Jüngst wurde ein neuer klinische Praxisleitfaden für die Anwendung von Cannabis in der Therapie chronischer Schmerzen veröffentlicht. Entwickelt wurden sie von einer kanadischen Gruppe aus Forschenden, Ärztinnen und Ärzten und Betroffenen. Darin heißt es, dass cannabisbasierte Medikamente (CBM) den Behandelnden dabei helfen können, Personen mit chronischen, nicht krebsbedingten Schmerzen und Begleiterkrankungen eine wirksame und weniger süchtig machende Alternative zu Opioiden anzubieten.
„Wir empfehlen CBM nicht als First-Line-Therapie, weil es andere Alternativen gibt, die möglicherweise wirksamer sind und weniger Nebenwirkungen haben“, sagte Dr. Alan Bell, Hauptautor des Reviews und Professor für Allgemein- und Familienmedizin an der kanadischen Universität von Toronto gegenüber Medscape.

Dr. Alan Bell
„Aber ich würde jederzeit CBM den Opioiden vorziehen. Warum sollte man ein hochwirksames Medikament mit hoher Toxizität verwenden, wenn es eine Alternative mit niedriger Wirksamkeit und geringer Toxizität gibt“, sagte er.
Die Übersichtsarbeit wurde am 27. März in der Zeitschrift „Cannabis and Cannabinoid Research“ online publiziert.
Prüfung der Evidenzen
Ein ständiger Kritikpunkt an den CBM ist der Mangel an qualitativ hochwertiger Forschung, die ihren therapeutischen Nutzen belegen kann. Um zu den aktuellen Empfehlungen zu kommen, hat die Arbeitsgruppe 47 Studien zur Schmerzbehandlung mit Daten von über 11.000 Patienten ausgewertet. Fast die Hälfte der Studien (n = 22) waren randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) und 12 der 19 eingeschlossenen systematischen Reviews konzentrierten sich ausschließlich auf RCTs.
Insgesamt zeigten 38 der 47 eingeschlossenen Studien einen zumindest moderaten Nutzen der CBM bei chronischen Schmerzen, was zu einer „starken“ Empfehlung führte und meist eine Rolle der CBM als Zusatz- oder Ersatztherapie für Menschen mit chronischen Schmerzen vorsah.
Der Schwerpunkt der aktualisierten Leitlinien liegt auf der Verbesserung der chronischen Schmerzen, der Funktionalität und der Behandlung von Begleiterkrankungen wie Schlaflosigkeit, Angst und Depression, Beweglichkeit und Entzündungen. Sie enthalten auch praktische Dosierungs- und Formulierungsempfehlungen, um den Einsatz von CBM im klinischen Alltag zu unterstützen.
Wenn es um chronische Schmerzen geht, ist CBM kein Allheilmittel. Frühere Forschungsergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass Cannabinoide und Opioide mehrere pharmakologische Eigenschaften gemeinsam haben, einschließlich unabhängiger, aber möglicherweise verwandter Mechanismen der Antinozizeption, was sie zu einer interessanten Kombination macht.
Kombination von CBM und Opioiden
In den aktuellen Leitlinien wurde in allen 4 Studien, die sich speziell mit der Kombination aus Opioiden und vaporisierten Cannabisblüten befassten, eine zusätzliche Schmerzlinderung nachgewiesen. Das stützt die Schlussfolgerung, dass der Nutzen von CBM bei Personen, die auch Opioide einnehmen, das Risiko nicht schwerwiegender unerwünschter Ereignisse wie Mundtrockenheit, Schwindel, Appetitsteigerung, Sedierung und Konzentrationsschwierigkeiten überwiegt.
Die Empfehlungen betonen auch, dass die Mehrheit der Teilnehmenden durch die gleichzeitige Gabe von CBM und Opioiden in der Lage war, den Gebrauch üblicher Schmerzmittel zu reduzieren. Gleichzeitig profititerten sie von den sekundären Vorteilen wie einem verbesserten Schlaf, geringerer Angst und besserer Stimmung. Außerdem konnte eine Opioidtoleranz mit Dosiseskalation eher verhindert werden.
Ein wichtiger Punkt in den Leitlinien ist ein evidenzbasierter Algorithmus, der ein klares Raster für das Absetzen von Opioiden bietet. Das bezieht sich besonders auf Personen, die über 50 mg Morphinäquivalent einnehmen, was mit einem doppelt so hohen Risiko für eine tödliche Überdosierung verbunden ist.
Eine wirksame Alternative
Dr. Mark Wallace, Anästhesiologie und Leiter der Abteilung für Schmerzmedizin an der Universität von Kalifornien in San Diego, hat intensiv zu CBM in der Therapie chronischer Schmerzen geforscht und auch viel damit behandelt. Er kommentierte die neuen Leitlinien gegenüber Medscape und sagte, dass der Ursprung seines Interesses an medizinischem Cannabis den Schwerpunkt der Leitlinien widerspiegele.
„Mein Interesse an CBM wurde durch den Versuch geweckt, die Patienten von den Opioiden wegzubringen, und ich habe hunderte Personen von Opioiden auf Cannabis umgestellt“, sagte Wallace, der nicht an der Studie zur Entwicklung der Leitlinien beteiligt war. Die Dosierungsempfehlungen in den Leitlinien hält er für hilfreich.
„Wenn man im Dosisbereich von 1 bis 5 mg bleibt, sind die Risiken, dem Patienten irgendeinen Schaden zuzufügen, äußerst gering.“

Dr. Christopher Gilligan
Obwohl es Menschen gibt, die Cannabis und CBMs missbrauchen, habe er in den vergangenen 20 Jahren nur einen Patienten gesehen, der medizinisches Cannabis übermäßig konsumiert habe. Er fügte hinzu, dass seine Patientinnen und Patienten medizinisches Cannabis nicht verwenden, um high zu werden, und dass sie Dosierungen, die einen Rausch auslösen könnten, um jeden Preis vermeiden wollen.
Dr. Christopher Gilligan, Leiter der Schmerzmedizin am Brigham & Women's Hospital in Boston, Massachusetts, der nicht an der Entwicklung der Leitlinien beteiligt war, weist ebenfalls auf die Vorteile hin: „Wenn wir die Möglichkeit haben, Cannabinoide anstelle von Opioiden für unsere Patient*innen einzusetzen, halte ich das für eine gute Sache ... und eine kluge Entscheidung im Hinblick auf das Nutzen-Risiko-Verhältnis“, so Gilligan.
Andererseits warnte er davor, Cannabinoide allzu leichtfertig zur Behandlung chronischer Schmerzen bei Patienten, die keine Opioide erhalten, zu verschreiben.
„Wir müssen die möglichen unerwünschten Wirkungen von CBM wie Marihuana-Konsumstörungen, Lern- und Gedächtnisstörungen und psychotische Episoden ernst nehmen“, sagte Gilligan.
Doch für Ärztinnen und Ärzte, die CBM gegen chronische Schmerzen einsetzen möchten, würden die Leitlinien eine Richtschnur zur praktischen Umsetzung bieten und eine Alternative zur Verschreibung von Opioiden aufzeigen.
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
Credits:
Photograpeher: © BiancoBlue
Lead image: Dreamstime.com
Medscape Nachrichten © 2023
Diesen Artikel so zitieren: Alternative zu Opioiden: Neuer Praxisleitfaden für das Management von chronischen Schmerzen mit Cannabis-Medikamenten - Medscape - 22. Mai 2023.
Kommentar