Nach 100 Jahren Insulintherapie wurde in den USA erstmals eine Immuntherapie für das Frühstadium des Typ-1-Diabetes zugelassen, die die Manifestation des klinischen Diabetes im Schnitt um 3 Jahre verzögern kann. Voraussetzung für die Anwendung des anti-CD3-Antikörpers Teplizumab wäre ein allgemeines Screening auf Typ-1-Diabetes. Ob dies wirklich Sinn macht, darüber waren sich die Expertinnen und Experten beim Diabetes Kongress in Berlin nicht immer einig [1].
Prof. Dr. Anette-Gabriele Ziegler, Direktorin des Instituts für Diabetesforschung, Helmholtz Munich, sprach sich dafür aus, ein freiwilliges Screening auf Typ-1-Diabetes in die Regelversorgung aufzunehmen: „Die erste Immuntherapie zur Verzögerung des Typ-1-Diabetes ist in den USA für das Frühstadium 2 zugelassen. Und dieses Frühstadium kann nur durch ein vorausgegangenes Screening identifiziert werden, da in dieser Phase noch keine Symptome bestehen.“ Nur so könnten möglichst viele Menschen, insbesondere Kinder, von der krankheitsverzögernden Therapie profitieren, ergänzte sie.
Mit mindestens 2 Autoantikörpern erkranken 100 Prozent der Kinder
Einen Biomarker für die frühe Diagnose des Typ-1-Diabetes gibt es mit dem Nachweis von mindestens 2 positiven Inselautoantikörpern bereits. In einer Studie mit mehr als 13.000 Kindern, die 20 Jahre nachbeobachtet wurden, lag die Spezifität dieser Antikörper bei 100%. „Jedes Kind mit einem positiven Autoantikörpertest bekommt im Lauf seines Lebens Typ-1-Diabetes“, so Ziegler. „Basierend auf den Ergebnissen dieser Studie wurden in vielen Leitlinien die Frühstadien des Typ-1-Diabetes eingeführt.“
Das Frühstadium des Typ-1-Diabetes wird in Abhängigkeit von Autoantikörpernachweis und Status des Glukosestoffwechsels in 3 Phasen eingeteilt:
Frühstadium 1: ≥ 2 Insel-Autoantikörper und Normoglykämie
Frühstadium 2: ≥ 2 Insel-Autoantikörper und Dysglykämie
Frühstadium 3: Symptome, Hyperglykämie, Insulintherapie
Ob es möglich ist, die Allgemeinbevölkerung mithilfe dieser Autoantikörper auf Typ-1-Diabetes zu screenen, wird in der FR1DA-Studie untersucht. „Seit 2015 werden Kinder im Vorschul- und Schulalter gescreent, mittlerweile sind es schon mehr als 170.000“, berichtete Ziegler. „Bei 0,3% von ihnen wurden mindestens 2 Autoantikörper nachgewiesen.“
Schulung und Weiterbetreuung ist von größter Bedeutung
Die Familien, bei deren Kinder ein Typ-1-Diabetes im Frühstadium diagnostiziert worden war, wurden zu einem oralen Glukosetoleranztest (OGTT), HBA1c-Bestimmung, Schulung und Monitoring eingeladen. „Die Schulung und kompetente Weiterbetreuung ist von größter Bedeutung für die Effektivität des Screenings“, betonte Ziegler.
Der OGTT ergab, dass sich 85% der FR1DA-Kinder noch im Frühstadium 1 befanden, weitere 11% waren im Frühstadium 2 und die restlichen 4% im Frühstadium 3.
„Die 4% können leider nicht mehr von Teplizumab profitieren, da das Medikament nicht für den manifesten Diabetes zugelassen ist“, sagte Ziegler. „Doch die 11% könnten sofort Teplizumab bekommen und die 85% später, wenn sie ein Stadium 2 entwickelt haben. Deshalb ist auch die weitere Beobachtung der Kinder so wichtig.“
Wie schnell die Erkrankung vom Frühstadium 1 zum Frühstadium 2 fortschreiten wird, lässt sich anhand von IA2-Antikörpern, dem 90-Minuten-OGTT-Glukosewert und dem HbA1c-Wert stratifizieren. Was die Progression zum klinischen Typ-1-Diabetes (Stadium 3) angeht, zeigte sich, dass das Progressionsrisiko der FR1DA-Kinder ähnlich war wie in internationalen Geburtskohorten mit erhöhtem genetischem Risiko. „Natürlich gibt es noch kein 20-jähriges Follow-up wie in BABYDIAB, DIPP und DAISY, aber bisher ist die Progressionsrate praktisch identisch“, berichtete Ziegler.
Ein Screening hätte viele Vorteile – dennoch gibt es Zweifel am Nutzen
Der potenzielle Zugang zu präventiven Therapien und ein reibungsloser Übergang zu einer Insulintherapie zum richtigen Zeitpunkt sind Ziegler zufolge allerdings nicht die einzigen Vorteile, die ein Screening auf Typ-1-Diabetes hätte. Die Teilnahme an der FR1DA-Studie reduzierte das Risiko einer diabetischen Ketoazidose (DKA) drastisch. Zwischen 2015 und 2023 lag die Gesamtketoazidoserate bei Manifestation des klinischen Typ-1-Diabetes bei 4,3%. Die allgemeine DKA-Rate in Deutschland liegt dagegen seit 2 Jahrzehnten größtenteils unverändert bei 20 bis 25%.
Darüber hinaus wiesen die FR1DA-Kinder bei der klinischen Diagnose des Typ-1-Diabetes mehr Betazellfunktion und eine bessere Stoffwechseleinstellung auf. Das zeigte ein Vergleich mit Kindern mit spontaner Diabetes-Diagnose aus der DiMelli-Studie. „Das ist wichtig, da es viele Daten gibt, die zeigen, dass dies langfristig mit einer besseren Morbidität und Mortalität verbunden ist“, betonte Ziegler.
Trotz der beeindruckenden Daten aus der FR1DA-Studie sind noch nicht alle Diabetes-Expertinnen und -Experten überzeugt, dass ein allgemeines Screening auf Typ-1-Diabetes sinnvoll wäre. Prof. Dr. Beate Karges von der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Bethlehem Krankenhaus Stolberg und der Sektion Endokrinologie & Diabetologie am Universitätsklinikum Aachen betonte: „Ein Screening ist sinnvoll, wenn die Krankheit in der präklinischen Phase heilbar oder die Prognose bei früher Diagnose und Behandlung erheblich besser ist.“
Immuntherapie birgt das Risiko schwerer Nebenwirkungen
Eine Heilung des Typ-1-Diabetes ist auch bei Diagnose im Frühstadium nicht möglich, lediglich eine Verzögerung der Manifestation um 3 Jahre verspricht der neue anti-CD3-Antikörper Teplizumab. Diese hat allerdings ihren Preis: In der Fachinformation von Teplizumab wird vor schweren Lymphopenien über mehrere Wochen, Zytokinfreisetzungssyndrom, schweren Infektionen und Hypersensitivitätsreaktionen gewarnt. Impfungen dürfen außerdem während der Behandlung mit Teplizumab nicht durchgeführt werden, müssen also vorher abgeschlossen sein.
„Bisher ist also eine Prävention des Typ-1-Diabetes nicht möglich, nur eine Verzögerung, und die langfristige Effektivität und Sicherheit dieser Immuntherapie ist unklar“, betonte Karges. Die Diabetologin ergänzte, dass eine signifikante Senkung der DKA-Rate – wie sie in der FR1DA-Studie beobachtet wurde – auch ohne Screening möglich sei. Das habe ein Modellprojekt in Stuttgart gezeigt. Dort wurde die DKA-Rate allein durch Aufklärung erheblich gesenkt.
Auch Aufklärung kann Ketoazidosen reduzieren
„Die Familien wurden im Rahmen der Einschulungsuntersuchung über die Frühzeichen eines Typ-1-Diabetes aufgeklärt. Dadurch ist es gelungen, die Ketoazidoserate von 28% auf 16% zu senken“, sagte Karges. Aus Studien zum familiären Typ-1-Diabetes ist zudem bekannt, dass die Zweiterkrankten in der Familie nur eine DKA-Rate von 7% aufweisen. „Durch Aufklärung innerhalb der Familie und Awareness-Kampagnen kann somit die DKA-Rate um 40 bis 65% gesenkt werden“, so Karges.
Ob ein frühzeitiger Beginn der Insulintherapie „zum richtigen Zeitpunkt“ langfristig Vorteile mit sich bringt, auch daran ließen Karges‘ Ausführungen Zweifel aufkommen. Zweiterkrankte mit familiärem Typ-1-Diabetes haben in den ersten beiden Jahren nach der Diagnose bessere HbA1c-Werte. „Aber im weiteren Verlauf über 2 bis 10 Jahre ist der HbA1c-Wert nicht mehr verschieden“, berichtete Karges.
Auch ob der Patient bei Diagnose des Typ-1-Diabetes eine DKA hat oder nicht, scheint langfristig keinen Unterschied zu machen: „Der HbA1c in den 2 bis 10 Jahren nach der Diagnose zeigt auch hier keine Unterschiede“, so Karges. Ihr Fazit: „Die glykämische Kontrolle ist bei frühem Behandlungsbeginn nicht dauerhaft besser.“
„Mit einer Immunintervention kann der Typ-1-Diabetes verzögert werden, aber dafür müssen wir mögliche schwere Nebenwirkungen bei einem noch gesunden Kind in Kauf nehmen“, sagte sie. Und auf der anderen Seite sei der Typ-1-Diabetes sehr gut behandelbar. „Mit Pumpe und kontinuierlicher Glukosemessung (CGM) ist die Insulintherapie bei Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren deutlich sicherer und effektiver geworden“, betonte die Diabetologin.
Neue Therapieoptionen in der Pipeline
Ob ein freiwilliges Screening auf Typ-1-Diabetes letztlich den Weg in die Regelversorgung finden wird, hängt sicherlich von der weiteren Entwicklung präventiver Medikamente ab. Ziegler betonte, dass sich die künftige präventive Therapie nicht auf den anti-CD3-Antikörper Teplizumab beschränken müsse.
Zu den weiteren Strategien, die derzeit in Studien untersucht werden, gehört zum Beispiel die hochdosierte orale Insulintherapie. Vielversprechend sei auch das aus der Hochdrucktherapie bekannte Verapamil, welches im Frühstadium 3 Betazellen erhalten und deren Funktion verbessern konnte. Das Fusionsprotein Abatacept verfehlte in einer jüngst veröffentlichten Studie knapp die statistische Signifikanz. Für Ziegler steht fest: „Wir stehen vor einem Neuanfang der Therapie des Typ-1-Diabetes.“
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Credits:
Photographer: © Piotr Adamowicz
Lead image: Dreamstime.com
Medscape Nachrichten © 2023
Diesen Artikel so zitieren: Aufklärung oder Screening für Typ-1-Diabetes? Durch neue Immuntherapie im Frühstadium stehen Ärzte vor brisanter Abwägung - Medscape - 1. Jun 2023.
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