Fatale Verwechslungen vermeiden: Endokrinologen werben für Umbenennung des Diabetes insipidus

Miriam E. Tucker

Interessenkonflikte

12. Mai 2023

Eine internationale Vertretung führender Endokrinologie-Fachverbände hat empfohlen, den Namen „Diabetes insipidus“ zu ändern, um Verwechslungen mit dem „Diabetes mellitus“ auszuschließen und zugleich der Pathophysiologie des Diabetes insipidus Rechnung zu tragen. In manchen Fällen führten solche Verwechslungen falschen oder ausbleibenden Behandlungen von Patienten – auch mit Todesfolge.

Die neuen vorgeschlagenen Bezeichnungen sind im Englischen „arginine vasopressin deficiency (AVP-D) für zentrale Ursachen und „arginine vasopressin resistance“ (AVP-R) für nephrogene Ursachen. Im Deutschen wären hierfür „ADH-Mangel“ und „ADH-Resistenz“ denkbare Alternativen.

„Wir schlagen vor, die Krankheit nach der definierenden Pathophysiologie umzubenennen“, sagte der Mitverfasser der Erklärung Dr. Joseph G. Verbalis, Leiter der Abteilung Endokrinologie und Stoffwechsel am Georgetown University Medical Center in Washington DC gegenüber Medscape.

In der Erklärung wird empfohlen, in Artikeln und in der weiteren medizinischen Fachliteratur künftig die neuen Bezeichnungen zu verwenden und die alten Namen während einer Übergangszeit in Klammern beizubehalten, wie z.B. „ADH-Mangel (zentraler Diabetes insipidus)“ und „ADH-Resistenz (nephrogener Diabetes insipidus)“.

Nierenproblem Diabetes insipidus

Der früher als Diabetes insipidus bezeichnete Zustand ist relativ selten und hat in Deutschland eine Prävalenz von schätzungsweise 1:25.000. Die Ursache dieser Erkrankung ist entweder eine mangelhafte Produktion oder eine Resistenz der Niere gegenüber dem antidiuretischen Hormon (ADH; auch Vasopressin oder Arginin-Vasopressin), das vom Hypothalamus produziert und in der Hypophyse gespeichert wird. Es reguliert den Wasserhaushalt des Körpers und die Urinproduktion in den Nieren.

Beide Ursachen führen zu denselben Symptomen: extremer Durst und übermäßige Urinproduktion. Häufige Ursachen für den Mangel sind ein Kopftrauma oder ein Hirntumor, während die Resistenz in den Nieren oft angeboren ist. Die Krankheit wird aktuell durch den synthetischen Hormonersatz Desmopressin und Flüssigkeitsgabe behandelt.

Die Historie des Namens

Der Vorschlag zur Umbenennung des Diabetes insipidus wird von der Endocrine Society, der European Society of Endocrinology, der Pituitary Society, der Society for Endocrinology, der European Society for Paediatric Endocrinology, der Endocrine Society of Australia, der Brazilian Endocrine Society und der Japanese Endocrine Society unterstützt und derzeit von verschiedenen anderen Gesellschaften geprüft. Diese Gesellschaften publizierten verschiedentlich in ihren Zeitschriften einander ähnliche Stellungnahmen zu dem Thema, weitere sind angekündigt.

Das aus dem Griechischen stammende Wort diabetes heißt ursprünglich „die Beine spreizend“. Medizinhistorisch wurde es etwa seit dem 2. vorchristlichen Jahrhundert im Sinne von Durchfluss verwendet, um einen übermäßigen Harnfluss zu beschreiben. Das lateinische Wort „mellitus („honigsüß“) wurde im späten 17. Jahrhundert hinzugefügt, um die Süße des Urins bei einer Dysglykämie zu beschreiben.

Ein Jahrhundert später wurde das lateinische Wort „insipidus“ geprägt, das „fad“ oder „geschmacklos“ bedeutet, um zwischen den beiden Arten der Polyurie zu unterscheiden, heißt es in der Stellungnahme.

Etwa Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die vasopressorischen und antidiuretischen Wirkungen der Substanzen aus dem Hypophysenhinterlappen entdeckt und zur Behandlung von Menschen mit zentralem und nephrogenem ADH-Mangel eingesetzt, die ebenfalls zu dieser Zeit erkannt wurden.

„Aus historischer Sicht ist der Name durchaus angemessen. Zu der Zeit, als die Krankheit identifiziert wurde und man erkannt, dass sie sich vom Diabetes mellitus unterscheidet, war diese Terminologie völlig adäquat. Sie basierte eben auf den Erkenntnissen des späten 19. Jahrhunderts. Heute sind wir zwar wieder etwas weiter. Der Begriff hat sich jedoch über die Dekaden hinweg gehalten, weil es in der Medizin nun einmal eine große Trägheit gegenüber Veränderungen gibt … Der Name wurde einfach immer weiter tradiert. Wenn es keinen zwingenden Grund dafür gibt, einen Namen zu ändern, setzt sich in der Regel auch niemand dafür ein“, so Verbalis.

Schwere Fehlbehandlungen durch Namensverwechslung

Leider wurde die Dringlichkeit dieser Änderung durch eine Tragödie deutlich. Im Jahr 2009 wurde ein 22-jähriger Mann wegen einer Hüftoperation in die orthopädische Abteilung eines Londoner Lehrkrankenhauses eingeliefert. Obwohl sein Panhypopituitarismus und sein Diabetes insipidus bekannt waren, kontrollierten die Pflegenden ständig seinen Blutzucker, gaben ihm aber weder Desmopressin noch ausreichend Flüssigkeit.

 
Nicht-Endokrinologen haben den Diabetes insipidus einfach weniger auf dem Schirm, weil es eine viel seltenere Erkrankung ist. Dr. Joseph G. Verbalis
 

Die Labortests ergaben stets einen normalen Blutzuckerwert, aber sein Serumnatrium lag bei 149 mmol/l. Am Morgen nach der Operation erlitt er einen tödlichen Herzstillstand mit einem Natriumspiegel von 169 mmol/l.

„Die Pflegenden dachten, er hätte einen Diabetes mellitus … Zu diesem tragischen Tod kam es also, weil Diabetes direkt als der häufige Diabetes mellitus und nicht als Diabetes insipidus wahrgenommen wurde“, sagt Verbalis. „In einer endokrinologischen Abteilung wäre das nicht passiert. Aber er landete in der Orthopädie. Nicht-Endokrinologen haben den Diabetes insipidus einfach weniger auf dem Schirm, weil es eine viel seltenere Erkrankung ist.“

Im Jahr 2016 veröffentlichte der „National Health Service England“ eine Warnung zur Patientensicherheit wegen des „Risikos schwerer Schädigungen oder Lebensgefahr, wenn bei Personen mit zentralem Diabetes insipidus Desmopressin nicht oder erst mit Verzögerung verabreicht wird“.

 
Wenn sich in einer seriösen Patientenbefragung über 80% für eine Namensänderung aussprechen, dann sollten wir das als Endokrinologen nicht ignorieren. Dr. Joseph G. Verbalis
 

Man verwies auf mindestens 4 Vorfälle aus den letzten 7 Jahren, bei denen das Weglassen von Desmopressin zu einer schweren Dehydrierung mit Todesfolge führte. In weiteren 76 Fällen wurde nach der fehlenden oder verspäteten Desmopressin-Gabe noch rechtzeitig gehandelt, bevor die Betroffenen ernsthafte Folgen erlitten.

Einen weiteren Anstoß zur Planung einer Namensänderung waren die Ergebnisse einer anonymen webbasierten Umfrage unter 1.034 Kindern und Erwachsenen mit zentralem Diabetes insipidus, die zwischen August 2021 und Februar 2022 durchgeführt wurde. Dabei gaben 80% der Befragten an, dass ihre Erkrankung von medizinischem Fachpersonal schon mal mit einem Diabetes mellitus verwechselt wurde, und 85% befürworteten die Umbenennung der Krankheit.

Die Meinungen darüber, welcher neue Name gewählt werden sollte, gingen zwar auseinander, doch herrschte Einigkeit darüber, dass der Begriff „Diabetes“ entfallen solle.

„Uns wurde erst kürzlich wirklich klar, dass es dramatische Fälle von Patientenfehlbehandlung gibt, die auf Verwechslungen der Diabetes-Formen zurückzuführen sind. Wir denken, dass die Patienten ein Mitspracherecht haben sollten. Wenn sich in einer seriösen Patientenbefragung über 80% für eine Namensänderung aussprechen, dann sollten wir das als Endokrinologen nicht ignorieren“, so Verbalis.

Zwar sähen Endokrinologen diese Patienten am häufigsten, doch das Hauptziel ihrer Stellungnahme bestehe darin, die Unterschiede der Erkrankungen für nicht endokrinologische Ärzte und Pflegende zweifelsfrei herauszustellen. „Es handelt sich um eine völlig andere Krankheit. Und wenn wir ihr einen ganz anderen Namen geben, dann ist das vermutlich auch besser zu erkennen“, sagt Verbalis.

Auf die Frage, wie lange es seiner Meinung nach dauern werde, bis sich solche neuen Namen durchsetzten, weist Verbalis darauf hin, dass erst etwa nach einem Jahrzehnt zumindest in der Rheumatologie der USA aus der Wegener-Granulomatose dauerhaft die Granulomatose mit Polyangiitis (GPA) geworden sei, nachdem die Nazi-Verbindungen des gleichnamigen Arztes aufgedeckt worden waren.

 
Wir gehen also nicht davon aus, dass sich die Terminologie von heute auf morgen ändern wird. So etwas ist ein langer Prozess, doch wir wollten mit unserem Aufruf diesen Prozess in Gang setzen. Dr. Joseph G. Verbalis
 

„Wir gehen also nicht davon aus, dass sich die Terminologie von heute auf morgen ändern wird. So etwas ist ein langer Prozess, doch wir wollten mit unserem Aufruf diesen Prozess in Gang setzen“, sagt er.

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.

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