MEINUNG

Revolution der Adipositas-Therapie? Semaglutid ist „kein Lifestyle-Präparat“, was es dazu noch braucht – bald Kostenübernahme?

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

15. Mai 2023

Gamechanger für die Adipositas-Therapie: GLP-1-Agonisten wie Semaglutid verbessern nicht nur den HbA1c, sondern haben wegen des verstärkten Sättigungsgefühls und der verlangsamten Magenentleerung auch einen beachtlichen Gewichtsverlust zur Folge. Seit Januar 2022 ist Semaglutid unter dem Namen Wegovy® für die Behandlung von Adipositas zugelassen. Auch wenn das Mittel aufgrund von Lieferengpässen derzeit noch nicht verfügbar ist, der Hype darum ist groß.

Prof. Dr. Matthias Blüher

Medscape sprach mit Prof. Dr. Matthias Blüher darüber, wie Semaglutid die Adipositas-Therapie verändern wird, ob es eine Alternative zur Adipositas-Chirurgie darstellen kann und wie er die Möglichkeit einschätzt, dass das Mittel doch noch von den Krankenkassen bezahlt wird. Blüher ist Direktor des Helmholtz-Instituts für Metabolismus-, Adipositas- und Gefäßforschung am Universitätsklinikum Leipzig und Mediensprecher der Deutschen Adipositas Gesellschaft (DAG).

Medscape: Semaglutid gilt als Gamechanger – wie wird es die Adipositas-Therapie verändern?

Blüher: Ich gehe davon aus, dass Wegovy® die Adipositas-Therapie verändern und sich auf die Patientenversorgung deutlich auswirken wird. Grundlage für eine Behandlung von Adipositas ist immer eine Kombination aus Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltensinterventionen, die sogenannte Basistherapie. Wird darüber das Gewicht nicht ausreichend reduziert, können Medikamente zum Einsatz kommen. Medikamente sind ein wichtiger Baustein in der Therapie, weil sie skalierbar sind.

 
Ich gehe davon aus, dass Wegovy® die Adipositas-Therapie verändern und sich auf die Patientenversorgung deutlich auswirken wird. Prof. Dr. Matthias Blüher
 

Wegovy® kann ab einem Body-Mass-Index (BMI) von mindestens 30 eingesetzt werden – oder ab einem BMI von 27, wenn Begleiterkrankungen wie Bluthochdruck, Dyslipidämie, Typ-2-Diabetes, das Schlafapnoe-Syndrom oder andere vorliegen. Die Ergebnisse der Zulassungsstudie STEP-1 haben gezeigt, dass die wöchentliche Gabe von 2,4 mg Semaglutid – kombiniert mit einer Basistherapie – das Ausgangsgewicht von Patienten mit Adipositas nach einem Jahr um 15% reduzieren konnte. Bei jedem 3. Patienten konnte sogar eine Gewichtsabnahme von 20% erreicht werden. Theoretisch könnte man das Mittel jedem Betroffenen verschreiben – wenn keine Kontraindikationen vorliegen.

Medscape: Wegovy® wirkt ja auch auf das Appetit- und Sättigungszentrum im Hirn und dämpft den Appetit. Bedeutet das nicht, dass Betroffene die Substanz dann lebenslang spritzen müssten, um nach dem Absetzen nicht wieder zuzunehmen?

Blüher: Wenn man sich bei der Gewichtsreduktion nur auf das Medikament verlässt, dann wird es sich eher um eine lebenslange Therapie handeln. In der Praxis aber könnte nach Erreichen des Therapieziels bzw. Zielgewichts eine Dosisreduktion oder ein Auslassversuch des Medikaments gemacht werden.

 
Theoretisch könnte man das Mittel jedem Betroffenen verschreiben – wenn keine Kontraindikationen vorliegen. Prof. Dr. Matthias Blüher
 

Es gibt Patienten, die mit der Gewichtsreduktion ihr Leben so nachhaltig ändern, dass sie es auch ohne das Medikament schaffen, ihr reduziertes Gewicht zu halten. Das ist auch ein Ziel.

Der Einsatz von Medikamenten wie Wegovy® muss im Behandlungsalltag immer von weiteren Interventionen begleitet werden. Dabei lernen Betroffene auch, ihre Ernährung zu beobachten, ihr Ernährungsverhalten zu ändern und Bewegung in ihren Alltag einzubauen.

Medscape: Ist Wegovy® eine Alternative zur Adipositas-Chirurgie? Könnte sich dadurch die Zahl der Eingriffe verringern?

Blüher: Obwohl die Effektstärke mit 2,4 mg schon sehr gut ist, wird Semaglutid sicherlich keine direkte Konkurrenz zu den chirurgischen Therapien darstellen. Die chirurgischen Therapien bleiben die effektivsten Therapien vor allem für die Menschen, die ein besonders hohes Körpergewicht haben, also einen BMI über 40 mit Begleiterkrankungen oder einen BMI über 50. Insofern rechne ich nicht damit, dass Wegovy® die chirurgische Therapie verdrängen wird.

 
Der Einsatz von Medikamenten wie Wegovy® muss im Behandlungsalltag immer von weiteren Interventionen begleitet werden. Prof. Dr. Matthias Blüher
 

Ich denke, es wird eher so sein, dass bereits operierte Adipositas-Patienten durch Wegovy® vielleicht einen 2. Eingriff verhindern können, weil sie über Semaglutid ihr Gewicht stabilisieren können. Denkbar ist auch, dass das Mittel bei Patienten mit sehr hohem BMI eingesetzt wird, um diese Patienten in einen Zustand zu versetzen, dass eine OP überhaupt möglich wird.

Medscape: Der Hype um Semaglutid ist groß, manchen gilt es als Lifestyle-Mittel, um ein paar Kilos abzunehmen. Was halten Sie von diesem Labeling?

Blüher: Man muss klarstellen, dass Semaglutid in der Adipositas-Therapie keine Lifestyle-Medikation ist, es geht dabei nicht um kosmetische Aspekte. Das ist ein wirksames Medikament, das aber auch Nebenwirkungen hat. Als Arzt muss man die Patienten darüber aufklären.

 
Semaglutid wird sicherlich keine direkte Konkurrenz zu den chirurgischen Therapien darstellen. Prof. Dr. Matthias Blüher
 

Dieses Mittel unkritisch zum Abnehmen zu verschreiben oder womöglich sogar damit zu werben, halte ich für gefährlich. Auch wenn Semaglutid relativ gut verträglich ist, müssen Nutzen und Risiko gut abgewogen werden. Es ist verschreibungspflichtig und gehört zwingend unter ärztliche Kontrolle. Als behandelnde Ärzte müssen wir auch darauf achten, für wen ein solches Medikament eben nicht infrage kommt.

Medscape: Rund ein Viertel der Erwachsenen hierzulande ist adipös und würde prinzipiell für eine Therapie infrage kommen. Für welche Patienten ist es kontraindiziert?

Blüher: Es gibt einige Kontraindikationen, beispielsweise das medulläre Schilddrüsenkarzinom. Kontraindiziert ist es auch bei multiplen endokrinen Neoplasien in der Familiengeschichte. Für Patienten mit Diabetes Typ 1 liegen keine Studiendaten vor, es gibt keine eindeutige Kontraindikation, aber man muss in solchen Fällen sorgfältig abwägen.

Ich würde Wegovy® Patienten, die in der Vorgeschichte eine Pankreatitis aufweisen, nicht verordnen – auch wenn die Studienlage keine Anhaltspunkte dafür liefert, dass das Pankreatitis-Risiko unter Wegovy® erhöht ist.

Die erwähnten Beispiele sind allerdings ausgewählte Kollektive. Man weiß nicht was passiert, wenn plötzlich sehr sehr viele Menschen mit Wegovy® therapiert werden.

Medscape: § 34 des 5. Sozialgesetzbuchs schließt Arzneimittel zur „Regulierung des Körpergewichts“ und „Zügelung des Appetits“ von der Kostenerstattung durch die Kassen aus. Für Patienten bliebe also nur, das Mittel aus eigener Tasche zu bezahlen. Ende 2023 soll die kardiovaskuläre Endpunktstudie SELECT Ergebnisse liefern. Wenn die Ergebnisse zeigen, dass sich kardiovaskuläre Folgen verringern lassen – denken Sie, das könnte den Weg in die Erstattungsfähigkeit ebnen?

 
Auch wenn Semaglutid relativ gut verträglich ist, müssen Nutzen und Risiko gut abgewogen werden. Prof. Dr. Matthias Blüher
 

B lüher: Ich hoffe das. Ein formaler Grund, weshalb Medikamente zur Gewichtsreduktion nicht erstattet werden, ist der erwähnte Paragraf im SGB. Darin werden Medikamente zur Gewichtsreduktion – das schließt Wegovy® ein – von der Erstattungsfähigkeit ausgeschlossen: Das ist ähnlich wie für Haarwuchsmittel oder für Mittel, die der Verbesserung der erektilen Dysfunktion dienen.

Allerdings können sich zu diesem generellen Ausschluss auch gesetzgeberische Veränderungen ergeben. Dies ist beispielsweise bei den Medikamenten für die Raucherentwöhnung so. Im Auftrag des Gesetzgebers legt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) dazu fest, welche Arzneimittel zur Tabakentwöhnung ausnahmsweise in speziellen evidenzbasierten Programmen verordnet werden dürfen. Das ermöglicht die Erstattungsfähigkeit für schwerbetroffene Nikotinabusus-Patienten.

Bei einem Benefit der SELECT-Studie zugunsten von Semaglutid könnte ich mir vorstellen, dass das Mittel für Patienten, die dem Patientenkollektiv der Studie entsprechen, möglicherweise für eine Erstattungsfähigkeit in Betracht gezogen wird. Dies ist dann nur eine kleine Gruppe von Patienten mit Adipositas, aber wahrscheinlich diejenige, die am meisten von einer Therapie mit Semaglutid profitiert.

Wenn die Studienergebnisse zeigen, dass ich ein Medikament habe, das Herzkreislaufrisiken signifikant reduziert, ist es schwer zu erklären, warum man dann eine Ungleichbehandlung von Patienten hinnehmen sollte. Denn das hieße: Liegt die Indikation Diabetes vor, würde das Mittel erstattet, bei der Indikation Adipositas hingegen nicht. Das wäre eine soziale Ungerechtigkeit.

Medscape: Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.

Adipositas-Therapien

Die Interdisziplinäre S3-Leitlinie zur „Prävention und Therapie der Adipositas“ (aus 2014, in Überarbeitung) definiert eine Kombination aus Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltensinterventionen (Basistherapie) als Grundlage der Behandlung der Adipositas. Wird mithilfe dieser Basistherapie nicht ausreichend Gewicht reduziert, können begleitende Medikamente zum Einsatz kommen.

Lange Zeit spielten Medikamente bei der Behandlung von Adipositas eine untergeordnete Rolle, weil keine sehr wirksamen Medikamente mit günstigem Risiko-Nutzen-Profil verfügbar waren. Mit den modernen Wirkstoffen aus der Gruppe der Inkretin-Mimetika hat sich das geändert.

Für die Behandlung des Typ-2-Diabetes ist Semaglutid unter dem Namen Ozempic® bereits seit Februar 2018 zugelassen. Wegovy® ist als Lösung zur Injektion in den Stärken 0,25 mg, 0,5 mg, 1 mg, 1,7 mg and 2,4 mg zugelassen. Ozempic® ist in den Wirkstärken 0,25 mg, 0,5 mg und 1 mg als Fertigpen auf dem Markt. Semaglutid wird in der neuen Indikation deutlich höher dosiert als bei Diabetes (2,4 mg versus 1 mg). Die Dosis wird zu Behandlungsbeginn auftitriert.

Die Deutsche Adipositas-Gesellschaft erwartet noch in diesem Jahr die Markteinführung von Semaglutid 2,4 mg. Dänemark ist das erste Land in Europa, das bereits mit Semaglutid 2,4 mg beliefert wird. Dort kostet die Adipositas-Behandlung zwischen 180 und 320 Euro im Monat.

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