärzte und Patienten zu sehr auf die eine Blutdruckmessung in der Arztpraxis verlassen. In einer landesweit repräsentativen Stichprobe von Erwachsenen im Alter von 50 bis 80 Jahren stellten die Autoren fest, dass nur 47,9% der Befragten mit Bluthochdruck angaben, ihren Blutdruck regelmäßig zu kontrollieren – obwohl 61,6% bestätigten, dass ihre Ärzte ihnen dazu geraten hatten.
DEGAM: 24-Stunden-Blutdruckmessung ist der Goldstandard
„Dass der Blutdruck stark schwankt und dass eine Messung allein keine ausreichende Grundlage für eine Therapieentscheidung ist, ist nichts Neues“, sagt Prof. Dr. Jean-François Chenot von der Abteilung Allgemeinmedizin der Universität Greifswald und Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM).
Die DEGAM-Leitlinie Kardiovaskuläre Prävention (die gerade überabeitet wird) empfiehlt deshalb – übereinstimmend mit internationalen Leitlinien – dass mindestens 3 unabhängige Messungen durchgeführt werden sollten, so Chenot gegenüber Medscape.
Weil auch das Problem der „Praxishypertonie durch Aufregung“ nicht neu ist, wird in der Nationalen VersorgungsLeitlinie Hypertonie empfohlen, Praxismessungen entweder durch Messungen zuhause oder durch 24-h-Blutdruckmessungen zu ergänzen.
„Die 24-Stunden-Blutdruckmessung kann als Goldstandard aufgefasst werden, sie ist aber für Patientinnen und Patienten aufwändig, da sie mehrmals in die Praxis kommen müssen. Außerdem wird auch nachts gemessen, was von manchen als störend empfunden wird“, erklärt Chenot und fügt hinzu: „Da Bluthochdruck in der Regel kein Notfall ist und die Messung ungefährlich und ohne hohe Kosten wiederholt werden kann, sollten möglichst viele Messungen die Grundlage für Therapieentscheidung bilden.“
Während die ambulante Blutdrucküberwachung (ABPM) über 24 Stunden in Ländern wie Deutschland oder der Schweiz bei Verdacht auf Bluthochdruck von den Kassen erstattet wird, sieht das in den USA anders aus: ABPM ist „derzeit für viele Patienten in den USA nicht zugänglich“, sagt Krumholz.
Schlechtes Blutdruckmessen: Eine Frage der Standardisierung
Bleibt zur Unterstützung der Diagnostik die häusliche Blutdrucküberwachung. Die erfordert, dass die Patienten eine gutsitzende Manschette kaufen und sie mehrmals pro Woche selbst benutzen. Dr. Paul Drawz, Nieren- und Hochdruckspezialist an der University of Minnesota Medical School, USA, bittet seine Patienten, eine Woche lang täglich 2 Blutdruckmessungen am Morgen und 2 am Abend vor ihrem Termin vorzunehmen, um verlässliche Werte zu erhalten.
Prof. Dr. Franz Messerli, Kardiologe an der Universität Bern, nennt 2 Hauptgründe für die Variabilität der Messungen: „Der Blutdruck schwankt von Herzschlag zu Herzschlag, von Winter zu Sommer, von Sitzen zu Stehen.“
Messerli sagt aber auch: „Ärzte messen den Blutdruck schlecht“ – eine Tatsache, die mindestens seit 1990 immer wieder dokumentiert werde. Es helfe, den Blutdruck standardisiert zu messen, z.B. indem man den Patienten immer bitte, sich zu setzen und 3 aufeinanderfolgende Messungen vornimmt, denn „der erste Messwert ist immer zu hoch“, sagt Messerli. Die Manschette brauche eine Weile, um sich an den Arm anzupassen.
Wichtig für eine korrekte Messung ist auch Größe der Blutdruckmanschette, bestätigt Chenot. „Bei Menschen mit einem sehr großen Armumfang misst die Standard-Blutdruckmanschette den Blutdruck falsch – zu hoch. Eine gute Hausarztpraxis hat daher Blutdruckmanschetten in verschiedenen Größen vorrätig.“
Auch wenn die Messung durch die Kleidung hindurch erfolgt, werde das Ergebnis verfälscht. „Die gängige Empfehlung, den Blutdruck nach 5 Minuten Ruhezeit zu messen, erweist sich in der Hausarztpraxis mit einer durchschnittlichen Konsultationsdauer von 8 bis 10 Minuten als etwas realitätsfern“, sagt Chenot. Es ist daher wenig verwunderlich, dass solche Ruhezeiten kaum Einfluss auf das Ergebnis haben, wie 2021 in einer Studie gezeigt werden konnte.
Messmethode beeinflusst die Ergebnisse erheblich
Welchen Einfluss die Messmethode auf den Blutdruck hat, zeigt auch eine von Drawz geleitete Studie aus 2020. Dort wurde festgestellt, dass die in der klinischen Routinepraxis bei Hausärzten gemessenen Blutdruckwerte im Allgemeinen höher waren als die im Rahmen der SPRINT-Studie gemessenen Werte (Selbstmessung in einem abgedunkelten Raum nach 5 min Ruhezeit).
„Die Hausarzt-Messungen lagen 5 bis 15 mmHg höher. Die Autoren hatten deshalb vorgeschlagen, die Blutdruckziele nicht zu senken, wie es die amerikanischen Leitlinien teilweise tun“, erklärt Chenot. In Europa kam es infolge der SPRINT-Studie nicht zu den strengeren Blutdruckzielen, weil der Blutdruck weder in der Praxis noch zuhause wie unter den Studienbedingungen der SPRINT-Studie gemessen wird.
Rubin schreibt, dass allgemeines Einvernehmen darüber bestehe, dass die in der Praxis gemessenen Werte häufig höher sind als die außerhalb der Praxis gemessenen Werte. „Blutdruckmessungen zu Hause sind ausgezeichnet, solange der Patient die Ergebnisse nicht beschönigt“, meint Messerli. Manche Patienten allerdings empfänden Blutdruckmanschetten als lästig, merkt Krumholz an. Das Beste für Messungen außerhalb der Arztpraxis wären daher Geräte ohne Manschette, von denen die Patienten kaum merken, dass sie da sind.
„Ich hoffe, dass die Innovation uns helfen wird“, schreibt der Kardiologe Dr. Eric Topol, Direktor des Scripps Research Translational Institute, der unlängst ein Armband zur Blutdruckmessung getestet hatte, das bislang in den USA noch nicht erhältlich ist.
„Die Botschaft, die man aus der Arbeit von Krumholz und Kollegen mitnehmen kann, ist nicht unbedingt, welche Faktoren mit der Variabilität verbunden sind, sondern nur, dass es eine große Variabilität gibt“, sagt Drawz. „Das zeigt, wie wichtig es ist, den Blutdruck mehrfach zu messen ... und wie wichtig eine korrekt durchgeführte Blutdruckmessung ist.“
Fanden Sie diesen Artikel interessant? Hier ist der Link zu unseren kostenlosen Newsletter-Angeboten – damit Sie keine Nachrichten aus der Medizin verpassen.
Credits:
Credits: © Goodluz
Lead Image: Dreamstime
Medscape Nachrichten © 2023 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Blutdruck messen beim Arzt: Wie man schwankende Werte am besten für Therapieentscheidungen nutzt – Tipps für die Praxis - Medscape - 1. Jun 2023.
Kommentar