Querschnittgelähmter kann wieder laufen, Dank neuer Schnittstellen-Technologie – und seiner Risikobereitschaft. Ein Durchbruch?

Nadine Eckert

Interessenkonflikte

25. Mai 2023

Ein querschnittsgelähmter Mann in der Schweiz kann mithilfe von Gehhilfen wieder sehr eingeschränkt, aber eigenständig laufen, Treppen steigen und sogar komplexes Gelände durchqueren. Gelungen ist dies durch eine implantierte Gehirn-Rückenmarks-Schnittstelle (Brain-Spine Interface, BSI), die die Kommunikation zwischen Rückenmark und Gehirn in Echtzeit wiederherstellt [1].

Im Fachjournal Nature berichtet die Forschungsgruppe um Dr. Henri Lorach vom NeuroX Institute der School of Life Sciences an der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne in Genf über den 38-jährigen Probanden, der aufgrund eines Unfalls seit 10 Jahren an einer Tetraplegie leidet: „Die BSI ermöglicht ihm ein natürliches Gefühl der Kontrolle über die Bewegungen seiner Beine“, schreiben die Autoren. Darüber hinaus hätten kleinere neurologische Verbesserungen, wie bei Sinneswahrnehmungen und motorischen Fähigkeiten, laut Forschenden auch noch angehalten, wenn das BSI abgeschaltet worden sei.

Die Bewegung funktioniert erstmals in Echtzeit

Um eine Einschätzung der neuen Technologie gebeten, loben Experten die neue Qualität der erreichten funktionellen Bewegungskontrolle, warnen aber auch davor, Patienten und Patientinnen falsche Hoffnungen zu machen.

„Der Schlüsselaspekt ist, dass das Ganze in Echtzeit funktioniert. Bisher mussten Probanden intensiv an irgendetwas denken, beispielsweise eine bestimmte Farbe, und sich darauf konzentrieren. Dieses Signal in Form eines herausragenden Gedankenereignisses hat der Computer erkannt und daraufhin ein Bewegungsprogramm gestartet“, erläutert PD Dr. Rainer Abel, Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Querschnittsgelähmte am Klinikum Bayreuth.

 
Der Schlüsselaspekt ist, dass das Ganze in Echtzeit funktioniert. PD Dr. Rainer Abel
 

Bei dem nun vorgestellten BSI sei das anders, denn anstelle dieses Umweges werde direkt die Imagination der Bewegung am Motorkortex erkannt und in Echtzeit weitergegeben. „Das Auslesen der Steuerimpulse aus dem Motorkortex ist offenbar so präzise, dass die Bewegungsimagination tatsächlich zum Ansteuern einzelner Gelenke verwendet werden kann.“

2 Implantate, die über eine digitale Brücke kommunizieren

Das BSI erweitert das Prinzip eines Implantats zur Elektrostimulation des Rückenmarks, welches ebenfalls von der Schweizer Forschungsgruppe entwickelt und erprobt wurde. Es setzt sich aus 2 vollständig implantierten Systemen zusammen, die kabellos über eine „digitale Brücke“ miteinander kommunizieren.

Der 1. Teil des Systems besteht aus 2 Elektrokortikographie-Implantaten in der Schädeldecke des Patienten, die jeweils die neuronale Aktivität an 64 Elektroden messen und an eine tragbare Recheneinheit weitergeben. Auf Grundlage dieser Daten errechnet der Computer die gewollte Bewegung und übersetzt sie in Stimulierungsbefehle, die dann in Echtzeit an das 2. implantierte System weitergegeben werden. Es befindet sich im Rücken, wo ein elektrischer Pulsgeber und ein Elektrodenarray mit 16 kleinen Elektroden die Motorneuronen im Rückenmark entsprechend stimulieren und so die Muskeln gezielt aktiviert.

Den Forschenden zufolge ließ sich das BSI innerhalb weniger Minuten kalibrieren und funktionierte über den Beobachtungszeitraum von einem Jahr zuverlässig, auch bei unabhängiger Nutzung zu Hause. Der Patient hatte im Vorfeld der Studie bereits an einem 5-monatigen Neurorehabilitationsprogramm mittels Elektrostimulation des Rückenmarks teilgenommen, woraufhin er dazu in der Lage war, mit einer Gehhilfe Schritte zu machen. Nach etwa 3 Jahren eigenständiger Nutzung erreichte er jedoch ein Rehabilitationsplateau.

Im Rahmen der Studie STIMO-BSI nahm der 38-Jährige an 40 neurorehabilitativen Trainingseinheiten teil. Sie umfassten Gehen, Bewegung einzelner Gelenke, Gleichgewichtsübungen und Physiotherapie.

Lebensqualität bedeutsam gestiegen

Dieses Trainingsprogramm führte zu Verbesserungen der sensorischen und motorischen Fähigkeiten sowie der Fähigkeit zu stehen und zu gehen. Ganz konkret zeigte der Patient Verbesserungen in allen konventionellen klinischen Tests wie dem 6-Minuten-Gehtest, Gewicht tragen, Aufstehen und Losgehen, Gleichgewicht halten und Gehqualität.

 
Diese teils auch ohne Stimulation fortbestehenden Verbesserungen führten zu einer bedeutsamen Steigerung der Lebensqualität. Dr. Henri Lorach und Kollegen
 

„Diese teils auch ohne Stimulation fortbestehenden Verbesserungen führten zu einer bedeutsamen Steigerung der Lebensqualität“, so die Forschenden. „Der Patient konnte bei sich zuhause unabhängig herumlaufen, aus einem Auto aussteigen oder an einer Bar stehen und mit Freunden etwas trinken“, berichten sie.

„Wir gehen davon aus, dass die BSI eine Reorganisation neuronaler Pfade ausgelöst hat, die zu der zusätzlichen neurologischen Erholung führte“, ergänzen die Autoren.

Übertragbarkeit auf andere Patienten noch ungewiss

Ob die beschriebenen Ergebnisse von einem einzigen Probanden auch auf andere Patientinnen und Patienten übertragbar sind, ist ungewiss. Die klinische Studie STIMO-BSI, an der der 38-Jährige teilnimmt, ist laut Studienbeschreibung für 10 Patienten konzipiert. Doch es gehe aus der Arbeit nicht hervor, warum nur ein einziger Patient beschrieben werde, obwohl die Studie bereits 2016 initiiert worden sei, sagt Prof. Dr. Norbert Weidner, Ärztlicher Direktor der Klinik für Paraplegiologie – Querschnittszentrum, Universitätsklinikum Heidelberg.

Hinzu kommt, dass der beschriebene Patient „besonders“ ist, da er sich zusätzlich zur spinalen epiduralen Stimulation vor Implantation der Gehirnelektroden orthopädischen Eingriffen im Bereich der Beine (Muskelsehnentransfer, Sprunggelenkversteifung) unterzogen hat, die ebenfalls zu einer Stabilisierung der Geh- und Stehfunktion führen können.

Laut Weidner lässt sich „keine verlässliche Aussage treffen“, ob und inwieweit die berichteten Effekte hinsichtlich Gehfunktion auf andere Patienten mit Querschnittlähmung oder gar Patienten mit anderen neurologischen Erkrankungen übertragbar seien.

Vorgeschichte des Patienten könnte Therapieerfolg beeinflusst haben

Die Forschenden um Lorach räumen ein, dass die Vorgeschichte des Patienten die Konfiguration des BSI beschleunigt hat. Dennoch erwarten sie keine größeren Hindernisse für die Implementierung eines BSI bei anderen Personen.

„Die der gezielten epiduralen Stimulation zugrunde liegenden physiologischen Prinzipien sind mittlerweile bei 9 von 9 behandelten Patienten mit kompletter oder inkompletter Verletzung validiert worden“, argumentieren sie. „Zudem haben wir Abläufe entwickelt, die eine rasche und stabile Kalibrierung der Verbindung zwischen Motorkortex und Stimulationsprogramm unterstützen, sodass die Patienten das BSI auch zuhause selbstständig bedienen können.“

Der Bayreuther Spezialist für die Behandlung von Querschnittsgelähmten Abel betont, dass es bei der Anwendung dieser Technologie auch auf die Details ankomme. „Es braucht Patientinnen und Patienten, die dazu bereit sind, sich unter anderem Teile der Schädeldecke mit Implantaten ersetzen zu lassen und eine lange Zeit mit entsprechenden Trainings zuzubringen, auch wenn ein Therapieerfolg nicht garantiert werden kann“, erläutert er.

Technologie verlangt nach „außergewöhnlich disziplinierten Patienten“

Bei dem von der Schweizer Forschungsgruppe beschriebenen 38-Jährigen handele es sich um einen gesunden und „außergewöhnlich disziplinierten und offenbar auch risikobereiten Patienten, der bereit ist, seine Lebensführung zumindest über lange Zeiten einem Trainingsziel (Laufen) unterzuordnen“.

 
Es ist erstmal ein großer Fortschritt für diese Technologie. Inwieweit sie auf andere Patienten, zum Beispiel mit kompletter Lähmung, übertragen werden kann, bleibt abzuwarten. PD Dr. Rainer Abel
 

„Es ist erstmal ein großer Fortschritt für diese Technologie. Inwieweit sie auf andere Patienten, zum Beispiel mit kompletter Lähmung, übertragen werden kann, bleibt abzuwarten“, sagt Abel. Und Weidner warnt davor, bei Patientinnen und Patienten falsche Hoffnungen zu wecken. „Die Effektgröße des zusätzlichen BSI im berichteten Einzelfall ist überschaubar. Der wesentliche Nachweis der Übertragbarkeit auf andere Patienten lässt weiter auf sich warten“, lautet sein Fazit.

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Kommentar

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