Boston – Die neurologischen Symptome von Long-COVID scheinen auf ein Phänomen zurückzuführen zu sein, das als antigene Prägung bekannt. Auslöser könnte eine fehlgeleitete Immunreaktion auf das SARS-CoV2-Virus sein, so das Ergebnis einer Studie, die auf der Jahrestagung 2023 der American Academy of Neurology vorgestellt wurde [1].
Wie Dr. Marianna Spatola, Forschungsstipendiatin am Ragon Institute der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, erklärt, sei die antigene Prägung bereits bei mehreren anderen Virusinfektionen wie der Influenza und dem Humanen Immundefizienzvirus nachgewiesen; sie führt zur Bildung von Antikörpern gegen frühere Virusinfektionen und nicht gegen die unmittelbare Bedrohung.
Wie kommt es zur immunologischen Prägung?
Bei anhaltenden neurologischen Symptomen nach einer COVID-Infektion, einem Zustand, der als NeuroPASC (neurological postacute sequelae of SARS-CoV2 infection) bekannt ist, könnten den von Spatola vorgestellten Daten zufolge die meisten oder alle Fälle durch Antikörper erklärt werden, die gegen frühere Coronaviren und nicht gegen SARS-CoV2 gebildet werden.
Belege stammen aus einer Studie mit 112 Patienten, die Monate nach einer akuten Episode von COVID-19 untersucht wurden. Von diesen hatten 18 Patienten anhaltende neurologische Funktionsstörungen. Im Vergleich zu den 94 Patienten, deren Infektion ohne Folgeerscheinungen abklang, wiesen die Patienten mit anhaltenden neurologischen Beeinträchtigungen eine relativ geringe systemische Antikörperreaktion gegen SARS-CoV2 auf. Sie zeigten jedoch relativ hohe Antikörperreaktionen gegen andere Coronaviren.
Dieses Muster steht in Einklang mit der immunologischen Prägung, einem Konzept, das erstmals vor mehr als 60 Jahren als „antigene Erbsünde“ beschrieben wurde. Wenn das Immunsystem auf ein Antigen des 1. Virus aus einer Familie von Krankheitserregern geprägt wird, steuert es alle nachfolgenden Antikörperreaktionen, so mehrere veröffentlichte Studien, die dieses Konzept beschrieben und bewertet haben.
Was für die antigene Prägung spricht
In der Studie von Spatola untermauerten weitere Unterschiede, insbesondere im Hinblick auf den Liquor (CSF), die Rolle der antigenen Prägung als Ursache von NeuroPASC. So hatten Patienten, die im Liquor erhöhte Immunparameter auf andere häufige Coronaviren und nicht auf SARS-CoV2 aufwiesen, eher ein schlechtes Ergebnis hinsichtlich neurologischer Symptome.
Darüber hinaus sei der Liquor bei neuroPASC-Patienten „durch erhöhte IgG1-Werte und das Fehlen von IgM gekennzeichnet, was auf eine kompartimenterte humorale Reaktionen innerhalb des Liquors durch selektive Übertragung von Antikörpern aus dem Serum in den Liquor über die Blut-Hirn-Schranke und nicht durch intrathekale Synthese hindurch hindeutet“, berichtet Spatola.
Im Fall von COVID-19 ist die Neigung zur antigenen Prägung nicht schwer zu verstehen. „Die üblichen Erkältungs-Coronaviren sind SARS-CoV2 ziemlich ähnlich, aber nicht genau gleich“, sagte Spatola. Die Arbeit und Studien anderer Forscher legen nahe, dass die antigene Prägung die vollständige Reifung der Antikörperreaktion verhindert.
NeuroPASC ist eine von vielen Manifestationen von Long COVID; Spatola wies allerdings darauf hin, dass die Immunreaktion im Liquor einzigartig ist und die Ursachen für die anhaltende neurologische Beeinträchtigung nach COVID-19 wahrscheinlich andere Mechanismen beinhalten als andere Symptome von Long-COVID.
„Antikörper im Gehirn sind funktionell unterschiedlich“, sagte Spatola. Er wies zum Beispiel darauf hin, dass die antikörpergesteuerte Abwehr gegen virale Bedrohungen stärker auf die Phagozytose angewiesen sei. Dies könnte bei der Entwicklung von Therapeutika für die neurologischen Symptome von Long-COVID wichtig werden.
Welche Rolle spielen anhaltende Entzündungen?
Die Erscheinungsformen von NeuroPASC sind heterogen; sie umfasssen u.a. Verwirrtheit, kognitive Störungen, Kopfschmerzen, Enzephalitis und andere Beeinträchtigungen umfassen. Neurologische Symptome treten bei akuten SARS-CoV2-Infektionen auf, aber NeuroPASC scheint ein anderes Phänomen zu sein.
Symptome, die nach dem Abklingen der anfänglichen Atemwegserkrankung auftreten, werden von Spatola auf eine anhaltende Entzündung zurückgeführt, die nicht unbedingt direkt mit der laufenden Infektion zusammenhängt. „Der Grund, warum manche Patienten NeuroPASC entwickeln, ist unbekannt, aber ich denke, die Beweise deuten eher auf eine Rolle des Immunsystems als auf das Virus selbst hin“, so Spatola.
Derzeit ist NeuroPASC eine klinische Diagnose, aber Spatola und Mitarbeiter forschen an der Identifizierung von Biomarkern. Ein brauchbarer Diagnosetest ist in nächster Zeit nicht zu erwarten. Sie haben 150 verschiedene Merkmale identifiziert, die für NeuroPASC relevant sein könnten.
Bei ihrem Vergleich von Patienten, die NeuroPASC entwickelten, mit Kontrollen ohne NeuroPASC, wurden die ersten Studien 2-4 Monate nach Abklingen der akuten COVID-19-Symptome durchgeführt. Patienten mit NeuroPASC und ohne neurologische Folgeerscheinungen wurden 6-8 Monate lang beobachtet, was laut Spatola zu kurz sei, um eindeutige Schlussfolgerungen über die Ergebnisse zu ziehen.
Forscher entwickeln das Konzept weiter
Trotz der geringen Stichprobengröße dieser Studie handele es sich um „sehr interessante Daten“ für die Betrachtung der Pathogenese von NeuroPASC, „ein Konzept ist, das sich noch entwickelt“, so Dr. Natalia S. Rost, Leiterin der Schlaganfallabteilung, Abteilung für Neurologie, Massachusetts General Hospital, Boston.
Angewandt auf SARS-CoV2 sei das Konzept der ursprünglichen immunologischen Prägung „neu“. Aber Rost sagte, es könnte helfen, NeuroPASC von akuten neurologischen COVID-19-Symptomen zu unterscheiden, zu denen auch Schlaganfälle gehörten.
Sie wies darauf hin, dass die von Spatola und Kollegen durchgeführten Arbeiten die Pathologie erklärten und zu Behandlungsstrategien führen könnten. Allerdings wies Rost darauf hin, dass die hier untersuchten Konzepte durch größere Stichproben und durch die Erforschung anderer Variablen, welche die Hypothese unterstützen, weiterentwickelt werden müsse.
Der Beitrag ist im Original erschienen auf MDedge.com und wurde von Dr. Petra Kittner für Univadis.de übersetzt.
Credits:Credits: © Ralf Liebhold
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Diesen Artikel so zitieren: Immunologische Prägung und inflammatorische Vorgänge – so könnten neurologische Symptome bei Long-COVID entstehen - Medscape - 2. Jun 2023.
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