Am 16. Mai 2023, startete der 127. Deutsche Ärztetag in Essen. Medscape sprach mit dem Präsidenten der Bundesärztekammer Dr. Klaus Reinhardt über die anstehenden großen Themen des Ärztetages. Das Treffen der 250 Delegierten des „Ärzteparlamentes“ dauert bis zum 19. Mai 2023.

Dr. Klaus Reinhardt
Medscape: Herr Dr. Reinhardt, welches werden die großen Themen auf dem Ärztetag sein?
Reinhardt: Das übergeordnete Thema dieses Ärztetags wird der enorme Reformdruck sein, der auf unserem Gesundheitswesen lastet, quer durch alle Versorgungsbereiche. Nehmen Sie zum Beispiel den stationären Sektor. Es herrscht große Einigkeit, dass eine Krankenhausreform dringend kommen muss, um einen Klinik-Kahlschlag zu verhindern. Gesundheitsminister Lauterbach hat eine Revolution angekündigt. Den großen Wurf bleibt er bisher aber schuldig. Es fehlt eine kluge Verzahnung zwischen ambulanten und stationären Strukturen. Ebenso unberücksichtigt bleiben die Auswirkungen der Reform auf die ärztliche Weiterbildung.
Der Minister hat außerdem versäumt, die Bundesländer mit einzubinden. Er muss alle Beteiligten mit ins Boot holen, also neben den Ländern auch die praktisch Tätigen vor Ort: Ärzteschaft, Pflege, Krankenhausträger, Krankenkassen. Das gilt auch für weitere Reformprojekte, von der Neuordnung der Notfallversorgung über die Digitalisierung bis zur Modernisierung des Medizinstudiums.
Medscape: Reizwort Cannabis-Legalisierung. Wie sehen die Delegierten Ihrer Ansicht nach das Vorhaben Lauterbachs?
Reinhardt: Ich möchte der Diskussion auf dem Ärztetag nicht vorgreifen. Aber die Position der Bundesärztekammer ist klar: Die Cannabis-Legalisierung ist ein gefährliches Experiment. Sogar eine von Bundesgesundheitsminister Lauterbach selbst in Auftrag gegebene Studie hat gezeigt, dass nach einer Freigabe der Freizeitkonsum von Cannabis steigt. Hier wird ohne Not eine Droge verharmlost, die nachgewiesenermaßen abhängig macht und zu schweren Entwicklungsschäden führen kann, gerade bei jungen Menschen.
Medscape: Aber es sprechen auch nicht-medizinische Gründe für die Legalisierung.
Reinhardt: Auch die Hoffnung, den Schwarzmarkt auszutrocknen, wird sich nicht erfüllen. Es gibt keinen Grund, Cannabis zu legalisieren, aber viele Gründe, es nicht zu tun. Dennoch ist es richtig, Cannabis – zumindest den Erstkonsum – zu entkriminalisieren und stattdessen die Präventions- und Hilfsangebote gerade für junge Menschen auszubauen.
Medscape: Warum gelingt es der Ärzteschaft eigentlich nicht, den Bundesgesundheitsminister endlich zu einer neuen GOÄ zu bewegen?
Reinhardt: Das hat, ähnlich wie beim Thema Cannabis, ideologische Gründe. Die Bürgerversicherung ist so etwas wie das Lebensprojekt von Herrn Lauterbach. Daher versucht er, die überfällige Reform der ärztlichen Gebührenordnung zu verhindern. Das geht aber nicht. Als Verordnungsgeber steht er in der Pflicht, eine transparente und rechtssichere Abrechnung privatärztlicher Leistungen auf Basis einer aktuellen Gebührenordnung sicherzustellen.
Medscape: Die Ärzteschaft steht Gewehr bei Fuß?
Reinhardt: Die notwendigen Vorarbeiten hat die Bundesärztekammer gemeinsam mit dem Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV-Verband) und der Beihilfe bereits erledigt. Wir haben dem Bundesgesundheitsministerium eine vollständig fertige, sogenannte arzteigene GOÄ, übermittelt. Die darin enthaltenen Preise sind noch nicht final mit der PKV konsentiert, hierzu laufen die Verhandlungen weiter.
Dennoch gibt es überhaupt keinen sachlichen Grund, warum der Minister die Reform auf Grundlage unseres Vorschlages jetzt nicht einleitet. Wir machen diese Form von Arbeitsverweigerung jetzt öffentlich und tragen das ein Stück weit auch in die Wartezimmer. Versicherte und Patienten sollen wissen, wer diese Reform verschleppt. Wir sind es nicht!
Medscape: Sie haben nachdrücklich ein Gesetz zu Investoren-getriebenen Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) gefordert. Was können Ärztinnen und Ärzte tun, um die Kommerzialisierung der Medizin zu stoppen?
Reinhardt: Natürlich ist es sinnvoll und auch notwendig, dass Ärztinnen und Ärzte wirtschaftlich handeln. Das ergibt sich schon allein daraus, dass wir nicht nur einzelnen Patientinnen und Patienten, sondern auch dem Allgemeinwohl verpflichtet sind. Hier geht es aber um etwas anderes. Es geht um die immer stärker um sich greifende Kommerzialisierung im ambulanten und stationären Bereich, bei der der Profit ganz klar vor das Patientenwohl gestellt wird, zum Beispiel von den kaufmännischen Leistungen der Kliniken.
Im ambulanten Bereich befassen wir uns derzeit intensiv mit dem immer stärkeren Einfluss von Finanzinvestoren auf Medizinische Versorgungszentren. Ich bin nicht per se gegen Investitionen in das Gesundheitswesen, sie sind gerade im Bereich der High-Tech-Medizin notwendig. Ich habe auch überhaupt nichts gegen MVZ. Ich halte sie für eine sehr sinnvolle Ergänzung der ambulanten Strukturen.
Medscape: Aber was genau ist Ihrer Ansicht nach dann das Problem?
Reinhardt: Mir geht es insbesondere um völlig fachfremde Kapitalinvestoren wie Private Equity Unternehmen, bei denen nicht die qualitativ hochwertige Patientenversorgung im Vordergrund steht, sondern eine möglichst hohe Rendite. Gerade für junge Ärztinnen und Ärzte ist es eine große persönliche Herausforderung, sich den Vorgaben zum Beispiel der kaufmännischen Geschäftsführung entgegenzustellen.
Hier sind wir als ärztliche Selbstverwaltung gefragt und auch intensiv tätig. Wir haben dem Gesetzgeber konkrete Gesetzesformulierungen vorgelegt, um die dynamische Entwicklung bei Investoren-betriebenen MVZ zu stoppen und sind in intensiven Gesprächen mit der Politik.
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Diesen Artikel so zitieren: Exklusiv: BÄK-Präsident Reinhardt übt harsche Kritik an Lauterbach: „Machen diese Form der Arbeitsverweigerung jetzt öffentlich!“ - Medscape - 17. Mai 2023.
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