Als Ärztin sowie ausgebildete Adipositas-Expertin – und seit 8 Jahren genesene emotionale Esserin – weiß ich persönlich und beruflich um die Herausforderungen des emotionalen Essens. Ich weiß auch, wie emotionales Essen selbst die besten Vorsätze zum Abnehmen sabotieren kann. In diesem Kommentar widme ich mich den Auslösern emotionalen Essens. Mein Ziel ist, Kliniker, die Patienten mit emotionalem Essen helfen wollen, zu unterstützen.
Typisch ist das Schicksal dieser Patientin: „Essen fühlt sich für mich an wie Umarmungen", sagte Frau S. und ihre Augen leuchteten. Nach wochenlanger gemeinsamer Arbeit war sie endlich dazu in der Lage, ihre komplexe Beziehung zum Essen anschaulich zu schildern. Sie hatte Schwierigkeiten zu erklären, warum sie weiter aß, obwohl sie satt war, oder Lebensmittel zu sich nahm, von denen sie wusste, dass sie ihr nicht guttaten.
Wie Millionen von Menschen, die mit ihrem Gewicht oder mit der Krankheit Adipositas zu kämpfen haben, hatte Frau S. mehrere Diäten und Programme zur Gewichtsreduktion ausprobiert. Immer wieder aber kehrte sie zu ungünstigen Essgewohnheiten zurück. Frau S. war eine emotionale Esserin, und die Pandemie verschlimmerte ihr Essverhalten noch. Als alleinstehende Berufstätige, die gezwungen war, während der Pandemie von zu Hause aus zu arbeiten, fühlte sie sich einsam.
Sie arbeitete nun nicht mehr in einem geschäftigen Büro in der Innenstadt, trainierte nicht mehr für Halbmarathons und hielt auch keine Workout-Trainings mehr ab, sondern war täglich allein. Ihr einziger „echter" menschlicher Kontakt bestand darin, dass sie sich täglich ihre Lieblingsspeisen nach Hause liefern ließ. Als Typ-2-Diabetikerin wusste sie, dass das ihre Gesundheit zerstörte, aber ihre Willenskraft reichte nicht aus, um sie davon abzubringen.
Ihr Psychologe hatte sie an unsere virtuelle Adipositas-Praxis verwiesen, um ihr beim Abnehmen zu helfen und langfristige Lösungen zu finden. Frau S. sagte, dass ihr durchaus klar sei, was sie sich mit emotionalem Essen antue. Aber wie viele emotionale Esser wusste sie nicht, wie sie vom emotionalen Essen wieder zu einem natürlichen, von Hunger geleiteten Essverhalten zurückfinden konnte.
Tatsache: Emotionales Essen ist nicht nur emotionaler Natur
Es ist wichtig, emotionales Essen nicht als rein gefühlsgesteuert abzutun. Denken Sie daran, dass Hunger hormonell reguliert wird. Man unterscheidet die homöostatische Regulation des Essverhaltens von hedonischem Hunger. Die homöostatische Regulation des Essverhaltens wird durch den Energiebedarf in Form von Kalorien gesteuert. Hedonisches Essen hingegen ist genussgesteuert, reagiert auf emotionale Reize und umgeht so Hunger- und Sättigungssignale.

Dr. Sylvia Gonsahn-Bollie
Foto-Credit: Sylvia Gonsahn-Bollie, MD
Emotionales Essen fällt unter den hedonischen Hunger. Der erste Schritt zur Unterstützung eines Patienten, der mit emotionalem Essen kämpft ist, ihm einfühlsam zuzuhören und dann nach physiologischen Ursachen zu suchen. Mehrere Faktoren können die physiologische Appetitregulierung stören, z.B. Schlafstörungen, hoher Stresspegel und viele medizinische Erkrankungen, die nicht auf Fettleibigkeit, Diabetes und polyzystisches Ovarsyndrom beschränkt sind.
Faktoren wie Insulinresistenz und Entzündungen sind ein gemeinsames Bindeglied bei diesen Erkrankungen. Beide tragen zur Pathophysiologie der Appetitveränderungen bei und können Hormone beeinflussen, die zu einem geringerem Zufriedenheitsgefühl nach dem Essen führen. Darüber hinaus können psychische Erkrankungen den Neurotransmitterspiegel von Serotonin und Dopamin stören, was ebenfalls Appetitveränderungen hervorrufen kann.
Diese physiologisch bedingten Appetitstörungen können hedonisches Essen auslösen. Der Zusammenhang ist jedoch komplex. Eine Möglichkeit, hedonisches Essen zu erforschen, ist zum Beispiel die Verwendung der Power of Food Scale (PFS).
Funktionelle MRT-Studien zeigen, dass Menschen mit höheren Werten auf der PFS eine stärkere Hirnaktivität im visuellen Kortex aufweisen, wenn sie hoch schmackhafte Lebensmittel sehen. Es sind zwar noch weitere Studien erforderlich, um die klinischen Auswirkungen besser zu verstehen, aber es ist ein weiterer Hinweis darauf, dass „emotionales" Essen eben nicht nur emotional ist. Es ist auch physiologisch bedingt.
Gefühle: Muster, Persönlichkeit, Orte, psychologische Faktoren
Die Physiologie erklärt aber nur einen Teil des emotionalen Essens. Wie Frau S. haben auch emotionale Esser eine starke emotionale Bindung an Essen und spezielle Verhaltensmuster. Oft sind physiologische Auslöser mit psychologischen Gewohnheiten gekoppelt. Zum Beispiel ist die Menstruation für viele meiner Patienten ein häufiger physiologischer Auslöser für stressbedingtes Essen.
Studien haben gezeigt, dass sich nicht nur der Eisengehalt während der Menstruation verändert, sondern auch der Kalzium-, Magnesium- und Phosphorspiegel. Emotional gesehen kann das Unbehagen während der Menstruation dazu führen, dass man sich mit Genussmitteln wie Schokolade in verschiedenen Formen tröstet. Das ist nicht verwunderlich, denn Kakao und sein Derivat, die Schokolade, sind reich an Eisen und anderen Mineralien.
Schokolade befriedigt eigentlich ein körperliches und emotionales Bedürfnis. Es kann hilfreich sein, Ihre Patienten auf diesen Zusammenhang hinzuweisen. Schlagen Sie vor, eine zuckerärmere Schokolade zu wählen, z.B. Zartbitterschokolade oder sogar Kakaonibs zu probieren, während Sie die Emotionen ansprechen.
Physiologische Muster sind nicht die einzigen Auslöser für emotionales Essen. Auch bestimmte Orte und psychische Zustände können emotionales Essen auslösen. Feierlichkeiten, Urlaube, die Nähe zu bestimmten Restaurants, Lebensmittelwerbung und größere Veränderungen im Leben können dazu führen, vermehrt emotional zu essen. Wenn man den Patienten hilft, diesen Zusammenhang zu erkennen, können sie sich auf diese Situationen vorbereiten.
Psychische Erkrankungen können mit emotionalem Essen in Verbindung stehen. Es ist wichtig, auf psychische Erkrankungen und frühere Traumata zu achten. Emotionales Essen kann zum Beispiel ein Symptom für eine Binge-Eating-Störung, eine schwere Depression oder eine generalisierte Angststörung sein. Traumata in der Kindheit werden mit Essstörungen in Verbindung gebracht. Der Fragenkatalog zu negativen Kindheitserlebnissen kann dazu diagnostisch eingesetzt werden.
Emotionales Essen kann zu Schuldgefühlen, Scham und Selbstanklagen führen. Man sollte dann den Patienten beruhigen und sein Selbstmitgefühl fördern. Denn schließlich ist es doch ganz natürlich, zu essen. Das Ziel ist nicht, mit dem Essen aufzuhören, sondern auf der Grundlage der physiologischen Bedürfnisse zu essen.
Zusammenfügen: Fakten und Gefühle des emotionalen Essens ansprechen
1. Behandeln Sie die biologischen Ursachen, die den physiologischen Hunger beeinflussen und emotionales Essen auslösen.
2. Auslöser: Muster, Orte/Personen, psychologische Ereignisse ansprechen.
3. Andere Belohnungen als Nahrungsmittel; der Schlüssel zum emotionalen Essen ist das Essen. Gesündere Substitute verbessern zwar kurzfristig das Essverhalten, es ist aber von unschätzbarem Wert, andere Wege als das Essen zu finden, um Emotionen zu bewältigen.
4. Stressbewältigung: Bieten Sie Ihren Patienten Möglichkeiten an, ihr Stressniveau durch Achtsamkeit und andere Techniken zu senken.
5. Professionelle Unterstützung: Angesichts der Komplexität des emotionalen Essens ist es hilfreich, ein multidisziplinäres Team zusammenzustellen. Neben dem Hausarzt/der Hausärztin können weitere Teammitglieder hinzukommen:
Psychologe
Psychiater
EFT-Trainer (Emotional Freedom Technique) oder zertifizierte Wellness-Trainer
Spezialist für Adipositas
Frau S. geht es inzwischen gut. Mit einem GLP-1-Agonisten wird ihre zugrunde liegende Insulinresistenz behandelt. Gemeinsam haben wir kreative Wege gefunden, um ihre Einsamkeit zu überwinden, z.B. durch ehrenamtliche Arbeit und durch virtuelles Unterrichten. Ihr emotionales Essen ist um über 60% zurückgegangen, und wir probieren neue Strategien aus, um ihre emotionalen Essauslöser zu bekämpfen.
Schlussfolgerung
Obwohl emotionales Essen weit verbreitet ist, werden seine Auswirkungen oft heruntergespielt. Weil es keine DSM-5-Kriterien oder ICD-11-Codes gibt, ist es leicht, emotionales Essen als harmlos abzutun. Es ist aber weit verbreitet und geht mit einer Gewichtszunahme einher. In Anbetracht der Adipositas-Epidemie sollte die Bedeutung des emotionalen Essens nicht übersehen werden.
Glücklicherweise stehen uns wegweisende Medikamente zur Verfügung, die die homöostatische Regulation des Essverhaltens und die physiologischen Triebkräfte des emotionalen Essens beeinflussen. Sie ersetzen aber nicht die Behandlung der psychosozialen Komponenten des emotionalen Essens. Als Kliniker können wir Einfluss auf das Leben unserer Patienten nehmen, der über das Ausstellen von Rezepten weit hinausgeht.
Dr. Sylvia Gonsahn-Bollie ist auf integrative Adipositas-Therapie mit individuellen Lösungen bei emotionalem Essen spezialisiert. Man kann sie unter www.embraceyouweightloss.com oder auf Instagram @embraceyoumd kontaktieren. Ihr Bestseller „Embrace You: Your Guide to Transforming Weight Loss Misconceptions Into Lifelong Wellness“ wurde von Healthline.com als bestes Buch zum Abnehmen des Jahres 2022 und von Livestrong.com als eines der 8 besten Abnehm-Bücher des Jahres 2022 ausgezeichnet.
Dieser Artikel wurde von Ute Eppinger aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
Fanden Sie diesen Artikel interessant? Hier ist der Link zu unseren kostenlosen Newsletter-Angeboten – damit Sie keine Nachrichten aus der Medizin verpassen.
Credits:
Photographer: © Chernetskaya
Medscape © 2023
Diesen Artikel so zitieren: Wenn Abnehmen scheitert: Emotionales Essen ist nicht reine Gefühlssache – Adipositas-Expertin gibt Tipps zur Kalorienkontrolle - Medscape - 25. Mai 2023.
Kommentar